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Full text of "Die grossen bibliophilen; geschichte der büchersammler und ihrer sammlungen"

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G.  A.  E.  BOGENG  *  DIE  GROSSEN  BIBLIOPHILEN 


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G.  A.  E.  B  O  G  E  N  G 


DIE 
GROSSEN    BIBLIOPHILEN 


GESCHICHTE    DER   BÜCHERSAMMLER 
UND    IHRER   SAMMLUNGEN 


/.  BAND 


LEIPZIG    MCMXXII 
VERLAG    VON     E.   A.    SE'EMANN 


THE  NEW  yOHX 

PUBLIC  LIBRARY 

ini665A 

AST0R.  LEt*#X  AN© 
iTlLDßN  FOÜH BATIONS 


Gopyrighl  1922  by  E.  A.  SeemAnD,  Lei|iug 
Druck  Ton  Ernst  Hediich  Ntchfo^sr,  G.  m.  b.  iL,  Leipng 


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ERSTER  BAND:  DIE  GESCHICHTE 


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L  ABENDLÄNDISCHE 
BUCHHANDSCHRIFTENZEIT 

Im  Altertum  waren  Archive  und  Bibliotheken  anfangs  nicht  unter- 
schieden, weil  der  Begriff  einer  Bibliothek  als  der  einer  auf- 
gestellten Buchersammlung,  die  Literatur  ordnete,  von  dem  einer 
Literatur,  als  der  Schrifttumsentwicklung,  nicht  zu  trennen  war. 
Alltagsbedürfnissen  diente  die  Anwendung  einer  Schrift  zuerst;  nach 
und  nach  nur  wurden  die  schriftlichen  Aufzeichnungen  zu  Trägern 
geistiger  und  seelischer  Schöpfungen,  die  in  einer  Buchform  ihre 
dauerndere  Verkörperung  als  Schrifttumswerke  suchten.  Die  ägyp- 
tischen Papyrusrollen  in  frühester  Zeit  waren  Archive  der  Behörden, 
vornehmlich  der  Steuerbehörden;  sie  bildeten  die  äußere  Einrich- 
tung der  Bibliotheken  vor,  zumal  da  die  äußere  Form  der  Buch- 
handschriften und  Urkundenhandschriften  sich  nicht  erheblich 
unterschied.  Vielleicht  ist  der  ägyptische  König  Osymandyas, 
von  dem  Diodorus  Siculus  [I,  49,  3]  berichtet,  er  hätte,  der  älteste 
benannte  Bibliophile,  seiner  lepi  ßiß^io&i^xiri  die  Aufschrift  ifx^%  laTpefov 
gegeben,  nur  eine  Sage.  Aber  Bedeutung  und  Bezeichnung  der 
Bibliothek,  die  aus  dem  Ägyptischen  von  den  Griechen  entlehnt 
zu  sein  scheinen,  haben  höchstwahrscheinlich  schon  im  Nillande 
den  Begriff  einer  Sammlung  von  Schriftwerken  gewonnen,  der 
seit  der  hellenistischen  Zeit  allgemein  üblich  wurde  und  der  sich 
dann  weiter  auch  auf  die  Buchtitel  ausdehnte,  die  den  Inbegriff 
einer  Schatzkammer  des  menschlichen  Geistes  mit  einem  einzigen 
Worte  nennen  wollten.  Doch  bereits  vor  den  Ägyptern  und  lange 
vor  den  Griechen  hatten  andere  morgenländische  Völker  Anlagen, 
in  denen  ihre  schriftlichen  Aufzeichnungen  bewahrt  wurden.  Ob 
man  mit  den  darüber  erhaltenen  Nachrichten  und  mit  den  diese 
Archiv-Bibliotheken  bezeugenden  Resten,  so  mit  den  im  Palast  des 
assyrischen  Königs  Assurbanipal  [7.  Jahrhundert  v.  Chr.]  in 
Ninive  ausgegrabenen,  in  das  British  Museum  gelangten,  Keil- 
«chrifttontäfelchen  und  mit  den  auf  Kreta  gemachten  Tontafel- 
funden, die,  allerdings  ohne  daß  sie  bisher  gelesen  werden  konnten, 
die  Bibliothek  des  Königs  Minos  genannt  worden  sind,  auch  den 

BOOENO    1  1 


ALTERTUM 

Beginn  der  Bibliophiliegeschichte  rechnen  will,  ist  eine  Frage,  der 
die  Antwort  zu  finden  der  Phantasie  überlassen  bleiben  muß.  Reichen 
doch  auch  die  ersten  Nachrichten  über  Altgriechenlands  Bücher- 
sammlungen kaum  über  einzelne  Namen  hinaus. 

Allmählich  erst  war  dem  Altertum  das  Buch  zu  einem  Kultur- 
element und  Kulturrepräsentanten  geworden.  Die  Antike,  auch  im 
Bereiche  der  klassischen  Literatur,  bedurfte  für  die  Ausbreitung  ihrer 
Bildung  weit  weniger  der  Buchvermittlung  als  der  des  gesprochenen 
Wortes.  Von  Anfang  an  wendeten  sich  die  Dichter  an  die  Hörer,  nicht 
an  die  Leser.  , Selber  die  Muse  lehrt  sie  den  hohen  Gesang  und  waltet 
über  die  Sänger'  (Homer).  Der  Notbehelf  schriftlicher  Aufzeichnungen 
blieb  jahrhundertelang  nur  ein  solcher.  Die  Ausgestaltung  des 
Bühnenwesens,  der  Redekunst,  des  geselligen  Vortrages,  des  wissen- 
schaftlichen Zwiegespräches  schuf  die  Formen  einer  Überlieferung, 
die  zum  Schrifttum  wurdgn,  ol^ne  daß  deshalb  die  weitere  Wir- 
kung des  Wortes  aufgehört  hätte.  Und  auch  den  Philosophen  be* 
wegten  Zweifel,  ob  das  Buch  ein  Geschenk  der  Götter  sei.  Man  höre 
Piatos  Meinung:  Durch  Bücher  werde,  infolge  der  Vernachlässigung 
des  Gedächtnisses,  in  der  Seele  der  Lernenden  Vergessenheit  her- 
vorgerufen, da  diese  sich  an  die  Schrift  halten  und  sich  mehr  von 
außen  her  durch  fremde  Zeichen  als  innerlich  aus  sich  selbst  erinnern 
werden  .  .  .  Sie  kommen  so  wohl  zu  Meinungen,  aber  nicht  zur  Wahr- 
heit; denn  vieles  mögen  sie  aufnehmen  und  deshalb  glauben,  Viel- 
wisser zu  sein,  während  sie  doch  nichts  gelernt  hätten  und  Schein- 
weise geworden  seien,  nicht  Weise  .  .  .  Etwas  Arges  sei  an  Bild  und 
Schrift.  Beider  Hervorbringungen  zeigten  sich,  als  ob  sie  lebendig 
wären.  Frage  man  sie,  so  antworteten  sie  mit  vornehmem  Schwei- 
gen .  .  .  Sei  das  Wort  niedergeschrieben,  verbreite  es  sich  überall 
hin,  unter  die,  die  es  verständen,  ebenso  wie  unter  die,  an  die  es 
nicht  gerichtet  wäre,  und  es  habe  dann  keine  Macht  mehr  darüber, 
mit  wem  es  sprechen  wolle,  mit  wem  nicht.  Werde  es  mißbraucht 
oder  fälschlich  gescholten,  bedürfe  es  immer  des  Beistandes  seines 
Vaters,  selbst  sei  es  nicht  fähig,  sich  zu  wehren  oder  sich  sonst  zu 
helfen.  —  Die  Bedeutung  des  Buches  und  der  Bücher,  die  das  Ge- 
dächtnis  der   Menschheit   werden—    in   bibliothecis   loquuntur   de- 


ALTERTUM 

functorum  immortales  animae  [Plinius  maior]  —  erkannten  nüch* 
lernen,  praktisch-realistischen  Sinnes  die  Römer.  Derart  bezeich- 
nete das  Buch,  die  Bürgschaft  menschlicher  Unsterblichkeit,  der 
ältere  Plinius  [hist.  nat.  XIII.  70],  den  Papyrus  einen  Erhalter  ins- 
besondere der  geschichtUchen  Erinnerung  nennend,  so  die  Begriffe 
Buch  und  Urkunde  nicht  mehr  als  etwas  ganz  und  gar  gleichartiges 
verbindend.  Derart  erschien  auch  dem  Diodorus  Siculus  das  Auf- 
bewahren des  Aufgeschriebenen  für  den  Menschen  und  die  Menschheit 
wichtig:  „Wer  wäre  imstande,  der  Schreibkunst  eine  würdige  Lob- 
rede zu  halten?  Denn  nur  durch  die  Schrift  erhalten  sich  die  Toten 
in  dem  Andenken  der  Lebenden  und  verkehren  die  Entfernten  mit- 
einander als  ständen  sie  sich  zur  Seite.  Nur  das  zuverlässige  Zeugnis 
des  schriftUchen  Wortes  verbürgt  den  Bestand  der  im  Krieg  zwischen 
Königen  und  Völkern  geschlossenen  Verträge.  Nur  die  Schrift 
allein  bewahrt  die  köstlichen  Ged§inkex\,  der  weisen  Männer  und  die 
Aussprüche  der  Götter,  ja  selbst  alle  Philosophie  und  Wissenschaft, 
und  übergibt  sie  immer  von  Jahrhundert  zu  Jahrhundert  den  kom- 
menden Geschlechtern.  Darum  müssen  wir  wohl  die  Natur  als  die 
Quelle  unseres  physischen  Lebens  anerkennen,  aber  als  die  Quelle 
unseres  edlen,  unseres  geistigen  Lebens  die  Schrift."  [Übersetzt  von 
L.  Feuerbach.]  In  solchen  Äußerungen  von  Autoren  einer  verhält* 
nismäßig  schon  späteren  Zeit  läßt  sich  vielleicht  am  besten  die 
Stellung  des  antiken  Menschen  zum  Buche  erkenneif.  Es  war  ein 
Verständigungsmittel,  ein  geistiges  Werkzeug  geworden,  das  Raum 
und  Zeit  überwinden  ließ.  Aber  es  blieb  doch  immer  nur  ein  Ersatz 
für  den  persönlichen  Verkehr.  Nirgends  begegnet,  selbst  bei  den 
begeistersten  alten  Lobrednern  des  Buches,  ein  Ausspruch  wie  der 
eines  modernen  Philosophen,  der  ihren  Verfassern  deren  Werke 
vorzieht,  weil  sie  allein  in  diesen  ihr  bestes  geleistet  hätten,  die 
Früchte  ihrer  Lebensarbeit  ihm  anvertraut  hätten,  die  höchsten 
Leistungen  ihrer  Persönlichkeit.  Das  erst  gibt  dem  Umgang  mit 
Büchern  seine  Vollendung,  daß  ein  kurzes  Menschenleben,  aus- 
genutzt, ausreicht,  sich  mit  den  größten  Menschen  aller  Völker  und 
Zeiten,  soweit  sie  Schrifttumswerke  hinterließen,  unterhalten  zu 
können.    Dem  Altertum  war  der  Begriff  des  Buches  weit  weniger 


ALTEBTUM 

eng  mit  dem  des  Schrifttums  verwachsen,  weil  beides,  Buch  und 
Schrifttum  in  ihrem  Gegenwartssinne,  in  ihm  sich  erst  langsam  aus- 
bildeten. 

Als  ein  Mittel  der  Politik  zeigten  sich  die  Anfänge  griechi- 
scher Bibliophilie  und  Bibliotheken.  Ausbreitung  der  geistigen 
Hegemonie,  Glanz  der  Hofhaltung,  Nationalbewußtsein  mochten  das 
Bedürfnis  der  Tyrannen  nach  eigenen  Büchersammlungen,  die  zu 
Mittelpunkten  geistigen  Lebens  wurden,  geweckt  haben.  [Und  die 
Entwicklungsrichtung  führte  von  diesem  Ausgangspunkte  weiter; 
bis  in  die  Neuzeit  entstanden  die  großen  Büchersammlungen  zuerst 
in  den  großen  absolutistischen  Monarchien,  nicht  in  den  Demo- 
kratien.] Polykrates  von  Samos  [Athenaeus  I,  3  A]  und  der  athe- 
nische Herrscher  Peisistratos  [Gellius  N.  A.  VII,  17;  Isidor.VI,  3, 3] 
sollen  über  BibUotheken  verfügt  haben.  Die  Verdienste,  die  sich 
Peisistratos  um  das  griechische  Schrifttum  erwarb,  indem  er  die 
epischen  Dichtungen  sammeln  und  damit  vor  der  Rhapsodenwillkür 
sichern  ließ  —  auch  die  Herstellung  eines  Homertextes  wird  ihm 
zugeschrieben  —  ließen  ihn,  mit  seinen  Söhnen  Hippias  und  Hip- 
parchos,  die  Begründung  von  Athens  geistiger  Vorherrschaft  durch 
Buchpflege  gewinnen.  Die  Bedeutung  seiner  Büchersammlung  er- 
weist ihr  Schicksal,  sie  soll  von  Xerxes  nach  Persien  entführt,  von 
Seleukos  Nikanor  den  Athenern  zurückgegeben  sein.  Doch  hat 
sie  nach  der  Pisistratidenzeit  in  der  aufblühenden  literarischen  Pro- 
duktion kaum  noch  ihren  Rang  einer  beispielgebenden  Sammel- 
stelle behalten.  Die  literarischen  Interessen  vervielfachten  sich  in 
dem  unter  atheniensischer  Führung  sich  gestaltenden  geistigen 
Weltkampf  der  hellenischen  Staaten;  und  im  fünften  Jahrhundert 
V.  Chr.  war  bereits  der  Buchhandel  zu  einem  Geschäftszweig,  die 
Auslese  der  Bücher,  die  Bücherwahl  des  einzelnen,  zu  einer  Ver- 
feinerung der  Sammlung  aller  vorhandenen  Werke  geworden.  Die 
Literaturkritik,  schon  vor  Piaton  sich  regend,  begann  die  festeren 
wissenschaftlichen  Formen  einer  Philosophie  anzunehmen.  Ja  dieser 
Philosoph  selbst  gilt  manchen  als  derjenige  Grieche,  der  als  erster 
griechische  Handschriften  planmäßig  gesammelt  hat.  Indessen  wird 
der  Anspruch  des  Aristoteles,  der  die  Betriebsverfahren  der  Wissen- 


ALTERTUM 

Schäften  konzentrierte  und  organisierte,  auf  den  Ruhm  begründeter 
sein,  zuerst  mit  bibliographischer  Methodik  in  Griechenland  eine 
Handschriftensammlung  zusammengestellt  zu  haben.  Der  Poly- 
graph, der  Polyhistor  brauchte  nicht  allein  die  Bücher  für  die  Ver- 
folgung der  von  ihm  bestimmten  Zwecke.  Ihm  konnte  auch  ein  um- 
fangreicher Büchervorrat  nicht  genügen,  wenn  dessen  Art,  wenn 
die  Benutzung  der  aufgestellten  Sammlung  nicht  seiner  Systematik 
entsprach.  Und  wie  er  den  Bereich  der  eigenen  Schriften  über  das 
ganze  Gebiet  der  Wissenschaften  ausdehnte,  so  wird  ihm  die  Biblio- 
thek zur  Enzyklopädie  geworden  sein.  Die  Anregungen,  die  auch 
von  seiner  Bibliothekstechnik  ausgingen,  sind  in  den  Einzelheiten 
unbekannt.  Es  bleibt  nur  zu  vermuten,  was  und  wieviel  die  groß- 
artigen Unternehmungen  der  Ptolemäer  ihnen  verdankten.  Daß 
er  selbst  von  den  Ägyptern  gelernt  hat,  Bücher  als  Büchersammlung 
zu  verwenden,  ist  bei  einem  Denker,  der  die  Vergleichungen  hebte, 
wahrscheinlich.  Er  war  die  Persönlichkeit,  in  der  sich  die  alten, 
orientalischen  Traditionen  mit  den  seinen  Namen  tragenden  neuen 
verbanden.  Auch  in  dieser  Beziehung  ist  Aristoteles  im  guten  oder 
im  schlechten  vielen  kommenden  Jahrhunderten  Vorbild  geworden. 
Aristoteles,  der  Bibliognost,  der  Bibliophile,  der  Bibliothekar  war  ein 
Bibliothekenschöpfer  von  so  weitreichender  Wirkung,  daß  an  ihr 
gemessen  die  [von  Strabon  im  13.  Teile  seiner  Geographie  erzählte] 
Geschichte  der  Aristotelesbibliothek  gleichgültig  wird,  obschon 
diese  Büchersammlung  lange  noch  erhalten  wurde.  Ihr  Erbe  war 
der  Nachfolger  in  der  Leitupg  der  von  Aristoteles  begründeten 
Philosophenschule,  Theophrast  [Diogenes  Laertios  V,  52],  der 
sie  vermehrt  dem  Neleus  hinterließ.  Dieser  verkaufte  die  Biblio- 
thek selbst  nach  Alexandreia  an  die  Ptolemäer,  die  Aristoteles-  und 
Theophrast-Originale  nahm  er  in  seine  Heimat  nach  Skepsis  in 
Troas  mit  und  hier  wurden  die  unersetzlichen  Werke  von  seinen 
Erben,  denen  ihr  Wert  unverständlich  war,  vergraben,  um  den 
Schatz  vor  der  Büchergier  der  Attaliden  in  Pergamon  zu  wahren. 
Um  90/100  V.  Chr.  verkauften  die  Nachkommen  des  Neleus  die 
Bibliothek  dem  Apellikon  von  Teos,  einem  Büchersammler,  der 
nicht  allein  über  reiche  Mittel  verfügte,  sondern  sich  auch  auf  die 


ALTERTUM 

Behandlung  der  durch  Feuchtigkeit  und  Wurmfraß  stark  heschädig- 
ten  Buchrollen  verstand  oder  dafür  doch  die  Sachkundigen  heran- 
zuziehen wußte ;  ein  Umstand,  der  auf  die  Ausbildung  einer  besonde- 
ren Bibliatrik  unter  den  Buchbinderkunstfertigkeiten  schließen  läßt. 
Jedenfalls  kam  die  Aristotelesbibliothek  im  Besitze  dieses  Biblio- 
philen wieder  in  Ordnung.  Aus  seiner  und  des  Anakreon  lydischen 
Vaterstadt  nach  Athen  gekommen  und  hier  Bürger  geworden, 
nutzte  er  seine  wissenschatflichen  Beziehungen,  er  war  Peripatetiker, 
mehr  wohl  noch  die  des  Finanzmannes,  er  war  auch  zweimal  erster 
Münzmeister  von  Athen,  um  eine  seiner  Bücherlust  würdige  Bücher- 
sammlung zusammenzubringen.  Das  war  damals  am  Ende  des 
zweiten  Jahrhunderts  v.  Chr.,  also  in  einer  Zeit,  in  der  die  politische 
Geltung  der  griechischen  großen  Stadtstaaten  vorüber  war  und  die 
Bücherleidenschaft  hellenistische  Fürstenhöfe  verfeindete,  ein  Wag- 
nis, das  nur  jemand  auf  sich  nehmen  konnte,  der  der  Machtentfal- 
tung seines  Geldes  vertraute.  Ihm  verdankte  auch  ApelUkon  die 
Erfolge,  die  ihm  zuteil  wurden.  Er  war,  wie  die  seit  dem  achtzehnten 
ahrhundert  sich  von  Frankreich  über  England  nach  den  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika  fortsetzenden  Qualitäts-Quantitätssammler, 
ein  Aufkäufer  im  großen,  ein  Mann,  dem  das  Sammeln  zum  Sport 
wurde.  Oder,  wie  das  damals  noch,  als  die  Büchernutzung  fast  aus- 
schUeßlich  nach  wissenschaftlicher  Zweckarbeit  strebte,  sein  Biograph 
Strabon  [XIII 1, 54]  ausdrückte:  ^^v  5k  tpiXößißXog  fifiX^ov  1^  (piXöoo^og,  mehr 
ein  Bücher-  als  ein  Weisheitsfreund.  Aber  er  vertraute  doch  seinem 
Golde  zu  viel.  Die  Diebstähle  in  den,  kleineren  griechischen  Stadt- 
archivbibliotheken hatte  er  mit  dessen  Hilfe  wieder  gut  machen 
können.  Als  ihn  jedoch  der  mit  solchen  Erfahrungen  gestärke  Mut 
seiner  Bücherraubsucht  antrieb,  aus  dem  atheniensischen  Heiligtum 
der  Göttermutter,  dem  Metroon,  die  alten  Urkunden  der  Volks - 
beschlüsse  zu  entwenden,  zwang  ihn  die  Entdeckung  seiner  Untat, 
die  er  vielleicht  selbst  herbeiführte,  weil  er  ohne  den  BibUophilen- 
neid  seiner  Mitsammler  nicht  leben  mochte,  zur  eiligen  Flucht  vor 
der  ihn  bedrohenden  Todesstrafe,  einer  Flucht,  die  sich  ihm  in  aus- 
gedehnte Bücherreisen  wandelte.  Auf  ihnen  entdeckte  er  den  Ari- 
ßtoteles-Theophrast-Nachlaß  in  seinem  Versteck  und  rettete  mit  ihm 


ALTERTUM 

eine  Reihe  schon  unbekannt  gewordener  Werke  der  beiden  Philo- 
sophen. Apellikon,  dem  die  griechischen  Unruhen  die  Rückkehr 
nach  Athen  zu  seiner  berühmten  alten  Iliashandschrift  und  den 
vielen  anderen  seiner  Cimelien  ermöglicht  hatten,  begnügte  sich 
nicht  damit,  durch  Ausbesserungen  die  Werke  des  Stagiriten  wieder- 
herzustellen. Er  begann  selbst  die  fehlenden  Stellen  zu  ergänzen,  so 
wenig  galt  damals  noch  bei  einem  Manne,  der  die  authentischen 
Texte  in  seiner  Büchersammlung  vereinen  wollte,  die  feste  Grenze 
zwischen  Interpolation  und  Restitution.  Bedarf  es  eines  besseren 
Beispieles  dafür,  daß  die  alexandrinischen  Bemühungen  um  den 
überlieferten  Wortlaut  nicht  überflüssig  waren?  Apellikon  hatte 
in  Athen  sich  dem  Athenion  angeschlossen,  der,  Peripatetiker  wie 
er,  ein  großes  Vermögen  als  volkstümlicher  Wanderredner  sich  er- 
worben hatte  und  nun,  von  dem  König  Mithridates  VI.  von  Pontus 
als  Stadttyrann  eingesetzt  oder  doch  gehalten,  ohne  allzu  große 
Bedenklichkeiten  die  Nachkommen  stolzester  Bürger  regierte.  Von 
ihm  erhielt  Apellikon  den  ihm  jedenfalls  nicht  unerwünschten 
Auftrag  einer  Brandschatzung  des  Tempels  in  Delos.  Aber  der  aus- 
gezeichnete Bankier  bewährte  sich  nicht  als  Feldherr,  er  wurde  von 
den  Römern  unter  Orbius  geschlagen  und  kaum  konnte  er  selbst 
nach  Athen  zurückflüchten,  wo  er  während  der  Belagerung  der  Stadt 
durch  Sulla  [86  v.  Chr.]  inmitten  seines  Bücherschatzes  starb.  Als 
Beute  Sullas  gelangte  die  Apellikon  -  BibUothek  nach  Rom.  Hier 
wurde  sie  von  dem  Lehrer  Strabons,  Tyrannion  d.  Ä.,  aufgestellt. 
Ihre  Benutzung,  dank  der  dem  Andronikos  von  Rhodos  die  Wieder- 
herstellung der  in  ihr  geborgenen  Aristotelesschriften  gelang,  ver- 
schaffte auch  den  Buchhändlern  Roms  die  Gelegenheit,  die  Über- 
lieferung klassischer  Werke  nach  den  echten  Handschriften  bei 
ihren  Vervielfältigungen  zu  verwerten.  Freilich  eine  Gelegenheit, 
die  sie  nicht  gerade  sorgfältig  wahrnahmen.  Denn  die  Abschriften, 
die  sie  herstellen  ließen,  waren  allzuoft  nachlässig.  Aber  nicht 
darin  allein,  daß  die  Aristotelesbibliothek  ein  Bindeglied  literari- 
scher Tradition  geworden  ist,  liegt  die  Bedeutung  ihres  Begründers 
für  die  Bibliophilen  späterer  Jahrhunderte,  sondern  vor  allem  darin, 
daß   die  von  ihm  bestinmiten   Denkrichtungen,   das   von  ihm   ge- 


ALTERTUM 

schaffene  Gefüge  der  Wissenschaften  grundlegend  wurde  für  die 
Bibliothekssystematik  weit  über  die  Epochen  mittelalterlicher  Scho- 
lastik hinaus. 

Als  die  Blüte  der  hellenischen  Nationalliteratur  mit  der  der 
hellenischen  Nationalpolitik  zu  verwelken  begann,  in  einer  Zeit, 
in  der  die  griechische  Kultur  sich  über  den  ganzen  Umfang  des 
von  Alexander  erträumten  Weltreiches,  das  nach  seinem  Tode  in  die 
hellenistischen  Staaten  zerfiel,  verbreitet  hatte,  das  Griechische  Welt- 
sprache wurde,  ging  auch  das  von  des  großen  Königs  großem  Lehrer 
noch  allein  beherrschte  Reich  der  universalen  Wissenschaft  in  Trüm- 
mer. Aus  den  einzelnen  Wissenschaften  entwickelten  sich  Fach- 
wissenschaften, die  eine  enzyklopädische  Bildung  verband,  deren 
Zentren  die  neuen  Großstädte  im  Osten  wurden.  Die  Enzyklopä- 
disten dieser  Epoche,  die  sogenannten  Grammatiker,  d.  h.  die  Kri- 
tiker, Literaten,  Philologen,  traten  an  die  Stelle  der  Philosophen  und 
der  Poeten,  Fleiß  und  Gelehrsamkeit  an  die  des  Genies.  Und  da  die 
Wechselbeziehungen  zwischen  dem  Leben  und  der  Literatur  auf- 
hörten, begann  ein  Erstarren  im  Formenwesen,  die  Kritik  artete  in 
die  Krittelei,  die  Kunst  in  die  Künstelei  aus.  Das  alexandrinische 
Zeitalter,  in  dem  die  literarhistorische  Aufnahme  des  Bestandes  der 
klassischen  griechischen  Literatur  sich  vollzog,  wurde  zum  Beispiel 
einer  Epoche,  in  der  das  Buch  dem  Werk,  dem  es  dienen  soll,  voran- 
gestellt wird.  Allerdings  auch  zu  einem  von  der  undankbaren  Nach- 
welt verkannten  Beispiel.  Denn  auf  des  Alexandrinertums  Ver- 
diensten beruhte  die  Erhaltung  des  griechischen  Schrifttums,  be- 
ruhte der  Humanismus,  in  dem  sich  Antike  und  Moderne  ver- 
banden. Die  ägyptische  Stadt  Alexandreia,  die  Lieblingsgründung 
Alexanders  des  Großen,  die  die  geistige  und  politische  Hauptstadt 
seines  sich  über  den  Osten  ausdehnenden  neugriechischen  Reiches 
werden  sollte,  war  durch  ihre  Lage  der  Mittelpunkt  damaligen  Welt- 
verkehrs; ein  Ort,  an  dem  okzidentalische  und  orientalische  Geistes- 
strömungen zusammenflössen.  Sie  wurde  die  neue  Pflegestätte 
griechischer  Künste  und  Wissenschaften,  die  beherrschende  Literatur- 
zentrale.  Das  Hauptverdienst  hieran  hatte  das  Mäzenatentum  der 
Ptolemäer,  das  in  ihrer  Stadt  die  größte  öffentliche  Büchersamm- 

8 


ALTERTUM 

lung  des  Altertums  entstehen  ließ.  Bereits  der  Gründer  dieser  ägyp- 
tischen Königsdynastie,  Ptolemaios  Lagi,  besaß  eine  Bücher- 
sammlung. Doch  erst  Ptolemaios  I.  Soter  [323—284/82]  und  vor 
allem  sein  Sohn  Ptolemaios  II.  Philadelphos  [283—247  v.  Chr.] 
wurden  die  Stifter  der  alexandrinischen  Bibliotheksanlagen,  deren 
hervorragende  Bibliothekare  die  bibliographisch -philologische  Ko- 
difikation der  griechischen  Literatur  vollendeten,  in  der  deren  Über- 
lieferung fortan  wurzelte.  Hier  entstanden  die  ersten  auf  Kritik  und 
Hermeneutik  beruhenden  Textrezensionen,  die  seit  den  Editiones 
principes  der  Wiegendruckzeit  in  den  Büchersammlungen  euro- 
päischer moderner  Zivilisationen  die  antike  Literatur  repräsentieren. 
Der  Phalereer  Demetrios,  ein  Aristotelesschüler,  der  zehn  Jahre 
lang  [bis  307  v.  Chr.]  in  Athen  unter  makedonischer  Oberherrschaft 
regiert  und  im  Jahre  297  v.  Chr.  in  Ägypten  Aufnahme  und  Schutz 
gefunden  hatte,  hatte  für  Ptolemaios  I.  Soter  50000  Buchrollen  zu- 
sammengebracht, die  zum  Grundstock  der  von  Ptolemaios  Phila- 
delphos nach  seinem  Rat  errichteten  Bibliotheken  wurden,  die  sich 
an  das  in  dessen  Residenz  Alexandreia  erbaute  Museion  anschlössen. 
Eine  gelehrte  Gesellschaft  nach  dem  Muster  der  peripatetischen 
Schule  zu  Athen,  eine  Anstalt,  die  Akademie  der  Wissenschaften, 
Forschungsinstitut,  Universität  nach  heutigem  Sprachgebrauch  in 
sich  vereinigte,  gab  den  inneren  Zusammenhang  des  Ganzen;  die  Be- 
rufungen in  ihre  Mitgliederzahl  erregten  Aufsehen  und  Neid,  wie  ihn 
die  höhnenden  Verse  des  Timon  von  Phlios  bezeugen:  „Viele  werden 
gefüttert  im  völkerreichen  Ägypten,  traurige  Bücherschmierer,  die 
unaufhörlich  verzankt  sind,  in  dem  Gehege  der  Musen.'*  [Über- 
setzung von  A.  Gercke.]  Die  eigentliche  Bibliothek  des  Museion 
wurde  die  in  seiner  Nähe,  in  einem  an  den  königlichen  Palast  an- 
stoßenden Gebäude  im  Quartier  Brucheion,  aufgestellte  Bücher- 
sammlung, die  die  gesamte  ägyptische,  griechische,  orientalische, 
römische  Literatur  aufnehmen  sollte,  die  vollständige  Weltliteratur- 
sammlung, wie  sie  sich  Demetrios  Phalereos  wünschte.  Die  kleinere, 
zweite  Bibliothek  befand  sich  im  Serapeion,  das  im  Quartier  Rhakotis 
lag;  sie  war,  aus  den  Dubletten  der  großen  Bibliothek  vermehrt,  be- 
sonders  den   Unterrichtszwecken  dienstbar,   die   Universitätsbiblio- 

9 


ALTERTÜ  M 

thek  neben  der  Zentralbibliothek.  Das  Bestreben  des  königlichen 
Buchgönners  war  es,  möglichst  die  alten,  echten  Originale  selbst  zu 
erreichen.  Er  ließ  abschreiben,  begünstigt  durch  den  neuen  Be- 
schreibestoff, den  die  Papyrusstaude  lieferte,  und  aufkaufen,  was  er 
erreichen  konnte.  Der  Sammeleifer,  der  ihn  trieb,  verschmähte  auch 
nicht  die  Zwangsmaßregeln,  die  er  durchsetzen  konnte.  Ein  beliebtes 
Mittel  war  es,  die  Originale  zu  entleihen  und  statt  ihrer  Kopien  zurück- 
zugeben. Die  Schiffe,  die  im  Hafen  von  Alexandreia  ankerten,  wurden 
nach  ihrem  Büchergut  durchsucht,  um,  wenn  sich  in  ihm  alte  Stücke 
fanden,  deren  Tausch  gegen  neue  zu  vollziehen.  Die  von  den  Athe- 
nern, die  sie  notgedrungen  hergeben  mußten,  gegen  ein  Pfand  von 
15  Talenten  entliehenen  Staatsexemplare  der  drei  Tragiker  gab  der 
König  Ptolemaios  Euergetes  ebenfalls  nicht  zurück.  Er  überließ  den 
Athenern  die  Pfandsumme  und  das  Begnügen  mit  den  drei  nach  ihren 
Originalen  angefertigen  Buchabschriften.  Da  häuften  sich  dann  die 
Cimelienreihen  wie  in  dem  Rollenschatz  der  in  den  entlegensten  Orten 
aufgespürten  Homerhandschriften.  Deshalb  blieben  jedoch  die  namen- 
und  ruhmlosen  Schriften  nicht  unbeachtet.  Auch  sie,  die  im  Buch- 
handel nicht  verbreitet  waren,  deren  Vervielfältigungen,  wie  die 
Nachschriften  von  Vorlesungen  und  Vorträgen,  überhaupt  nicht  in 
den  Handel  gelangten,  fanden  in  Alexandreia  Beachtung  und  Platz. 
Dem  methodischen  Sammeln  entsprach  das  methodische  Sichten. 
Der  Begründer  der  Homerkritik,  Zenodotos  aus  Ephesos,  ein 
Schüler  des  ersten  Vorstandes  der  alexandrinischen  Bibliothek,  des 
dichtenden  Gelehrten  Philitas  aus  Kos,  der  die  unverständlichen 
Worte  [Glossen]  alter  Dichtungen  zu  erforschen  sich  bemüht  hatte, 
Alexander  aus  Pleuron  in  Aitolien  und  Lykophron  aus  Chalkis 
besorgten  die  Vorarbeiten  für  die  kritische  Revision  der  Texte  der 
epischen,  tragischen,  komischen  Dichtungen.  Um  270/40  vollendete 
man  unter  des  Kallimachos  aus  Kyrene  Teilnahme,  der,  ein  Freund 
Theokrits,  ihn  bei  den  Zeitgenossen  an  Dichterruhm  überragte, 
dessen  größeres  Verdienst  aber  doch  wohl  seine  bibliographischen 
Leistungen  waren,  die  Aufnahme  der  Bestände,  deren  Zählung  etwa 
42800  Rollen  in  der  Serapistempelbibliothek  und  400000  gebündelte 
Mischrollen,  90000  einfache  Rollen  in  der  großen  Bibliothek  ergab; 

10 


ALTERTUM 

eine  Zahl,  die  mit  der  Dubletteneinrechnung  bis  auf  700000  Rollen 
gestiegen  sein  soll.  Die  Herausgabe  des  Kataloges  [IlCvoexeg]  machte 
es  dem  Aristophanes  aus  Byzanz  [f  um  180  v.  Chr.],  einem  Kalli- 
machosschüler,  möglich,  aus  der  Übersicht,  die  das  Verzeichnis  bot, 
in  grundlegenden  Untersuchungen  eine  ästhetisch-kritisch-Kterar- 
historische  Ordnung  des  griechischen  Schrifttums  vorzunehmen.  Die 
Dichter,  deren  gesammelte  Werke,  deren  gesamter  handschriftlicher 
Nachlaß  in  Alexandreia  zusammengestellt  waren,  wurden  nach  der 
Art  ihrer  Dichtungen  in  Klassen  getrennt  und  die  hervorragendsten 
von  ihnen  unter  Ausschluß  der  noch  lebenden  zu  besonderen  Grup- 
pen vereinigt.  Die  besten  Bücher  galten  von  nun  an  als  die 
Grundlage,  als  der  Kanon  literarischer  Bildung.  So  entstand  aus 
dem  kanonischen  Ansehen,  das  bestimmte  Dichter  und  Dichtungen 
fortan  genossen,  der  Begriff  des  Klassikers  und  mit  ihm  für  die 
Nachwelt  der  des  klassischen  Altertums.  Den  bibliographisch- 
literarhistorischen Arbeiten  der  alexandrinischen  Bibliothekswissen- 
schaft mußte  sich  notwendigerweise  die  Dichtungserklärung  und 
Textbearbeitung  verbinden.  Sie  wandte  sich  zunächst  auf  Homer, 
den  Klassiker  xaV  lE/oyfyf.  Aus  der  Beschäftigung  mit  ihm  erwuchs 
die  Philologie,  der  Dienst  am  Wort,  die  Gelehrsamkeit  der  Schrift- 
tumsüberlieferung. Die  Fassungen  der  Homertexte  wurden  ver- 
glichen, Auslassungen  ergänzt,  Berichtigungen  vorgenommen.  Das 
führte  auf  linguistische,  metrische  und  andere  Untersuchungen. 
Die  Auffassung  und  Erläuterung  eines  Schriftwerkes  gestaltete  sich 
zu  einer  wissenschaftlichen  Aufgabe,  deren  Lösung  die  Kommentare 
unternahmen,  von  denen  die  Vorlesungen  ausgingen.  Alle  Einzel- 
leistungen faßte  die  Homerphilologie  in  den  großen  kritischen  Text- 
ausgaben zusammen,  die  von  Zenodotos,  Aristophanes  und  von  dem 
hervorragendsten  Philologen  des  klassischen  Altertums,  Aristar- 
chos  aus  Samothrake  [t  145  v.  Chr.],  bearbeitet  wurden.  Von  seiner 
in  je  24  Bücher  eingeteilten,  mit  kritischen  Zeichen  erläuterten 
Edition  der  Ilias  und  Odyssee  erschien  eine  zweite  verbesserte  Auf- 
lage, die  weiterhin  die  maßgebende  blieb.  Die  kritischen  Ausgaben 
erhielten  ihre  Benutzer  nach  den  Ergebnissen  der  Forschung  auf  der 
Höhe    der    Wissenschaft.     Randschriften    und    sonstige    Vermerke 

11 


ALTERTUM 

fügten  in  kurzer,  sich  hierfür  ausbildender  Schreibweise,  die  zu  einer 
Editionstechnik  wurde,  allerlei  Anmerkungen  hinzu.  Es  entstanden 
immer  neue  Ausgaben,  von  denen  besonders  diejenigen  gesucht 
wurden,  deren  anmerkende  Erklärungen  [Scholien]  die  Interpretation 
den  Lernenden  und  Lesenden  erleichterten.  Allmählich  dehnte  sich 
der  Kreis  der  derart  erklärten  und  herausgegebenen  Texte  immer 
weiter.  Die  Dramatiker,  deren  Metrik  der  Rezitation  Schwierig- 
keiten machte,  die  Prosaiker,  deren  Schriftmassen  eine  eingehendere 
Gliederung  verlangten,  bedingten  eine  gesteigerte  Sorgfalt.  Die 
diakritischen  Zeichen,  die  Unterscheidungszeichen  für  die  richtige 
Aussprache  der  Wörter  sowie  zur  Vermittlung  des  Verständnisses, 
vor  allem  die  Interpunktionszeichen,  wurden  ausgebildet,  die  mit 
Buchstaben  gesetzten  Zahlzeichen  wurden  zu  einem,  allerdings  ohne 
Null  bleibenden,  dekadischen  System.  Damit  hatte  sich  die  Ent- 
wicklung zum  Buche  im  europäischen  Gegenwartssinne  vollzogen, 
die  innere  Buchform  eines  Literaturwerkes  erschien  in  einer  ge- 
festigten Tradition,  deren  Art  zu  beachten  auch  die  neueren  Schrift- 
steller sich  bemühten.  Der  äußeren  Buchform  war  mit  der  Ent- 
wicklung ihrer  Ausstattung  und  gleichmäßigen  Herstellungsweise 
durch  die  Bedeutung  der  kritischen  Rezensionen  für  den  authenti- 
schen Text  auch  die  eines  unterscheidenden  Ausgabenwertes  ge- 
funden. Es  gab  nun  nicht  lediglich  gute  und  schlechte,  schöne  und 
unschöne  Bücher,  es  gab  jetzt  auch  sich  unterscheidende  gute  und 
schlechte  Ausgaben,  deren  Werte  die  Kenner  und  Liebhaber  zu 
schätzen  verstanden.  Man  war  aus  der  archivalischen  Epoche  des 
Aufbewahrens  in  die  bibliothekarische  des  Ordnens  gekommen. 
Bibliographie  und  Literarhistorie  übten  ihren  Einfluß  auf  Buch- 
gewerbe und  Buchhandel.  Der  Buchfreund  aber,  der  Bücher  sam- 
melte, wählte  nun  die  besten  Bücher  in  ihren  besten  und  schönsten 
Ausgaben.  Daß  die  alexandrinische  Bibliothek  nicht  als  ein  dauern- 
des Denkmal  antiker  Kultur  erhalten  blieb,  gehört  zu  den  großen 
Schicksalsschlägen  in  der  Geschichte  der  Menschheit.  Es  ist,  als  ob 
die  Ptolemäer  in  ihr  von  überallher  die  Reste  der  Vergangenheit  ge- 
borgen hätten,  um  den  kostbarsten  Scheiterhaufen  aufzubauen,  der 
jemals  errichtet  worden  ist.    Nachdem  die  Hauptbibliothek  im  Mu- 

12 


ALTEKTUM 

seion  schon  mehrfach  durch  Brände  verwüstet  war,  verbrannte  sie 
im  Jahre  47  bei  den  Straßenkämpfen,  die  unter  JuUus  Cäsar  gegen  die 
Ägypter  in  Alexandreia  geführt  wurden.  Allerdings  soll  Antonius 
der  Kleopatra  zum  Ersatz  die  200000  Bände  der  Bibliothek  in 
Pergamon  geschenkt  haben  und  diese  dürfte  dann  mit  den  Über- 
resten der  alten  Bibliotheken  untergegangen  sein,  als  unter  Aurelian 
eine  Feuersbrunst  den  größten  Teil  des  Bibliotheksstadtviertels 
eingeäschert  hatte.  Erhalten  blieb  als  ein  Hauptsitz  griechisch- 
römischer Gelehrsamkeit  und  Schrifttumsüberlieferung  allein  die 
kleine  Bibliothek  im  Serapistempel  bis  auf  die  Zeiten  Theodosius 
des  Großen.  Sie  wurde  im  Jahre  390  n.  Chr.  von  über  die  Serapis- 
feier aufgebrachten  Christen  unter  Führung  des  Patriarchen  Theo- 
philos  von  Antiocheia  verheert  und  nicht  erst  bei  der  Eroberung 
von  Alexandreia  durch  die  Araber  unter  Omar  640  n.  Chr.  zerstört. 

Andere  Königshöfe  waren  bald  dem  Beispiel  der  Ptolemäer 
gefolgt.  In  Antiochien  waren  es  die  Seleuziden,  in  Pergamon 
die  Attaliden,  die  in  ihren  Hauptstädten  Musensitze  errichteten. 
Eumenes  I.  und  sein  Nachfolger  Attalos  begründeten  die  Perga- 
menische  Bibliothek,  für  die  Eumenes  II.  [197—159  v.  Chr.]  in 
der  ersten  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts  auf  der  Burg  im  Nord- 
westen des  Athenatempels  einen  Prachtbau  ausführen  ließ  [Strabon 
13,  4,  2].  Unterstützt  von  Krates  aus  Mallos  in  Kilikien  und 
Athenodoros  trat  er  mit  Alexandreia  in  einen  Wettbewerb,  dessen 
Formen  nicht  immer  friedlich  blieben.  Als  ein  Ptolemäer  [Phy- 
skon]  ein  Ausfuhrverbot  für  den  ägyptischen  Papyros  erließ,  um 
die  Pergamenische  Bibliothek  von  der  Buchstoff  zufuhr  abzuschnei- 
den, begann  man  in  dieser,  Beschreibstoffe  aus  Tierhäuten  herzu- 
stellen und  erfand  das  Pergamen[t]. 

Neben  den  beiden  berühmtesten  Bibliotheksanlagen  der  helle- 
nistischen Zeit  werden  auch  sonst  in  den  griechischen  Städten  größere 
oder  kleinere  Büchersammlungen  vorhanden  gewesen  sein.  Die  Nach- 
richten, die  über  sie  erhalten  blieben,  finden  sich  zumeist  in  den 
Berichten  über  Kriegsbeute,  die  in  die  entstehende  Hauptstadt  des 
Imperium  Romanum  gelangten;  im  Verlaufe  einer  Entwicklung,  die 
einen  Vergleich  mit  dem  ähnlichen  Verhältnisse  zwischen  Europa 

13 


ALTERTUM 

und  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  im  zwanzigsten  Jahr- 
hundert nahelegt.  So  brachte  Aemilius  Paulus  [168  v.  Chr.] 
nach  der  Besiegung  des  Perseus  die  Bibliothek  der  mazedonischen 
Könige  nach  Rom  [Isidor,  Orig.VI,  5, 1],  während  die  bei  der  Einnahme 
Karthagos  dort  gefundenen  Büchersammlungen  von  den  Römern 
unter  die  einheimischen  Fürsten  verteilt  wurden,  [Plinius,  Nat.  bist. 
XVIII,  5, 22].  Italiens  Latinisierung  war  durch  Siege  und  Gesetzgebung 
im  letzten  Jahrhundert  vor  Christi  Geburt  von  den  Römern  erreicht 
worden;  die  lateinische  Sprache,  eine  Komandosprache  für  Feld* 
herren,  eine  Dekretalsprache  für  Administratoren,  eine  Lapidar- 
sprache für  das  steinharte  Römervolk,  als  welche  sie  Heinrich  Heine 
kennzeichnete,  bürgerte  sich  auch  in  den  italienischen  Landstädten 
ein,  um  dann  die  Verkehrssprache  des  Weltreiches  zu  werden  und 
noch  viele  Jahrhunderte  nach  dessen  Untergang  Literaturwelt- 
sprache zu  bleiben.  Die  Tiberstadt  aber  wurde  zur  Kosmopolis,  für 
deren  geistiges  Leben  nach  der  Unterwerfung  Griechenlands  der 
Hellenismus  bestimmende  Bedeutung  gewann.  Die  Verschmelzung 
der  hellenischen  mit  der  römischen  B  Idung  vollzog  sich  aber  nicht 
nur  durch  Austausch  und  Wechselwirkung  der  Kulturideen;  mit  den 
Vermittlern  der  hohen  Werte  griechischer  Kultur  kamen  auch  deren 
Zeugen,  Kunstwerke  und  Schriftrollen,  in  ungeheuerer  Zahl  nach 
Rom,  die  als  Einzelstücke,  häufiger  noch  als  ganze  große  Samm- 
lungen hierher  überführt  wurden.  Das  rasch  reichgewordene  Rom 
kaufte  die  Bildung  Griechenlands  mit  allem  ihrem  Zubehör  auf. 
Und  ihre  Abhängigkeit  von  der  griechischen  Bildung  ging  der  römi- 
sehen  nie  verloren,  mochte  auch  die  edle  Auffassung  sie  bestimmen, 
die  etwa  Horatius  vertrat:  Du  darfst  uns  reichen  Hellas  Edelsteine, 
Doch  sei  die  Fassung  immerdar  die  Deine,  Willst  du  in  Wahrheit 
treuer  Dolmetsch  sein,  Mußt  Du  zuerst  vom  Wortdienst  Dich  be- 
frein.  [Übersetzt  von  C.  Bardt.]  Wie  die  Anfänge  des  römischen 
Schrifttums  in  griechischen  Werken  bestanden,  wie  die  Anlehnungen 
an  die  griechischen  Muster  und  die  Übersetzungen  oder  Umarbei- 
tungen griechischer  Vorbilder  in  der  lateinischen  Literatur  nicht  auf- 
hörten, so  blieb  auch  dieser  literarische  Philhellenismus  für  die 
römischen  Buchfreunde  maßgebend,  deren  Büchersammlungen  vor- 

14 


ALTERTUM 

wiegend  griechische  waren,  die  das  lateinische  Schrifttum  mehr  aus 
Nationalstolz  pflegten  als  aus  der  Überzeugung  seines  für  die  Privat- 
bibliothek eines  Römers  höheren  Wertes.  Die  Bibliophilen,  die  auch 
die  lateinischen  Originale  schätzten,  blieben  in  der  Minderzahl;  die 
Bevorzugung  des  Griechischen  zeigte  sich  ebenso  im  Buchgewerbe, 
soweit  es  sich  mit  seinen  Erzeugnissen  an  die  Liebhaber  wendete. 
Nicht  allein  die  Erbin  der  Bücher  Griechenlands,  auch  die  seiner 
Buchgelehrsamkeit  wurde  Rom,  nachdem  in  Alexandreia  der  Autokrat 
Ptolemaios  Physkon,  in  Pergamon  der  Tod  des  III.,  letzten, 
Attalos  [t  133  V.  Chr.]  den  Betrieb  der  Buchpflegestätten  auf- 
gehalten hatte.  Krates,  der  in  Pergamon  den  Alexandrinern  auch 
darin  widerstrebte,  daß  er  der  grammatisch-philologischen  Inter- 
pretation das  sachliche  Erklärungsverfahren  gegenüberstellte  [das 
allerdings  rasch  in  Realitätenphantasien  ausartete],  vermittelte 
die  griechische  Wissenschaft  den  Römern,  als  er  [168  v.  Chr.]  im 
amtlichen  Auftrage  in  Rom  befindlich,  durch  einen  Beinbruch  dort 
zu  längerem  Aufenthalte  gezwungen  wurde.  Der  Aristarchgegner 
versäumte  nicht  die  Gelegenheit,  in  Vorlesungen  für  seine  Lehre  zu 
werben  und  die  Beziehungen  zwischen  Pergamon  und  Rom  durch 
geistige  Gemeinsamkeit  zu  verstärken.  Der  Erfolg  seiner  Bemühun- 
gen kam  jedenfalls  zunächst  nicht  darin  zum  Ausdruck,  daß  im 
öffentlichen  von  der  Kriegspolitik  in  Anspruch  genommenen  Leben 
Roms  das  Bedürfnis  hervortrat,  eine  Bibliothek  als  Kulturzentrum 
zu  erschaffen.  Der  praktische  Sinn  des  römischen  Volkes  neigte 
wenig  zu  einem  verfeinerten  Verlieren  in  der  Theorie,  als  das  ihm 
das  alexandrinische  und  auch  das  pergamenische  Literaturwesen 
erscheinen  mußte.  Die  Beutebibliotheken,  die  die  Feldherren  unter 
ihren  Triumphstücken  heimbrachten  [wie  die  Lucullusbibliothek, 
die  Bücherei  des  Königs  Mithridates,  aus  dem  pontischen  Raube] 
blieben  unter  den  anderen  Schätzen,  die  Siegeszeichen  waren,  an 
ihre  Nutzung  wurde  nicht  gedacht.  Denn  auch  die  Römer  begannen 
mit  der  Aneignung  der  Äußerlichkeiten  jener  Dinge,  die  sie  in  der 
Fremde  hochgeschätzt  sahen.  Der  Besitz  genügte  ihnen  vorerst, 
und  es  dauerte  eine  Weile,  bis  sie  das  Feingold  griechischer  Kostbar- 
keiten  in    gemeingültiges    römisches    Kleingeld   umprägen   lernten. 

15 


ALTERTUM 

Die  Besitzergreifung  der  geistigen  Hinterlassenschaft  blieb  vorerst 
den  Privaten  überlassen.  Ein  Gelehrter,  wie  der  Polygraph  und 
Polyhistor  M.  Terentius  Varro  [116—26  v.  Chr.],  konnte  ohne 
ausreichende  Büchersammlung  gar  nicht  so  viel  schreiben  oder  ab- 
schreibend übersetzen,  daß  seine  unaufhörlich  sich  folgenden  Werke 
eine  Bibliothek  für  sich  wurden.  Die  Privatbibliothek  Varros  ist 
während  der  Proskriptionen  geplündert  worden  [Gellius  N.  A.  III, 
10,  17].  Daß  ihr  Ansehen  auch  in  bibliothekstechnischer  Hinsicht 
nicht  gering  gewesen  ist,  beweist  der  Auftrag,  den  ihm  Julius 
Cäsar  erteilte,  die  Begründung  einer  griechisch-römischen  Bücher- 
sammlung zu  leiten.  Vielleicht  war  diesem  Unternehmen  in  den 
cäsarischen  Monarchieplänen  eine  Rolle  zugedacht  gewesen.  Denn 
daß  Cäsar  unter  den  gewaltigen  Plänen,  deren  Verwirklichung  er 
nicht  erleben  sollte,  auch  den  Gedanken  einer  allumfassenden,  großen 
öffentlichen  Büchersammlung  gehabt  hat,  er,  der  im  alexandrinischen 
Kriege  die  alexandrinische  Bibliothek  in  den  Flammen  des  Flotten- 
brandes untergehen  sah,  brauchte  nicht  mit  seiner  eigenen  schrift- 
stellerischen Tätigkeit  oder  mit  seiner  persönlichen  Vorliebe  für  die 
Wissenschaften  zusammenzuhängen,  sondern  konnte  durchaus  seinen 
Gedanken,  die  das  Gefüge  eines  Imperium  Romanum  überlegten, 
•»ohl  anstehen.  Aber  die  Ermordung  des  Diktators  vereitelte  die 
Ausführung,  zu  deren  Vorbereitung  jedenfalls  das  [nicht  erhalten 
gebliebene]  Buch  Varros  „de  bibliothecis'*  geschrieben  wurde,  das 
auch  die  Benutzung  ähnlicher  griechischer  Bibliothekskunden  durch 
ihn  vermuten  läßt.  Des  Adoptivvaters  Plan  nahm  nun  zwar  Au- 
gust us  sogleich  auf,  doch  kam  ihm  Cäsars  Freund,  der  angesehene 
Kritiker  und  Schriftsteller  C.  AsiniusPollio  [76  v.  Chr. — 5  n.  Chr.] 
zuvor,  aus  der  Beute  des  Dalmatinischen  Feldzuges  stiftete  er  im 
Jahre  39  v.  Chr.  die  erste  öffentliche  Bibliothek  in  Rom.  Primus 
ingenia  hominum  rem  publicam  fecit,  ein  Lob  des  Plinius  [Nat.  bist. 
XXXV,  10],  das  die  echt  römische  Auffassung  dieser  Tat  bezeugt.  Im 
Atrium  des  Libertastempels  auf  dem  Aventin,  das  er  hatte  errichten 
lassen,  fand  die  Sammlung  ihre  Unterkunft.  Bildsäulen  und  Büsten 
der  hervorragendsten  Schriftsteller  schmückten  die  Räume,  eine 
bald  für  Bibliothekseinrichtungen  vorbildlich  werdende  Mode,  die 

16 


ALTERTUM 

auch  unter  den  Baukunstregeln  des  Vitruv  nicht  vergessen  wurde. 
Allein  Varro  war  unter  den  Lebenden  solcher  Bildsäulenehrung  für 
würdig  befunden  —  es  wird  der  Dank  an  den  geistigen  Schöpfer  dieser 
Bibliotheksgründung  gewesen  sein  —  unter  den  Denkmälern  der 
großen  Toten  sein  eigenes  zu  sehen.  Die  Anwendung  einer  griechi- 
schen Ausstattungsgewohnheit  auf  einen,  dem  Gedankengange  eines 
Römers  sehr  genehmen,  amtlichen  Autor- Heroenkult  in  den  Biblio- 
thekstempeln kam  jedoch  nicht  zu  einer  strengen  Durchführung. 
Schon  ein  Jahrhundert  später  durfte  sich  der  Allerweltsschmeichler 
Martial  berühmen  [9  prooem.  5],  als  Standbildchengönner  den 
Büchersammler  Stertinius  zu  haben.  Ihr  akademischer  Charakter 
verblieb  ihr  indessen:  am  Ende  des  fünften  Jahrhunderts  noch 
wird  eine  derartige  Poetenproklamierung  erwähnt,  die  des  Bischofs 
von  Clermonty  Sidonius  ApoUinaris,  dessen  Statue  unter  denen  der 
Dichter  in  einer '  öffentlichen  Bibliothek  [in  der  bibliotheca  Ulpia] 
aufgestellt  wurde.  Aus  dergleichen  Beziehungen  gaben  auch  wohl 
die  Bibliophilen  dem  Büstenschmuck  ihrer  Privatbibliotheken  einen 
eigenen  Sinn  [Cicero  ad  Attic.  4,  10].  Ihr  Mäzenatentum  erstreckte 
sich  nicht  bloß  darauf,  daß  sie  den  Verfassern  die  Dedikationen  be- 
zahlten und  die  Abschriften  ihrer  Werke  von  ihnen  ankauften.  Sie 
stellten  ihnen  sogar  die  Bildsäule  auf,  die  in  einer  berühmten  Bücher- 
sammlung urbi  et  orbi  verkündete,  welche  Geistesgröße  der  Porträ- 
tierte sei  und  welcher  Gönner  von  Kunst  und  Wissenschaft  der 
Sammler  selbst. 

Der  Bestand  der  Bibliothek  im  Atrium  Libertatis  scheint  nicht 
allzulange  gedauert  zu  haben,  wenigstens  hören  die  Nachrichten 
über  sie  nach  der  Zeit  des  Kaisers  Vespasianus  auf,  sie  verschwand 
im  Schatten  der  neuen  großen  Staatsbibliotheken,  von  denen  zwei 
noch  Augustus  gegründet  hat,  die  beide  die  griechisch-römische 
Literatur  umfaßten:  die  im  Jahre  28  v.  Chr.  im  Apollotempel  auf  dem 
Palatin  eingeweihte  [bibliotheca  (templi)  ApoUinis],  in  der  unter  der 
Leitung  des  Pomp  eins  Macer,  später  des  Hyginus,  hauptsächlich 
die  Rechts-  und  die  schönen  Wissenschaften  vertreten  waren,  und  die 
in  dem  zu  Ehren  seiner  Schwester  23  v.  Chr.  errichteten  porticus  Octa- 
viae  auf  dem  Marsfelde  befindliche,  die  von  Melissus  gesammelt  war. 

BOGENO    2  17 


ALTERTUM 

Die  Palatinische  Bibliothek  scheint  erst  in  der  Feuersbrunst  des  Jahres 
363  n.  Chr.  untergegangen  zu  sein,  die  Oetavische  verbrannte  be- 
reits im  Jahre  80  n.  Chr.,  ist  jedoch  wiederhet'gestellt  worden.  Unter 
Tiberius  entstanden  zwei  neue  Bibliotheken,  die  beim  templum 
Divi  Augusti  auf  dem  Palatin  und  die  in  der  domus  Tiberiana.  [Wo- 
fern die  Nachrichten  über  diese  beiden  Büchersammlungen,  die  die 
Feuersbrunst  unter  Commodus,  191  n.  Chr.,  überdauert  zu  haben 
scheinen,  sich  nicht  auf  eine  einzige  Sammlung  beziehen.]  Und  auch 
die  folgenden  Kaiser  waren  immer  wieder  bereit,  die  Bibliotheken,  die 
in  den  zahlreichen  Bränden  zerstört  wurden,  durch  andere  zu  ersetzen. 
Aber  das,  was  sich  in  Alexandreia  an  einem  Tage  vollzog,  der  Unter- 
gang der  wertvollsten  Originale  der  klassischen  Literatur,  konnten 
oder  wollten  [denn  der  Plan,  in  gesicherter  Lage  der  Stadt  eine  Zen- 
tralbibliothek  zu  errichten,  scheint  niemals  ernsthaft  erwogen  zu 
sein]  auch  sie  nicht  verhindern.  War  Alexandreia  ein  Scheiterhaufen 
gewesen,  auf  dem  die  griechische  Literatur  schnell  verbrannte,  so 
war  Rom  der  langsame  Scheiterhaufen,  in  dem  die  Feuer  Jahr- 
hunderte hindurch  die  bisher  geretteten  Reste  der  Bücherschätze 
vernichteten,  soweit  sie  nicht  noch  in  den  ländlichen  Privatbiblio- 
theken geborgen  waren,  wo  Bürgerkriege  und  Eroberungsfeldzüge 
immer  von  neuem  ihr  Dasein  bedrohten,  bis  auch  sie  zerbröckelten 
und  zerfielen.  Und  doch  verdanken  wir  dem  Element,  das  uns  den 
größten  Teil  der  antiken  Literatur  geraubt  hat,  auch  die  Erhaltung 
der  einzigen  Bibliothek  des  Altertums,  die  bisher  unseren  Tagen 
dessen  Bücher  überlieferte:  der  im  achtzehnten  Jahrhundert  im 
Herculanum  ausgegrabenen,  teils  nach  Neapel,  teils  nach  Oxford 
gebrachten  kleinen  Privatbibliothek,  die  einst,  eine  bereits  von 
Winckelmann  ausgesprochene  Vermutung,  dem  epikureischen  Philo- 
sophen Philodemos,  aus  Gadara  in  Palästina,  der  schon  um  55 
V.  Chr.  als  Dichter  aufgetreten  war,  also  einem  Zeitgenossen  Ciceros, 
gehört  hatte.  Ihre  Überreste,  die  in  der  Villa  der  Pisonen  vorgefun- 
den wurden,  sind  allerdings  die  einer  bescheideneren,  einseitig  an- 
gelegten Sammlung,  sie  lassen  die  Ausdehnung  und  Ausstattung  der 
großen  Liebhaberbüchereien  Roms  nicht  erkennen. 

Achtundzwanzig  Büchersammlungen  sollen  in  der  Zeit  Con- 

18 


ALTEKTUM 

stantins  dem  öffentlichen  Gebrauche  geöffnet  gewesen  sein,  eine 
Zahl,  an  der  nicht  zu  zweifeln  ist,  da  ja  die  öffentlichen  Gebäude  von 
einiger  Größe  und  Prachtentfaltung,  die  Tempel  und  Theater,  die 
Thermen  und  Torbauten,  Büchersammlungen  einzuschließen  pflegten. 
Doch  selbst  die  Kunde,  die  von  ihnen  zurückblieb,  besteht  nur  aus 
Nachrichtentrümmern.  Der  Biograph  Domitians,  Sueton,  erzählt, 
der  Kaiser  habe  in  Alexandria  durch  Abschriften  und  Ankäufe  den 
Bücherschatz  Roms  vermehren  lassen.  In  dem  östlich  vom  Forum 
des  Augustus,  hinter  der  Basilica  Julia  errichteten  Prachtbau,  dem 
Denkmal  des  Sieges  über  Judäa,  den  der  ältere  Plinius  als  eine  der 
erhabensten  Schöpfungen  des  Erdkreises  pries,  ließ  Vespasian  die 
bibliotheca  in  templo  Pacis  verwahren,  die  bis  in  das  dritte  Jahr- 
hundert eine  der  größten  Büchersammlungen  war.  Wonach  anzu- 
nehmen  ist,  da  der  Friedenstempel  und  gleichzeitig  mit  ihm  die 
sonst  unbekannte  Bibliothek  auf  dem  Kapitol  abbrannte,  daß  auch 
sie  wie  die  meisten  öffentlichen  Bibliotheken  Roms  ihren  Namen 
verschiedene  Büchersammlungen  tragen  ließ.  Am  längsten  scheint 
die  von  Trajan  seinem  Forum  gestiftete  bibliotheca  Ulpiana  sich 
erhalten  zu  haben,  deren  Spuren  sich  im  Dunkel  des  untergehenden 
Rom  verlieren.  Nach  der  Beendigung  des  Bürgerkrieges  hatte 
Augustus  den  Tempel  des  Kriegsgottes  geschlossen  und  mit  den 
von  ihm  begründeten  Büchersammlungen  die  Tore  zu  den  Tempeln 
der  Weisheit  öffnen  lassen;  Diokletian  und  Konstantin,  die  im  Be- 
ginne des  vierten  Jahrhunderts  das  römische  Weltreich  vor  dem 
Zerfall  zu  retten  suchten,  konnten  das  Ende  nur  verzögern.  Aber 
obschon  die  politische  Macht  Roms  zerstückelt  wurde,  obschon  die 
neuen  Teilreiche  im  Westen  von  den  andrängenden  Germanen,  im 
Osten  von  den  Arabern  und  Persern  bedroht  wurden,  ihr  kultureller 
Zusammenhang  löste  sich  niemals  ganz  und  gar.  Ihn  band  das  Buch, 
das  einst  die  hauptstädtischen  Paläste  und  die  Villen  der  Vornehmen 
zierte,  auch  diesmal  im  Überdauern  von  Völkern  und  Zeiten  seine 
Sendung  erfüllend,  ein  Menschheitsmittler  zu  sein.  Mochte  auch  der 
Bücherprunk  unter  Trümmerhaufen  begraben  werden,  die  echte 
Gesinnung,  die  ihn  einst  hervorrief,  blieb  und  weckte  in  neuen  Buch- 
formen neues  Leben. 

2-  19 


ALTERTUM 

Als  die  Bibliophilie  zu  einer  Bildungsmode  wurde,  entstand  der 
Luxus  der  griechisch-römischen  Privatbibliotheken,  der  zum  guten 
Ton  gehörte.  Die  Bibliothek  durfte  neben  der  Pinakothek  im  Hause 
eines  Vornehmen  oder  Vornehm-sein-woUenden  nicht  fehlen.  Bau- 
regeln bildeten  sich  dafür  aus  und  die  Bemerkungen  des  Yitruvius 
[VII,  pr.  4]  geben  ein  Bild  dieser  antiken  Privatbibliothekseinrichtung 
nach  dem  Wohlanstande.  An  der  Morgenseite  des  Hauses  mußte  die 
Bücherei  liegen,  Oberlicht  sollte  sie  erhellen,  die  Verzierung  ihrer 
Wände,  beliebt  waren  Dekorationen  orientalischer  Ornamentik, 
lenkte  nicht  ab  von  den  Schränken,  in  denen,  geschützt  mit  purpur- 
farbigen Hüllen,  die  Rollen  lagen.  Büsten  der  Denker  und  Dichter 
sahen,  um  im  ciceronianischen  Pathos  weiterzureden,  auf  den  Be- 
sitzer dieser  Herrlichkeiten  herab,  den  tätigen  und  unterrichteten 
Mann,  dessen  besten  Freunde  die  Bücher  waren  und  dem  die  Bücher- 
sammlung ein  Ort  des  Genusses,  des  Selbstvergessens  und  Sinnens, 
ein  Gedankenheiligtum  schien.  Da  saß  der  antike  Bibliophile  in 
seinem  mit  Elfenbein  und  Gold  ausgelegten  Sessel,*  vor  sich  das 
Zedernkästchen,  das  gegen  Mottenfraß  die  Rolle  schützen  sollte, 
die  er  eben  entfaltet  hatte,  die  neueste  Erwerbung:  ein  altgriechi- 
sches Stück  bester  Erhaltung  oder  eine  Prachthandschrift.  So  kann 
man  sich  den  römischen  Sammler  vorstellen,  wenn  man  nicht  einigen 
Kontrast  zwischen  der  Raumkunst  Vitruvs  und  der  Wortkunst 
Ciceros  spüren  möchte,  Bibliophilie  und  Bibliothekenluxus  nicht 
ohne  weiteres  verwechseln  will. 

Die  Beschaffung  der  Bücher  durch  Kauf  und  Tausch  war  für 
den  römischen  wählerischen  Büchersammler  nicht  allzu  leicht.  Be- 
sonders gute  Abschriften  lateinischer  Werke  ließen  sich  nur  schwer 
auftreiben.  Im  Briefwechsel  Ciceros  wird  das  des  öfteren  beklagt. 
Er  rügt,  in  einem  Schreiben  an  seinen  Bruder  Quintus,  die  fehler- 
haften und  schlechten  Ausgaben  gerade  der  lateinischen  Bücher; 
er  ermahnt  seinen  Freund  PomponiusAtticus,  der  selbst  Bücher- 
sammler war  und  ein  großes  buchhändlerisches  Unternehmen,  eine 
Schreiberfabrik,  also  eine  Verlagsanstalt,  hatte,  bei  der  Übersendung 
einer  ihm  geschenkten  Bibliothek  ja  die  lateinischen  Rollen  gut  zu 
schützen.    Die  begehrten  alten  Stücke,  die  echten  Abschriften  ver- 


20 


*  Abb.  2—4 


ALTERTUM 

lockten  den  Altbuchhandel  zu  Fälschungen.  Liebhaberpreise  wurden 
bezahlt,  prachtentfaltende  Prunkstücke  schmückten  die  Schränke 
der  reichen  Sammler,  in  denen  die  beiden  griechisch-römischen  Buch- 
formen, die  Rolle  und  der  Codex,  nach  und  nach  nebeneinander 
ihren  Platz  suchten.  Da  die  Aufnahme  der  griechischen  Literatur 
die  römische  ausgestaltete,  das  griechische  Schrifttum  auch  weiter- 
hin im  höheren  römischen  Studiengange  vorherrschend  für  die  all- 
gemeinwissenschaftliche Bildung  blieb,  waren  die  griechischen 
Bücher,  in  den  Privatbibliotheken  wenigstens,  vorherrschend.  Hierin 
machte  sich  auch  der  Einfluß  geltend,  den  von  Anfang  an  die  nach 
Rom  gebrachten  griechischen  Büchersammlungen  auf  den  Buch- 
handel übten,  in  dem  die  Abschriften  griechischer  Werke  sehr  viel 
zahlreicher  waren.  In  der  Aufstellung  unterschied  man  jedoch  die 
griechische  von  der  lateinischen  Sammlung.  Wer  etwas  auf  sich 
hielt,  mußte  daher  zweierlei  Privatbibliotheken  haben,  weshalb  der 
Protz  Trimalchio  [in  des  Petronius  Romansatire]  auf  seine  griechische 
und  lateinische  Bücherei  verweist.  Und  da  jedes  Landhaus,  jeder 
Palast  mit  seiner  eigenen  Privatbibliothek  ausgestattet  sein  sollte, 
besaßen  die  Bibliophilen,  die  sich  einen  solchen  Aufwand  gestatten 
konnten  wie  Cicero  oder  der  Dichter  Silius  Italiens  [nach  dem 
Berichte  des  jüngeren  Plinius]  mehrere  Privatbibliotheken. 

Bibliophilennamen  und  Privatbibliotheken  werden  seit  der 
Ciceronianischen  Zeit  von  den  Schriftstellern  nicht  selten  erwähnt. 
Der  äußere  Umfang  und  der  innere  Wert  mancher  dieser  Bücher- 
sammlungen ist  nicht  gering  gewesen  —  die  des  älteren  Serenus 
Sammonicus  [um  200  n.  Chr.],  die  sein  Sohn  dem  jüngeren  Gor- 
dianus  vermachte,  zählte  62000  Rollen,  die  des  Grammatikers 
Epaphroditus  [unter  Nero  und  den  Flaviern]  30000.  Mehr  noch 
aber  als  dergleichen  Erwähnungen,  deren  Kürze  bei  dem  Mangel 
weiterer  Nachrichten  nach  zwei  Jahrtausenden  nicht  mehr  allzu  viel 
besagt,  verraten  die  Schilderungen  und  Spottreden,  die  sich  gegen 
das  Bibliophilenzerrbild,  gegen  den  Bibliomanen,  wenden,  gegen  den 
Bildung  und  Gelehrsamkeit  heuchelnden  Emporkömmling,  der  kaum 
die  Büchertitel  lesen  kann;  gegen  den  von  der  Büchersammelwut 
ergriffenen,  dem  die  Büchertitelnahrung  die  köstlichste  Speise  ist, 

21 


ALTERTUM 

für  die  er  seinen  Geist  und  sein  Vermögen  verschwendet.  Lucius 
AnnaeusSeneca,  der  sein  Leben  nach  seinem  Wahlspruche :  „Otiura 
sine  litteris  mors  est  et  hominis  vivi  sepultura''  lebte,  hat,  selbst  ein 
Bibliophile  in  der  Gesinnung  des  Philosophen,  die  Bibliophilie  als 
die  echte  Freude  am  guten  und  schönen  Buch  immer  von  neuem  in 
seinen  Schriften  gepriesen.  Er,  der  mit  seinen  Büchern  die  meisten 
Gespräche  führte,  der  erkannte,  daß  die  Bücher  des  Weisen  Lebens- 
zeit weithin  dehnen,  pries  den  belebenden  Umgang  mit  den  Büchern : 
,, Willst  du  täglich  den  Zeno,  den  Pythagoras,  den  Demokritus  und 
die  übrigen  Meister  des  edlen  Wissens  oder  den  Aristoteles  mit  Theo- 
phrastus  zu  deinen  vertrautesten  Hausfreunden  haben  —  da  wird 
keiner  von  ihnen  für  dich  nicht  Zeit  haben ;  keiner  den  Besucher  nicht 
glücklicher  und  ihm  inniger  zugetan  entlassen;  keiner  irgendwen 
mit  leeren  Händen  von  sich  weggehen  lassen.  Bei  Nacht  wie  bei 
Tage  gestatten  sie  jedem  Sterblichen  den  Zutritt  .  .  .  Welches  Glück 
erwartet  den,  der  sich  in  ihre  Klientel  begab  . . .  Sie  zieht  er  tagtäglich 
über  sich  zurate,  von  ihnen  hört  er  die  Wahrheit  ohne  Beschämung 
und  Lob,  ohne  Schmeichelei;  ihnen  ähnlich  zu  werden  bildet  er  sich. 
Seneca  warnte  auch  den  unverständigen  Leser:  ,, Etwas  anderes  ist 
Auswendigwissen,  etwas  anderes  ist  Wissen";  wie  er  dem  leicht- 
herzigen riet:  „Begrenzung  des  Lesens  nützt,  Abwechslung  vergnügt 
nur"  und  mit  häufigen  heftigen  Worten  den  Bücherprunk  derjenigen 
tadelte,  die  allein  Sammler  waren,  die  inmitten  so  vieler  tausend 
Bücher  gähnten,  denen  die  Einbände  und  die  Titel  an  ihren  Büchern 
am  meisten  gefielen.  „Wozu  unzählige  Bücher  und  Büchersammlun- 
gen, deren  Besitzer  in  seinem  ganzen  Leben  nicht  einmal  ihren  Kata- 
log durchliest?  .  .  .  Das  ist  ein  wissenschaftlicher  Luxus  und  nicht 
einmal  ein  wissenschaftlicher,  da  er  die  Bücherei  nicht  aus  Liebe  zur 
Wissenschaft,  sondern  um  ein  Schaustück  zu  haben  zusammen- 
gebracht hat  .  .  .  Bücher  sind  eine  Auszierung  der  Speisesäle  jener 
Vielen,  die  nicht  einmal  soviel  wissen  wie  manche  ihrer  Sklaven." 
Ohne  die  Gravität  des  Moralphilosophen,  der  dem  Buche  nicht  allein 
im  Bücherfache,  sondern  auch  in  der  Lebensweisheit  den  richtigen 
Platz  auszufinden  suchte,  gab  hundert  Jahre  später  der  syrische 
Literat  Lukianos  [f  180  n.  Chr.]  der  Bibliomanenfigur  des  Bücher- 

22 


ALTERTUM 

protzen  ihre  klassische  Typisierung.  Nicht  ohne  die  Gehässigkeit 
eines  persönliches  Streites,  immerhin  aber  in  einer  Verallgemeine- 
rung,  die  in  der  satirisch  verzerrten  Gestalt  des  Büchernarren  die 
Gewohnheiten  griechischer  und  römischer  Büchersammler  der  Spät- 
zeit treffend  schildert;  im  Grunde  alles  das  vorausnehmend,  was 
nach  ihm  über  die  Büchersucht,  die  ohne  Sinn  und  Verstand  den 
Bücherreichtum  mit  dem  Buchreichtum  verwechselt,  wiederholt  wor- 
den ist.  Mit  den  Kunstgriffen  ihrer  Rhetorik,  bald  Beispiel  auf  Bei- 
spiel häufend,  bald  die  Methode  des  Sokrates  probierend,  ist  Lucians 
Spottschrift  auf  den  bildungslosen  Büchernarren  trotzdem  nicht 
eine  zufällige  Zusammenstellung  von  Anekdoten  und  Invektiven. 
Dadurch  gerade  beweist  sie  den  amusischen  Bibliomanen  nicht  als 
die  Einzelerscheinung  eines  Mannes,  dem  das  Bedürfnis,  Bücher  zu 
haben,  zu  krankhaftem  oder  verbrecherischem  Verlangen  wurde  — 
eine  psychologische  Vertiefung,  in  der  der  Bibliomanentyp  erst  sehr 
viel  später  gesehen  wurde  —  sondern  als  eine  allgemeinere,  gewöhn- 
lichere Gestalt  des  gesellschaftlichen  Lebens.  Die  Bücherprahlerei, 
der  Ehrgeiz  der  Gelehrsamkeit,  die  den  Bibliomanen  Lucians  trei- 
ben, finden  sich  auch  bei  anderen  Liebhabern  von  Sammlungen 
und  von  schönen  Künsten.  Er  ist  das  Kehrbild  der  Bibliophilen,  die 
sich  auf  die  Bücher  und  die  Buchpflege  verstehen,  die,  wenn  sie  selbst 
nicht  ausübend  Wissenschaften  treiben  können,  deshalb  doch  nicht 
auf  die  Bücherlust  verzichten  wollen,  die  vielmehr  in  edler  Selbst- 
beschränkung aus  ihr  zu  Förderern  des  geistigen  Lebens  werden. 
Gerade  in  solcher  Auffassung  der  sozialen  Mißgestalt  des  Biblio- 
manen Lucians  liegt  nicht  nur  eine  Kennzeichnung  der  Zeit,  deren 
Kind  dieser  Schriftsteller  war  und  in  der  das  antik-klassische  Ideal 
des  buchfreudigen,  weil  weisheitsfrohen  Schriftgelehrten,  des  Biblio- 
Philosophen,  sich  schon  in  das  des  erfolgreichen  Sophisten  gewandelt 
hatte,  sondern  auch  eine  Erklärung  der  Ausartungen,  in  denen  die 
Bibliophilie  von  Griechenland  und  Rom  selbst  sich  zu  einem  leeren 
Überfluß  wurde,  aufhörte,  Kulturelement  und  -träger  zu  bleiben, 
nicht  mehr  als  Mode  einer  verkümmernden  Zivilisation  war.  Auch 
im  Buchwesen  mußte  sich  ein  ethischer  Umschwung  vollziehen,  der 
aus  einer  erneuerten  Verinnerlichung  des  Wissens  hervorging. 

23 


MITTELALTER 

Wie  es  scheint,  ist  die  Trajansbibliothek  die  letzte  große  Biblio- 
theksgründung der  Kaiserzeit  in  Rom  gewesen.  [Schon  in  Byzanz 
entstand  Julians  Kaiserliche  Sammlung.]  Der  bedeutendste  Ge- 
schichtsschreiber der  späteren  Kaiserzeit,  Ammianus  Marcellinus, 
beklagt  in  der  zweiten  Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts,  daß  die 
Bibliotheken  Roms  wie  die  Gräber  geschlossen  seien.  Sie  werden 
damals  größtenteils  kaum  noch  dem  Bedürfnis  einer  öffentlichen 
Benutzung  gedient  haben.  Das  Christentum  wurde  über  das  Hei- 
dentum im  Kampf  der  Weltanschauungen  Sieger  und  seine  Buch- 
pflegestätten, die  Klosterbibliotheken,  übernahmen  und  verbreiteten 
die  Werke  der  antiken  Literatur.  Freilich,  jene  hatten  für  deren 
Geistesschätze  keine  alexandrinische  Sorgfalt  mehr,  nicht  mehr  die 
Mühewaltung  eines  alles  bewahrenden  und  ordnenden  antiken 
Bibliothekars.  Denn  ihnen  erschienen  sie  neben  der  ekklesiastischen 
Literatur  geringwertig.  Die  Bibel,  ein  einziges  Buch,  war  der  Grund- 
stein einer  anderen  Literatur  und  ihrer  neuen  Sammlungen  gewor- 
den. Der  letzte  Römer  Magnus  Aurelius  Cassiodorius  Se- 
nator [der  chronologisch  schon  dem  Mittelalter  angehörte,  u.  480 — 
u.  575],  hat  die  Entscheidung  der  Weltgeschichte  anerkannt  und  er- 
kannt. Als  er,  um  die  Mitte  des  sechsten  Jahrhunderts,  fUehend 
vor  dem  Leben,  auf  seinen  Besitzungen  in  Calabrien,  das  Kloster 
Vivarium  gründete,  schrieb  er  für  die  Mönche  eine  Anleitung,  das 
Schrifttum  zu  verstehen  und  zu  verwenden,  die  letzte  antike  Lite- 
raturgeschichte: Institutiones  divinarum  et  saecularium  lectionum. 
Bereits  ihr  Titel  bezeugt  es,  daß  die  Bibel  und  die  von  dieser  aus- 
gehende theologische  Bildung  auch  Herrscherin  aller  Bücher  ge 
worden  ist.  Die  Absicht  seiner  Schrift,  die  das  Vorwort  erklärt, 
war  es  gewesen,  eine  abendländische  Hochschule,  die  zu  errichten 
ihn  der  Krieg  verhindert  hatte,  vorerst  wenigstens  zu  ersetzen.  Was 
er,  der  noch  dem  griechisch-römischen  Altertum  angehörte,  dabei 
an  außerhalb  der  Bibel  liegender  Bildung  zugestand,  lehrt  der  zweite 
Teil  dieser  seiner  Unterweisungen  in  den  kirchlichen  und  weltlichen 
Schriften. 

Ausgehend  von  der  Geltung  der  , Heiligen  Schrift'  sind  Bücher- 
sammlungen der  Christen  schon  in  der  Frühzeit  ihrer  Geschichte, 

24 


MITTELALTER 

die  noch  der  römischen  zugehörte,  entstanden.  Waren  doch 
die  Schriften  des  Alten  Testamentes  bereits  eine  Bibliothek  für 
sich.  Dazu  kam,  daß  die  Christen,  hierin  den  Juden  folgend,  eine 
Verpflichtung  anerkannten,  diese  Schriften  allen  Gläubigen  zu- 
gänglich zu  machen.  Die  Erfüllung  der  Forderung  gebot  also  den 
Gemeinden  eine  Büchersammlung  für  ihren  Kirchendienst.  „Seit 
dem  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  traten  die  Bücher  des  Neuen 
Testamentes  hinzu  und  wir  dürfen  als  sicher  annehmen,  daß  im 
Laufe  des  dritten  Jahrhunderts  so  gut  wie  sämtliche  Bischofs- 
kirchen in  den  weiten  Grenzen  des  römischen  Reiches  die  mehr  als 
sechzig  heiligen  Schriften  beider  Testamente  vollständig  oder  fast 
vollständig  besaßen.  Zu  ihnen  kamen  in  der  Mehrzahl  der  Gemeinden 
noch  die  sogenannten  alttestamentlichen  Apokryphen  und  in  man- 
chen auch  neutestamentliche  Apokryphen,  ferner  aber  auch  in  den 
meisten  noch  diese  oder  jene  wertvolle  Schrift  oder  Briefsammlung, 
so  daß  die  Anzahl  der  Bücher  auch  in  der  kleinsten  Bischofskirche 
mindestens  auf  gegen  hundert  veranschlagt  werden  muß."  [A.  v. 
Harnack.]  Allmählich  reihten  sich  die  Bücher  des  Kirchendienstes 
und  der  Kirchenlehre  an.  Zur  Bibel  kamen  ihre  Erläuterungen  durch 
die  Kirchenväter,  zu  den  Kommentaren  deren  Umarbeitungen  für 
Unterrichtszwecke.  Aus  der  „bibliotheca  sacra"  entstand  die 
bibliotheca  christiana  im  weiteren  Wortsinne.  Wo  eine  antike 
Bibliothek  —  so  diejenige  des  Claudian  [Sidon.  Apolloniar. 
epist.  4,  IL]  —  die  christlichen  Schriften  aufnahm,  ersetzte  die 
neue  Dreiteilung  in  die  Bibliotheca  Romana,  Attica,  Christiana 
die  bis  dahin  übliche  Zweiteilung;  auch  äußerlich  bekundend,  daß, 
im  Begriff,  Europas  geistige  Herrschaft  zu  gewinnen,  das  Buch  der 
Bücher  die  Literatur  selbst  sei.  Allerdings,  im  Gegensatz  zu  den 
bisher  gepflegten  Nationalliteraturen,  eine  Universalliteratur,  die 
sich  über  die  Sprachgrenzen  hinweg  an  alle  erdbewohnenden  Völker 
wenden  wollte.  Denn  nicht  in  ihren  Ursprachen  vollzog  die  Bibel 
die  Eroberung  Europas  in  dem  Mittelalter  genannten  Zeiträume. 
Mit  der  Autorität  der  auf  sie  das  Dogma  gründenden  Kirche,  deren 
amtliche  Sprache  das  Lateinische  blieb,  übte  sie  ihre  Gewalt  aus. 
Nach  des  antiken  Rom  politischen  Untergang  noch  viele  Jahrhunderte 

25 


MITTELALTER 

blieb  das  mehr  und  mehr  zu  einer  internationalen  Verkehrssprache 
der  Bildung  und  Gelehrsamkeit  gewordene  Lateinische  der  Schrift- 
tumsträger und  -wahrer  des  Abendlandes,  als  solcher  auch  dem 
abendländischen  Buchwesen  maßgebend.  [Eine  klassische,  tote 
Sprache  wurde  es  erst  durch  und  für  den  Humanismus.]  Die  natio- 
nalen Strömungen,  die  langsam  neue  Schrifttumsbildungen  in  den 
verschiedenen  Volkssprachen  hervorbrachten,  ließen  diese  zunächst 
als  geduldete  Inseln  in  dem  allumfassenden  Bereiche  der  geistlichen 
Gelehrsamkeit,  die  dadurch  mit  der  weltlichen  Gelehrsamkeit  eins 
wurde,  daß  sie  alles  in  der  göttlichen  Lehre  wurzeln  ließ  und  überall 
auf  sie  zurückführte.  Und  wie  die  Bibel  als  ,lex',  als  Richtschnur 
des  Lebens,  in  der  lateinischen  Vulgataversion  die  Buchverkörperung 
der  geistlichen  Macht  wurde,  wurde  das  Corpus  juris,  das  Rechts- 
buch der  Römer,  diejenige  der  weltlichen.  Die  allmähliche  Emanzi- 
pation von  diesen  beiden  Büchern  in  ihrer  Auffassung  durch  das 
, Mittelalter'  äußerte  sich  in  dem  Ideenniederschlag  langsamer 
Literaturbewegungen,  der  nach  den  verschiedensten  Richtungen 
ausstrahlte.  Ihn  benennen  literarhistorische  Bezeichnungen,  die 
mehr  einzelne  Gegensätze  hervorheben,  als  scharfe  Trennungen  von 
Weltanschauungen,  wie  sie  diejenige  der  antiken  von  der  christlichen 
Literatur  bedeutete,  vornehmen.  Scholastik,  Humanismus,  Refor- 
mation und  sonstige  Epochensysteme  sind  letzten  Endes  geschichts- 
wissenschaftliche Schlagworte,  um  Änderungen  anerkannter  Denk- 
richtungen chronologisch  zu  fixieren,  an  die  die  Anpassungen  des 
Schrifttums  und  der  Wissenschaften  sich  nicht  gleichmäßig  schnell 
vollzogen.  Mit  der  Aufnahme  der  Bibel  in  den  Grundstein  der 
abendländischen  Büchersammlungen  ist  deren  Entwicklungs- 
geschichte auf  lange  Zeit  hinaus  festgelegt:  sie  ist  der  Magnetstein, 
der  anziehend  und  abstoßend  die  neue  Bücherwelt  ordnet,  von  der 
die  Bibliotheken  zeugen. 

Den  Bemühungen  um  die  Aufstellung  einer  bibliotheca  sacra 
verbanden  sich,  ähnlich  wie  einst  in  Alexandreia,  solche  um  die  Be- 
schaffung der  besten  Texte.  Ebenso  wie  die  antiken  Philologen  unter- 
schieden die  christlichen  Theologen  schon  am  Ende  des  zweiten 
Jahrhunderts    zwischen    alten    und    neuen,    guten    und    schlechten 

26 


MITTELALTER 

(Bibel)handschriften.  Das  setzte  deren  umfangreichere  Verbreitung 
und  Vervielfältigung  voraus.  Nicht  allein  die  Anstalten  und  Ein- 
richtungen der  Kirche  besaßen  die  gelesensten  Schriften  mehrfach, 
auch  die  Privatleute  verfügten  vielfach  über  eigene  Exemplare. 
[Wobei  daran  zu  erinnern  ist,  daß  die  abgeschlossene  Bandform  der 
Bibel,  das  dickleibige  Buch  in  seiner  seit  dem  Mittelalter  selbst- 
verständlichen Vollständigkeit,  in  der  christlichen  Frühzeit  noch 
dem  literarischen  Bewußtsein,  nicht  allein  der  äußeren  Form  der 
Schriftrollen,  fremd  war.]  Inwieweit  in  den  Hauptstädten  die  Haupt- 
werke der  christlichen  Literatur  in  eigenen,  den  Kirchenanstalten 
eingegliederten,  großen  öffentlichen  Sammlungen  zusammengefaßt 
waren,  läßt  sich  im  allgemeinen  nur  durch  Rückschlüsse  auf  den 
Büchervorrat,  der  den  dort  lebenden  Kirchenvätern  zur  Verfügung 
gestanden  haben  muß,  mutmaßen.  In  Alexandreia  ist  eine  Bibliothek 
mit  der  christlichen  Katechetenschule  verbunden  gewesen,  die,  dem 
Muster  der  von  der  alexandrinischen  Judenschaft  unterhaltenen 
hohen  Schule  nachgebildet,  bereits  in  der  Zeit  des  Commodus  einen 
beträchtlichen  Umfang  hatte.  Allerdings  beschränkte  sie  sich  nicht 
auf  die  engere  christliche  Literatur,  sondern  suchte  derart  auch  die 
antike  ihr  beizufügen  und  unterzuordnen,  daß  sie  diesen  profanen 
Schriften  den  Charakter  von  Hilfswerken  der  Schrifterklärung  und 
Nutzung  zusprach,  sie  also  in  ein  Bibliothekssystem  einbezog,  das 
das  späterhin  herrschende  werden  sollte.  Die  Einschätzung  des 
Wertes  dieser  alexandrinischen  christlichen  Bibliotheksanlage  zeigte 
Konstantins  des  Großen  Fürsorge,  der  die  älteren  Papyrusrollen 
auf  Pergament  umschreiben  ließ.  [Eusebius,  vita  Constantini  4,  36.] 
Origines,  der  hervorragende  Bibeltextkritiker  [Eusebius ,  bist, 
eccl.  V,  28],  in  dessen  Persönlichkeit  sich  die  alexandrinische 
Philologietradition  mit  der  christlichen  verband,  hat,  als  er  von 
seinem  neidischen  Bischof  aus  Alexandreia  ausgewiesen  wurde,  eine 
nicht  geringe  Büchermenge  nach  seinem  neuen  Wohnort  Cäsarea, 
der  Hauptstadt  Palästinas,  mitgenommen  und  sie  hier  reichlich 
vermehrt.  Nach  seinem  Tode  [254]  bildete  diese  Bibliothek  mit  der 
großen  Rezension  des  Alten  Testamentes,  der  Hexapla,  und  den 
eigenen  Schriften  des  Origines,  die  Pamphilus  [t309]  abschrieb,  um 

27 


MITT  EL ALTER 

sie  seiner  eigenen,  der  Kirche  von  Cäsarea  vermachten  Bücher- 
sammlung  von  30000  Rollen  [Isidor,  Orig.  VI,  6,  1]  einzuverleiben, 
die  christliche  Zentralbibliothek.  Das  Ansehen,  das  Pamphilus  als 
Hanschriftenherausgeber,  insbesondere  bei  der  Überwachung  von 
Bibelhandschriften,  genoß,  übertrug  sich  auch  auf  die  von  ihm  be- 
sessenen Bücher.  Der  Bischof  Eusebius  von  Cäsarea,  auch  dank 
der  Bücherschätze  dieser  Stadt  zum  Vater  der  Kirchengeschichte 
geworden,  hatte  den  Katalog  der  Pamphilus-Privatbibliothek  [in 
dessen  verlorengegangener  Lebensbeschreibung]  errichtet.  Acacius 
und  Euzoius  hatten  ihre  in  Verfall  geratenen  Bestände  durch  Auf- 
frischungsarbeiten wiederhergestellt  [Hironymus,  Epist.  141],  bis  ins 
sechste  Jahrhundert  blieb  sie  nachweisbar.  Die  Erinnerung  an  sie 
und  die  ihr  vorhergehende  Originessammlung  bleibt  auch  ein  Gedenken 
an  die  Bibliophilie  der  frühen  Christenzeit.  Augustinus,  der 
ebenso  wie  Tertullian  zu  den  büchersammelnden  Kirchenvätern 
gehörte,  hat  deren  Wirkungskreis  mit  seinen  Worten:  ,Lectio  tunc 
utilis  est,  cum  facimus  ea,  quae  legimus*  und  ,Scribendo  multa 
discimus\  umschrieben.  Das  Buch  als  der  Heilquell  der  Seele,  als 
der  Wegbereiter  sittlicher  Lebensführung,  die  von  dieser  in  jene 
Welt  leiten  sollte,  verkörperte  ihr  die  ethisch-religiösen  Werte.  Ein 
Gebot  des  Glaubens,  ein  Gesetz  seiner  Moral  war  es,  alle  Buchpflege 
in  der  Verbreitung  des  Buches  gipfeln  zu  lassen,  das  gegen  das 
Heidentum  die  Waffe  war.  Die  Bibel  zu  verbreiten  und  zu  verviel- 
fältigen brachte  Gotteslohn,  war  ein  von  der  Kirche  anerkanntes 
gutes  Werk.  Das  ist  die  Anschauung,  auf  die  sich  bald  auch  die 
Klosterschreibstuben  gründen  sollten.  Das  Lernen  durch  Schreiben 
aber  wurde  zum  Leseverfahren  derjenigen  Männer,  die  die  ersten 
modernen  BibUophilen  heißen  müssen,  weil  ihnen  die  Entdeckung 
der  durch  ein  Buch  verdrängten  Bücher  wieder  gelang,  der  Huma- 
nisten. [Sie  suchten  das  antike  Buchland,  dessen  verschüttete  Zu- 
gangsstraßen sie  ausgruben,  so  wiederzusehen,  wie  es  die  letzten 
antiken  Bibliophilen  verlassen  hatten,  deren  Bücherreihen  noch 
nicht  im  Schatten  eines  einzigen,  alle  anderen  überragenden  Buches 
verschwanden.  Daß  jedoch  die  Humanisten  bis  in  diese  ferne  und 
fremde  Vergangenheit  vordringen  konnten,  dafür  hatten  sie  und  hat 

28 


MITTELALTER 

die  Nachwelt  denen  Dank  zu  sagen,  die  in  ihrer  Art  die  Erhalter 
nicht  des  griechisch-römischen  Buches  selbst,  wohl  aber  des  griechisch- 
römischen Schrifttums  gewesen  sind ;  in  jener  Auflösungszeit  des  römi- 
schen Reiches,  die  keine  Ubergangsepoche,  sondern  eine  Umgestal- 
tung der  antiken  Zivilisation  war.  Dabei  ist  die  Überlieferung  des 
alten  Bücherschatzes  an  das  Mittelalter  obschon  nie  ganz  unter- 
brochen, doch  oft  gehemmt  und  gelockert  worden;  nicht  zum  wenig- 
sten auch  deshalb,  weil  sie  mit  einer  gänzlichen  Umgestaltung  der 
antiken  Bibliotechnik  zeitlich  zusammenfiel. 

Das  Buchwesen  des  Mittelalters*  wurde  durch  die  Ausbreitung  der 
neuen  Buchform  des  Pergamentkodex  zu  einer  Übergangszeit,  die  eine 
nicht  zu  unterschätzende  Zersplitterung  der  Schrifttumspflege  ver- 
anlaßte.  Auch  wenn  man  die  Nebeneinander- Handhabung  der  beiden 
Buchformen,  der  alten  und  der  neuen,  mit  ihren  buchgewerbhchen 
Hemmungen  nicht  überschätzen  möchte  und  in  der  Übertragung  der 
Schrifttumsmassen  von  den  Papyrusrollen  auf  die  Pergament- 
codices, die  doch  mancherlei  Änderungen  auch  der  inneren  Buch- 
gestaltung hervorriefen,  einen  lediglich  mechanischen  Prozeß  sehen 
will,  so  darf  trotzdem  der  daraus  auf  die  Bücherverbreitung 
und  Büchervervielfältigung  sich  ergebende  Einfluß  nicht  übersehen 
werden.  Die  Betriebsformen  des  Buchhandels  und  der  Buchher- 
stellung im  alten  Rom  hatten  das  Buch  notwendigerweise  verein- 
heitlichen müssen,  damit  es  allen  seinen  Käufern  und  Lesern  ver- 
ständlich blieb.  Bildungsgemeinschaft  war  dafür  eine  notwendige 
Voraussetzung  gewesen.  Mit  deren  Fortfall,  mit  dem  gleichzeitigen 
Verschwinden  der  billigen  Bücher,  denn  den  Papyrus  hatte  ja  das 
kostspielige  Pergament  verdrängt,  die  Buchwerkstätten  mit  Sklaven- 
arbeit hatten  aufgehört,  mußte  eine  Stockung  in  der  Bücherher- 
stellung und  -Verbreitung  eintreten,  die  um  so  stärker  werden  sollte, 
je  mehr  das  Bedürfnis  der  Buchverwendung  und  mit  ihm  das  Buch- 
verständnis schwand,  je  weniger  die  Kunstfertigkeit  des  Lesens 
und  Schreibens  im  Alltagsleben  vorhanden  war.  fSie  blieb  mit  samt 
dem  Buche  nun  ein  Bildungsvorrecht,  das  die  kirchliche  Macht  aus- 
zeichntee,  die  sich  seiner  in  ihrem  Sinne  bediente.  Die  Einschrän- 
kung  auf   die    Gebrauchsbücher   des    Kirchendienstes   konnten   im 

•  Abb.  5— lo  29 


MITTELALTER 

niederen  Klerus,  die  Entfernung  von  den  Büchern  auch  in  den 
Kreisen  der  vornehmen  und  wohlhabenden  Laien  nicht  das  Buch 
als  das  Element  der  Literatur  erkennen  lassen.  Man  hatte  wohl 
Bücher  und  man  gebrauchte  sie  auch,  um  in  ihnen  zu  lesen  oder  sich 
aus  ihnen  vorlesen  zu  lassen.  Aber  selbst  Ansammlungen  von 
Büchern  blieben  solange  dem  Zufalle  anheimgestellt,  bis  das  Buch 
in  den  Klöstern  wieder  in  den  geregelten  Kreislauf  einer  wissenschaft- 
lichen Tätigkeit  einbezogen  wurde.  Die  Eigenbetriebe  der  Klöster 
hatten  indessen  nur  geringe  gemeinwirtschaftliche  Rücksichten, 
ihre  Schreibstuben  arbeiteten  für  die  Benutzung  der  Bücher  in  den 
einzelnen  Klöstern.  Derart  verfiel  zunächst  nicht  allein  die  Buch- 
kunst der  Schönschriftbücher,  an  deren  Stelle  die  lediglich  dem 
besonderen  Gebrauchsweck  dienenden  Eilschriftbücher  traten;  es  ent- 
standen dazu  rasch  verschiedene  Schriftprovinzen,  denen  der  sie 
einende,  in  dem  Bewußtsein  einer  gemeinsamen  historisch-natio- 
nalen Tradition  wurzelnde  Zusammenhang  fehlte.  Eine  Buch- 
verschönerung, eng  verbunden  mit  erneuerter  Schriftverfeinerung, 
weil  deutliche  Lesbarkeit  wichtig  ist  für  die  Herstellung  richtiger 
Texte,  kam  um  das  erste  Jahrtausend  zu  einer  erfolgreichen  Aus- 
gestaltung des  neuen  Buches,  auf  dessen  europäische  Entwicklung 
in  dieser  Hinsicht  der  Osten  entscheidenden  Einfluß  übte.  Der 
beispielgebend  von  den  Iren  eingeführte  Buchschmuck  der  Zier- 
buchstaben verdankte  manches  den  orientalischen  Anregungen,  er 
bestimmte  auch  die  festländische,  der  insularen  folgende,  Übung 
um  so  mehr,  als  die  Verschmelzung  der  germanischen  und  der  in- 
sularen Buchkunst  in  einer  inneren  Verwandtschaft  Rückhalt  fand. 
Aus  dem  Osten  kam  dann  der  neue  Beschreibestoff,  das  Papier,  im 
zwölften  und  dreizehnten  Jahrhundert  nach  Byzanz,  Spanien, 
Frankreich,  Italien,  Deutschland.  Mit  der  Anpassung  des  Schreibe- 
verfahrens und  der  Schrift  an  ihn  begann  die  Buchverbilligung  und 
damit  eine  Erleichterung  der  Buchverbreitung.  Das  alles  wirkte 
auf  die  Buchgestaltung  und  die  Buchherstellungsverfahren  zurück, 
das  neue  Buch  entstand  in  seinen  endgültigen  Formen.  Noch  einmal, 
am  Ende  des  fünfzehnten  Jahrhunderts,  bekam  es  aus  dem  Morgen- 
lande die  Mittel  zu  seiner  Vollendung,  als  von  dort  her,  über  Byzanz, 

30 


MITTELALTER 

die  Levante  und  Spanien,  die  Vergoldungszierverfahren  und  die 
Ziegenleder  für  den  Bucheinband  zur  Einführung  gelangten,  die 
dessen  Erleichterung  und  Verfeinerung  ermöglichten.  Mit  dem  An- 
bruch einer  neuen  Zeit  um  die  Wende  des  zwölften  und  dreizehnten 
Jahrhunderts,  in  der  sich  das  politische  Staatengefüge  umgestaltete, 
die  Bildung  sich  laisierte,  die  Universitätsgründungen  den  Wissen- 
schaften und  mit  ihnen  dem  Buchwesen  neue  Sammelstellen  schufen, 
die  Macht  der  nationalen  Strömungen  im  geistigen  Leben  anwuchs, 
hatte  sich  das  ästhetische  Gefühl,  dem  seelischen  Stimmungsum- 
schwung entsprechend,  geändert.  Ein  Ausdruck  dieser  Bewegungen 
wurde  das  Buch  der  Gotik,  deren  Fortschritt  gewaltsam  von  der 
neuen  Anschauung  der  Antike,  die  im  vierzehnten  und  fünfzehnten 
Jahrhundert  aufkam,  insofern  unterbrochen  wurde,  als  nun  die 
Altertumsmuster  den  Gegenwartsschöpfungen  vorgezogen  wurden. 
Und  wenn  sich  die  Übernahme  der  Vorbilder  des  antiken  Buches 
für  das  moderne  auch  über  deren  Alter  getäuscht  hatte,  insofern 
irrte  sie  nicht,  als  antike  Traditionen  auch  in  den  erreichbar  gewesenen 
Vorlagen,  so  denen  der  karolingischen  Epoche,  weitergewirkt  hatten. 
Der  bewußt  in  den  Dienst  des  Persönlichkeitsstrebens  genommenen 
Buchhandschrift  kam  indessen  ein  rachses  Ende  durch  die  Erfin- 
dung Gutenbergs,  durch  den  Buchdruck,  das  Massenvervielfältigungs- 
verfahren, das  mit  geschäftlicher  Geschicklichkeit  beide  Beispiele 
in  ihrer  Art  weiterbildete,  das  gotische  und  das  humanistische  Buch. 
Die  Verbindung  zwischen  dem  ost-  und  dem  weströmischen  Reiche 
hatte  die  scharfe  Scheidung,  die  im  Abendlande  Altertum  und  Mittel- 
alter trennte,  im  Osten  sich  in  langsameren  Übergängen  vollziehen 
lassen.  Die  antike  Bildung  fand  in  Byzanz  festere  Stützpunkte 
ihrer  Traditionen  als  in  den  Ländern  des  Westens,  in  denen  eine 
Auseinandersetzung  mit  den  heidnischen  Überlieferungen  teilweise 
auch  darin  bestand,  daß  man  deren  führende  Sprache,  die  griechische, 
vergaß;  was  wiederum  die  Gegensätze  zum  orthodoxen  Orient  ver- 
tiefte, weil  schroffer  als  Landesgrenzen  Sprachengrenzen  die  sich 
nicht  mehr  verstehenden  Völker  schieden.  Die  Idee  einer  literari- 
schen war  mit  der  einer  politischen  Universitas  zugrunde  gegangen; 
in  welcher  Art  sie  nach  alexandrinischem  Beispiel  von  einer  großen 

31 


MITTELALTER 

Büchersammlung  in  Byzanz,  die  ihr  Mittelpunkt  hätte  sein  müssen, 
noch  aufrecht  erhalten  wurde,  lassen  die  darüber  erhaltenen  Nach- 
richten nicht  ermitteln.  Die  kaiserUchen  Sammlungen  in  Konstan- 
tinopel, die  von  Constantin  gegründet  waren,  sind  von  Flavius 
Claudius  Julianus  Apostata  [361—363]  vermehrt  worden.  Er,  der 
von  sich  bekannt  hat,  daß  ihn  seit  seinen  Knabenjahren  eine  wunder- 
same Begierde,  Bücher  zu  erwerben  und  zu  besitzen,  erfüllt  habe, 
er,  der  durch  das  Christentum  das  Heidentum  reformieren  wollte, 
der  , Romantiker  auf  dem  Throne  der  Cäsaren',  hat  sicherlich  nichts 
versäumt,  um  auch  durch  die  Buchpflege  eine  Waffe  im  Kampfe 
der  Meinungen,  vielleicht  nicht  einmal  mehr  der  Weltanschauungen, 
zu  gewinnen.  Aber  welch  einen  Abstand  von  den  Bemühungen 
eines  immerhin  kleinen  antiken  Fürstenhofes,  wie  dem  der  Ptolemäer, 
bezeichnet  es  doch,  wenn  ein  Edikt  von  Valens  [vom  Jahre  372, 
Codex  Theodosianus  14,  9,  2  und  nicht  mehr  vom  Codex  Justi- 
nianus  übernommen]  bestimmte,  daß  sieben  Antiquarii,  vier  für 
die  griechischen  und  drei  für  die  lateinischen  Handschriften  ange- 
stellt werden  sollten,  um  die  Bestände  der  Kaiserlichen  Bibliothek 
zu  ergänzen  und  wiederherzustellen.  Die  Mittel,  auch  die  geistigen 
Mittel,  reichten  nicht  mehr  aus,  um  das  Werk  von  Alexandreia  zu 
wiederholen.  Inwieweit  in  Byzanz  frühere  und  spätere  kaiserliche 
BibUotheken  miteinander  zusammenhingen,  wohin  deren  bei  der 
Eroberung  von  Konstantinopel  vorhanden  gewesene  Überreste  ge- 
langt sind,  ist  nicht  einmal  mit  Vermutungen  zu  sagen.  Und  ebenso 
sind  bis  auf  einige  wenige  Handschriften  und  Nachrichten  die  Spuren 
der  alten  byzantinischen  geistlichen  Bibliotheken,  der  des  Patriar- 
chats und  der  Mönchsklöster  verweht.  Konstantinopel,  Alexandreia, 
Jerusalem,  Athos,  Sinai  als  Vororte  der  griechischen  Kirche,  die 
Klöster  der  koptischen  Nationalkirche  in  Ägypten,  die  Basilianer- 
Klöster  in  Unteritalien  waren  an  Büchersammlungen  nicht  arm, 
um  die  sich  mancher  Mönch  als  Bibliophile  verdient  gemacht  haben 
wird  wie  jener  Scholarius,  der  [um  1100]  die  eigene  Bibliothek 
dem  Erlöserkloster  Bordonaro  bei  Messina  vermacht  hat.  Ein 
byzantinischer  Büchersammler  ist  es  vor  allen,  dessen  Nachlaß, 
teilweise  noch  in  den  großen  europäischen  Bibliotheken  erhalten, 

32 


MITTELALTER 

seinen  Nachruhm  wahrt:  Arethas,  der  [um  900]  Erzbischof  in 
Cäsarea,  der  Stadt  des  Origines  und  Pamphilus,  eine  außergewöhn- 
liche Sammlung  antiker  und  theologischer  Autoren  besaß,  der  an 
Bedeutung  nur  die  [im  zwölften  Jahrhundert  entstandene,  ähnlich 
zusammengesetzte]  des  Erzbischofs  von  Athen,  Michael  Ako- 
minates,  gleichgekommen  zu  sein  scheint.  Man  sollte  auch  den 
Klang  ihrer  Namen  nicht  überhören.  Denn  wenn  wir  von  dem 
atheniensischen  Buchfreunde  lesen,  er  habe  die  Werke  der  alten 
griechischen  Klassiker  abschreibend  seinen  Bücherschatz  vermehrt, 
erinnern  wir  uns  daran,  daß  ebenso  seine  Geistesverwandten  in 
Italien  verfuhren,  um  wieder  zum  alten  Rom  vorzudringen.  Was 
ihre  Wege  zum  gleichen  Ziele  trennte,  ist  nicht  der  Unterschied 
einiger  Jahrzehnte  gewesen,  sondern  die  geistige  innere  Auflösung 
des  byzantinischen  Staatswesens.  Die  hellenische  Wiedergeburt, 
die  der  Kampf  des  Attizismus  gegen  den  Asianismus  im  zweiten 
Jahrhundert  und  die  in  ihm  hervortretende  Führerpersönlichkeit 
des  Dio  Chrysostomos  zu  gewinnen  versucht  hatten,  gelang  nicht 
mehr.  Kein  Erinnerungswerk,  nur  ein  Rettungswerk  vollzogen  die 
Byzantiner,  die  jahrhundertelang  vor  dem  endgültigen  Türken- 
siege die  Bücherschätze  griechischer  Vergangenheit  zu  erhalten  sich 
bemühten. 

Der  Begründer  der  abendländischen  christlichen  Philologie,  als 
welchen  man  Cassiodorius  Senator  seiner  vermittelnden  Stellung 
zwischen  dem  alten  und  neuen  Schrifttum  wegen  ebenfalls  bezeichnen 
könnte,  hat  die  Anstalten,  die  im  Morgenlande,  in  Alexandreia  und 
anderen  ihrer  Hauptplätze  der  christlichen  Wissenschaft  dienten, 
jedenfalls  bei  seinen  Plänen  nicht  unberücksichtigt  gelassen.  Und 
die  Buchpflege  im  Kloster  Vivarium  bei  Scyllacium  in  Bruttium 
wurde  ein  Muster  für  das  Handschriftensammeln  und  Handschriften- 
sichten,  dem  sich  vor  allem  der  Benediktinerorden  widmete.  Es  be- 
gann ein  gelehrtes  Umschichten  der  Büchermassen  in  die  Klöster, 
die  neuen  Sammelstätten,  in  denen  die  antike  Literatur  ohne  Unter- 
brechung ihrer  Verbindung  von  dem  späten  Altertum  bis  zum  frühen 
Mittelalter  weiterlebte.  Der  einstigen  Hellenisierung  des  Morgen- 
landes entsprach  nun  die  Romanisierung  des  Abendlandes,  die  in 

BOGENG    8  33 


MITTELALTER 

ihrem  Verlaufe,  schon  vor  der  Völkerwanderung  begonnen,  als  ein 
nicht  leicht  zu  schildernder,  da  schwierig  in  seinen  Verzweigungen 
zu  übersehender  geschichtlicher  Vorgang  erscheint,  der  das  Geistes- 
leben von  Rom  und  Südwestgermanien  in  einen  unmittelbaren  Zu- 
sammenhang brachte.   Aber  Buchwesen  und  Schrifttum  hatten  hier- 
bei ihre  leitende  Stellung  immer  mehr  verloren,  die  Büchersamm- 
lungen, ihre  Festungen  [Claustrum  sine  armario  quasi  castrum  sine 
armamentario],    waren    allzuklein   und    allzuwenig  zahlreich.     Der 
Bestand  an  Büchern  in  den  kirchlichen  Schatzkammern  oder  den 
klösterlichen  Schreibstuben  darf  nicht  überall   und   ohne  weiteres 
einer  Büchersammlung  gleichgeachtet  werden.   Nicht  allein  die  kleine 
Bücherzahl,    die    fehlende    Ordnung,    der   mangelnde    Plan    wider- 
sprechen dem.    Auch  die  Bestimmung  dieser  Bücher  hatte  mit  der, 
einer  Büchersammlung  anzugehören,  häufig  nichts  zu  tun.    Bald 
dienten  sie  dem  Kirchendienst  und  blieben  unter  dessen  Kostbar- 
keiten  Wertanlagen,    bald    dem    Erwerb    durch    Handschriftenher- 
stellung.   Die  alten  Handschriften  waren  mit  den  neu  anzufertigen- 
den meist  im  Skriptorium  vereinigt.    Lediglich  die  großen  Klöster, 
die  reichen  Stifte  besaßen  Büchersammlungen,  die  als  solche  gelten 
konnten.     Nicht    nur    deshalb,    weil    ihnen  für  deren  kostspielige 
Unterhaltung  die  Mittel  zur  Verfügung  standen,  sondern  auch,  weil 
gerade  sie  den  Gebildeten  die  Gelegenheit  gelehrter  Studien  schufen. 
Darauf  deutet  schon  die  Entwicklung  des  Klosteramtes  eines  Ar- 
marius,  eines  Bücherverwalters,  von  der  Stellung  des  auch  die  Ab- 
schriftgüte und  -richtigkeit  beaufsichtigenden  Leiters  einer  Schreib- 
stube zu  einer  bibliothekarisch  selbständigen  Tätigkeit,  die  in  den 
Klosterregeln  umgrenzt  wurde.    Die  Beschränkungen  des  Kloster- 
zwanges gestatteten  indessen  keineswegs  überall  eine  freie  Hingabe 
an   die   Bücherlust.    Auch   das   Lesebedürfnis   war  meist   nicht  so 
stark,  daß  die  Benutzung  einer  Büchersammlung  deren  Betrieb  hätte 
beschleunigen   müssen.     Die    Regel   der   Schottenmönche   in   Wien 
bestimmte,  daß  bei  der  alljährlichen,  allgemeiner  üblichen  Bestands- 
prüfung der  Bücher  diejenigen  Mönche,  die  ein  neues  Buch  erhalten 
wollten,  vor  dem  Abte  eine  Prüfung  abzulegen  hatten,  ob  sie  das 
zurückgegebene    Buch    nutzbringend    studiert    hatten.      Bestanden 

34 


MITTEL ALTE  R 

sie    diese   Prüfung   nicht,    erhielten  sie  das  abgegebene  alte  Buch 
wieder. 

Klangvolle    Namen   künden   den   Ruhm   mancher   mittelalter- 
lichen  Klosterbibliothek.     Die   Abtei  von  Montecassino  in   Unter- 
italien, das  von  Alcuin  gestiftete  Martinskloster  in  Tours,  die  Abtei 
von  Corbie  und  die  von  St.  Gallen  erfreuten  sich  ihrer  Bücherschätze 
wegen  des  höchsten  Ansehens,  das  durch  die  Jahrhunderte  aufrecht 
zu   erhalten  ihnen  nicht  gelang.    Wir  wissen  durch  Boccaccio,  in 
welche  Verwahrlosung  die  Bücherei  von   Montecassino  und  durch 
Poggio,   in  welche  Verwilderung  die  von  St.  Gallen   geraten  war. 
Eine     eigene    Entwicklung    nahmen    die    KlosterbibUotheken    der 
britischen  Inseln.     Nirgends    stand   die  Schreibkunst  in  so  hohem 
Ansehen  als  in  Irland.    Adamnan  von  Hi  preist  Columbans  Beten, 
Lesen  und  Schreiben   als    dessen    drei   große  Tugenden,    Gelehrter 
und  Schreiber  waren  eins.  «Irland  hatte  ein  anderes  Verhältnis  zur 
antiken  Kultur  als  das  Festland,  es  stand  ihr  unabhängig,  ja  feindlich 
gegenüber  und  zeigte  diese  Selbständigkeit  auch  in  seinem  Buchwesen. 
Die  Berührung  mit  Rom  über  Britannien  war  verloren  gegangen; 
neue  Wechselbeziehungen  knüpften  sich  über  Südgallien  weiter  nach 
den  östlichen  Ländern,  als  die  Iren  ihre  Heimat  verließen,  um  das 
Christentum  zu  verbreiten,  überall  Klöster  anlegend.    Bald  erstreckte 
sich  der  irische  Einfluß  auf  Britannien  und  Westeuropa.     So  war 
England  zu  einer  mächtigen  neuen  Provinz  im  europäischen  Buch- 
lande geworden.      Damals    bestanden  in   Deutschland    nur   wenige 
Klöster,     deren    Reichtum    ihnen    die    Anlage    größerer    Bücher- 
sammlungen gestattete.     Das  Benediktinerkloster  Lorsch  besaß  im 
neunten  Jahrhundert  600  Handschriften.    Hersfeld,  Fulda,  Corvei, 
St.  Emmeran  in  Regensburg,  St.  Blasien,  Murbach,  Reichenau,  Wein- 
garten,  Heilbronn,  Konstanz,  Chur,  Melk,  Klosterneuburg,  Heiligen- 
kreuz und  andere  Klöster  und  Stifter  wetteiferten  mit  ihm  in  der 
Buchpflege,  der  sich  auch  mancher  deutsche  Kirchenfürst  widmete, 
so  der  Erzbischof  Lullus  von  Mainz  [753—787].    Ähnlich  wie  der 
Dom  in  Mainz  hatten  die  bedeutenden   Kathedralen  ihre  eigenen 
Bibliotheken.    Von  Spanien  bis  Skandinavien  standen  Büchereien 
in  den  Klöstern,  ungleich  an  Wert,  ungleich  an  Zahl,  aber  darin 

»•  35 


MITTELALTER 

einander  ähnlich,  daß  sie  theologische  Fachbibliotheken  waren,  wie 
sie  heute  heißen  würden,  in  denen  die  antike  Literatur  aufging,  sich 
der  christlichen  unterordnend  und  in  ihr  verschwindend.  Immerhin 
aber,  wenn  Hrabanus  Maurus  von  der  Büchersammlung  in  Fulda 
zu  melden  wußte,  sie  enthalte  alles,  was  Gott  von  der  Feste  des 
Himmels  in  heiligen  Worten  verkündet,  was  die  Weisheit  der  Welt 
im  Wechsel  der  Zeiten  hervorgebracht  habe,  lag  in  des  Lobspruches 
Übertreibung  doch  auch  eine  nicht  zu  verleugnende  Wahrheit,  die 
auf  ein  Bibliotheksideal  wies.  Damit  in  ihre  Heimat  die  Klassiker 
Roms  von  den  sich  über  die  Barbaren  belustigenden  italienischen 
Humanisten  zurückgeführt  werden  konnten,  mußten  diese  kost- 
baren Werke  doch  einmal  erst  von  jenen  geborgen  gewesen  sein.  Das 
ist  ein  bisweilen  übersehener  Umstand  [ähnliches  gilt  ja  auch  für 
die  anderen  nichtitalienischen  Länder],  der  durchaus  nicht  auf  ganz 
und  gar  vereinzelte  Sammlungen  einos  bücherfeindlichen  Mittel- 
alters verweist.  Denn  ebensowenig  wie  der  Scholastizismus  in  seinem 
Bemühen  um  die  Vereinigung  von  Glauben  und  Wissen  für  seine 
rationalistische  Theologie  darauf  verzichtete,  die  antiken  Klassiker 
zu  benutzen  —  gab  er  doch  sogar  dem  Aristoteles  die  Stelle  hinter 
der  Bibel  und  unterschied  er  sich  darin  doch  von  dem  Humanismus 
lediglich  durch  die  Nüchternheit,  mit  der  es  ihm  allein  um  den  Sach- 
inhalt der  alten  Werke  zu  tun  war,  während  dieser  die  ästhetisch- 
formalen-philologischen  Prinzipien  zum  festen  Ausgangspunkt  nahm 
—  ebensowenig  ist  die  antike  Literatur  überhaupt  vergessen  gewesen 
in  jenem  Wortsinne,  den  das  Bild  von  den  geöffneten  Gräbern  der 
Vergangenheit  kennzeichnet.  Anders  nur  als  unwissend  gewordene 
Mönche  lernten  die  Humanisten  die  alten  Schriften  wieder  lesen. 
Und  anders  auch  als  die  Glaubenswissenschaft  der  klassischen  Theo- 
logie verstand  die  Gefühlswissenschaft,  die  Mystik,  das  Buch,  für 
dessen  Erweckung  sie  in  jener  Umwertung  des  Denkens  wirkte,  in 
der  die  Bücher  wieder  zu  Führern  geistigen  Lebens  werden  sollten. 
Das  Buch,  das  lateinische  Buch,  hatte  um  das  Jahr  Eintausend, 
seit  der  Epoche  der  sogenannten  karolingischen  Renaissance,  eine 
gefestigte  Stellung  neu  erreicht.  Der  Abschluß  des  deutsch-römi- 
schen Siedlungswerkes  in  den  Völkerverschiebungen  war  teilweise 

36 


MITTELALTER 

schon  bis  zu  den  Völkerverschmelzungen  gediehen,  in  denen  die 
Behauptung  der  alten  Bildung  gegenüber  den  sich  ihrer  bemächti* 
genden  neuen  Zivilisationen,  die  sie  vorerst  mit  keinen  gleich- 
kräftigen Kulturwerten  durchdringen  konnten,  gelang.  Karl  der 
Große  [742 — 814],  der  das  Abendland  beherrschte  —  dem  Bereiche 
des  von  ihm  geschaffenen  römischen  Imperiums  blieben  auch  geistig 
nur  die  britischen  Inseln,  Spanien,  Süditalien  entzogen  —  konnte  in 
seinen  Bemühungen  die  Bildung  durch  das  Buchwesen  zu  fördern 
und  innerlich  zu  vereinheitlichen,  sich  noch  nicht  auf  ein  deutsches 
Schrifttum  stützen,  das  erst  seit  dem  elften  Jahrhundert  Geschlossen- 
heit gewann.  Aber  er  dachte  doch  daran,  daß  dessen  Anfänge  vor- 
handen seien  und  er  ließ  die  alten  Heldenlieder,  die  alten  Volkslieder 
aufzeichnen;  bemühte  sich  um  die  Reform  der  Schrift  ebenso  wie 
um  die  des  Bibeltextes,  für  die  er  Mitarbeiter  aus  allen  Teilen  des 
Reiches  heranzog,  auch  Griechen  und  Syrer,  die  in  dem  von  ver- 
römerten  Franken  bewohnten  Gallien  in  großer  Zahl  lebten.  Die 
Aachener  Kaiserpfalz  wurde  der  Mittelpunkt  aller  dieser  Bestrebungen, 
deren  Fäden  von  hier  ausliefen  und  sich  hier  wieder  zusammenflochten. 
An  dem  Hofe  des  Mannes,  der  sich  Kaiser  Konstantins  Nachfolger 
dünken  durfte,  lebten  in  seiner  nächsten  Umgebung  Dichter,  Ge- 
lehrte, Gedichtschreiber,  die  in  der  antiken  lateinischen  Literatur 
zu  Hause  waren.  Wenn  der  in  Bewegung  gebrachte  und  auf  feste 
Ziele  gelenkte  Sammeltrieb  bei  der  Bücherwahl  den  juristischen, 
historischen,  theologischen  Werken  den  Vorrang  einräumte,  wenn 
die  ästhetischen  Tendenzen  noch  zurücktraten,  so  lag  das  vielleicht 
weniger  an  einer  Unkenntnis  oder  Unterschätzung  der  antiken  Lite- 
ratur überhaupt  als  an  dem  für  sie  geänderten  Wertmesser  in  den 
neuen  gesellschaftlichen  Zuständen.  Die  Absicht  des  Kaisers,  sich 
die  guten  Texte  guter  Werke  zu  besorgen,  tritt  überall  hervor.  Alcuin 
besorgt  Bücher  durch  seine  angelsächsischen  Freunde;  Handschriften- 
geschenke, die  aus  Italien  kamen,  waren  dem  Kaiser  wohlgefällig; 
der  Abschriftenbetrieb  wurde  geregelt,  die  an  der  kaiserlichen  Pfalz 
bestehende  Schreibstube  gab  wenigstens  den  ostfränkischen  Kirchen- 
klöstern das  Vorbild.  Auch  die  Buchschönheit,  die  Handschrift  in 
ihrer  Prachtentfaltung  verstand   der  Kaiser  zu   schätzen.     In   der 

^  -^^^  37 


MITTELALTER 

Aachener  Pfalz  wurden  Normaltexte  zur  allgemeinen  Benutzung  und 
Vergleichung  ausgelegt,  deren  Lesarten  an  den  Rand  der  mit  ihnen 
verglichenen  Manuskripte  vermerkt  wurden.  Dauer  entsprach  solcher 
Vielseitigkeit  nicht.  Die  von  Karl  dem  Großen  in  Aachen  begründete 
Bücherei  hinterließ  er  den  Armen,  zu  deren  besten  sie  verkauft 
werden  sollte;  eine  andere  schenkte  oder  vermachte  er  der  von  ihm 
erbauten  Abtei  Isle  le  Barbe  bei  Lyon.  Ein  Brauch,  den  ebenso  seine 
Nachfolger,  soweit  sie  über  einen  eigenen  Büchervorrat  verfügten, 
übten.  Die  Bildung  großer  weltlicher  Zentralbibliotheken  gelang  im 
lateinischen  Mittelalter  nicht,  da  die  festen  Residenzen  der  Fürsten 
noch  fehlten  und  die  allgemach  sich  ausbildenden  hohen  Schulen 
noch  keine  Hauptstädte  im  internationalen  Reich  der  Wissenschaften, 
unabhängig  von  kirchlicher  Vorherrschaft,  sein  konnten.  Der  Turm- 
bau zu  Babel  hatte  für  die  antike  Welt  und  für  die  des  Mittelalters 
nicht  die  Bedeutung  gehabt,  in  der  er  den  Nationen  einer  neuen 
Zeit  erscheinen  mußte,  deren  Bücher  in  allen  Zungen  zu  reden  an- 
fingen, deren  Büchermassen  eine  Welt  für  sich  entstehen  ließen, 
die  zu  durchforschen  und  zu  übersehen  ein  Menschenleben  nicht  aus- 
reichte. Die  alten  Büchersammlungen,  so  hoch  ihre  Bücherzahl 
gewachsen  sein  mochte,  waren  ein  Kosmos  gewesen.  Nun  aber  be- 
gann sich  die  Bücherwelt  im  Chaos  aufzulösen,  wenn  nicht  der  Be- 
griff des  Buches  und  mit  ihm  der  des  Schrifttums  einen  eigenen 
Mittelpunkt,  einen  selbständigen  Sinn,  erhielt.  Ihn  aufgefunden  zu 
haben,  war  das  Verdienst  derjenigen,  die  zuerst  erkannten,  daß  die 
Vertreter  des  geistigen  Selbstbewußtseins  aller  Völker  deren  Bücher 
sind. 


38 


II.  ITALIEN 

Das  Erbe  der  antiken  Literatur  war  zerstreut  worden,  weil  die 
Erben  fehlten,  die  sich  zu  ihm  als  einem  untrennbar  verbun- 
denen Ganzen  bekannt  hätten.  In  dem  geschichtswissenschaftlich 
mittleren,  als  dem  Bindeglied  zwischen  dem  alten  und  neuen,  Zeitalter 
europäischer  Kultur  waren  deren  antike  Traditionen  nicht  verloren 
aber  zerrissen  worden.  Sie  als  die  klassischen  zu  einem  humanistischen 
Ideal  wieder  zusammengefaßt  zu  haben  war  der  Erfolg  der  nach 
diesem  Ideal  benannten  geistigen  Bewegung  gewesen,  in  derem  Ver- 

«  

laufe  die  Entdeckungsreisen  in  die  Vergangenheit  mit  ihren  Ergeb- 
nissen von  neuem  die  Auffassung  der  beiden  getrennten  großen  alten 
Zivilisationen,  der  griechischen  und  der  römischen,  als  eine  Einheit 
begründeten.  Und  damit  die  Durchdringung  abendländischer,  be- 
reits von  der  morgenländischen  befruchteten  Bildung  und  Gesittung, 
Dichtung  und  Forschung  mit  internationalen  und  nationalen  Ele- 
menten einleiteten.  Die  Auswirkungen  des  Humanismus  folgten  dem 
geschichtlichen  Verlaufe  des  Verlorenwerdens  antiker  Kultur.  Sie 
begannen,  da  im  Abendlande  allein  die  lateinische  Sprache  ihre  Vor- 
herrschaft gewahrt  hatte,  in  Italien  mit  der  Aufdeckung  römischer 
Schrifttumsdenkmäler;  sie  setzten  sich  fort  mit  der  Bergung  by- 
zantinischer Bücherschätze  vor  den  Osmanen.  „Da  stieg  der  schöne 
Flüchtling  aus  dem  Osten,  der  junge  Tag  im  Westen  neu  empor  und 
auf  Hesperiens  Gefilden  sproßten  verjüngte  Blüten  loniens  hervor." 
Diese  Verse  Schillers  vertreten  noch  die  Ansicht  eines  dunklen 
Mittelalters,  die  aufzuhellen  seitdem  die  Geschichtswissenschaft  sich 
bemühte,  so  daß  die  Buchhandschriftenzeit  Europas  nicht  mehr  wie 
in  seinen  Tagen  als  das  Zeitalter  verlorener  Zivilisationen  gilt. 

In  Italien  mit  seinen  vielen  Bildungsstätten,  im  Lande  der  heid- 
nischen Überlieferungen  und  des  Machtmittelpunktes  der  christ- 
lichen Kirche,  vollzog  sich  zum  zweiten  Male  die  Aufnahme  des 
Griechentums  durch  das  Römertum  im  dreizehnten  und  vierzehnten 
Jahrhundert.  Wenn  Weltanschauungen  wechseln,  wenn  im  Auf- 
dämmern einer  neuen  Welt  die  alte  sich  auflöst,  herrscht  ein  Zwielicht, 
das  alle  klaren  Umrisse  verschleiert.    Undeutlich  nur  ist  der  Ur- 

39 


ITALIEN 

Sprung  von  Humanismus  und  Renaissance,  von  der  Rückkehr  zur 
Antike,  in  den  Sehnsuchtstrieben  nach  der  geistigen  Wiedergeburt 
zu  erkennen,  die  die  Erlösung  vom  Dogma,  der  Christlichkeit  von  der 
kirchlichen  Christenheit,  wollten.  Und  damit  die  Bande  lösten,  in 
denen  die  Stellung  des  Einzelmenschen  zum  Gemeinschaftsgefühl  und 
zum  Gesamtbewußtsein  der  Gesellschaft  gehalten  wurde.  Die,  von 
der  Autorität  der  Kirchenlehre  befreiend,  gegenüber  der  geschicht- 
lichen Vergangenheit  auch  im  Heidentum  göttliche  Vorsehung  an- 
erkennen mochten;  eine  angenommene  Feindschaft  zwischen  Geist 
und  Natur  versöhnen  wollten.  Das  gab  den  mannigfachen  nationalen 
und  religiösen  gegenläufigen  Strömungen  ihre  wilden  Wirbel,  aus 
denen  vor  den  anbetenden  Augen,  wie  nach  der  Sage  die  Göttin  der 
Schönheit,  die  Antike  emporstieg,  das  Altertum  zur  Gegenwart 
machend.  —  ,,Wert  und  Sache  der  Renaissance  erhält  zweifache 
Geltung,  sei  es,  daß  ein  Volk  sich  auf  die  eigene  Vergangenheit  be- 
zieht, sei  es,  daß  sie  auf  die  Vergangenheit  eines  anderen  Volkes  be- 
zogen werden,  dessen  Rechtsnachfolge  das  erste  anzutreten,  dessen 
Leben  es  noch  einmal  durchzuleben  brennt."  [J.  Nadler.]  Italiens 
rinascita  war  ein  Besinnen  auf  des  Landes  eigenes  Leben.  Im  An- 
fange des  dreizehnten  Jahrhunderts  anhebend  mit  einer  gewaltigen 
ethisch-religiös  gerichteten  Reformation,  deren  Träger  Franz  von 
Assisi  wurde,  der  eine  auf  die  geistige  Weltherrschaft  gerichtete  innere 
Wiedergeburt  des  Menschen  wollte,  sie  in  der  von  ihm  erweckten 
Sprache  seines  Volkes  diesem  predigte;  sich  weiter  fortsetzend  in 
ethisch-politischen  Strebungen,  die  die  nationale  Idee  des  alten 
Italien,  des  alten  Rom,  wachriefen,  weckte  sie  allgemach  auch  das 
Bewußtsein  für  den  geistigen  und  künstlerischen  Gehalt  der  Antike, 
den  deren  Bücher  umschlossen.  Zu  diesen  führte  der  Weg  zurück 
über  die  Klosterschreibstuben,  zu  Cassiodorius,  den  letzten  Römer. 
So  war  aus  einem  nationalen  Bewußtsein  die  Bibliophilie  der  Huma- 
nisten in  der  Frührenaissance  hervorgerufen  worden;  so  war  auch  sie 
eine  Gegenbewegung  des  lateinischen  Volkes  gegen  das  fremde 
Wesen  der  Eroberer  geworden:  ein  Kampf  für  die  Einheit  und  Frei- 
heit Italiens,  für  deren  Ideen  zu  gewinnen  die  klassische  Literatur 
eine  internationale  Macht  wurde.    Daraus  aber  erklärt  sich  auch  der 

40 


14.  JAHRHUNDERT 

die  Barbaren  abwehrende  geistige  Hochmut  der  italienischen  Hu- 
manisten, der  unverständlich  wäre,  wenn  sie  nur  die  alten  Bücher 
hätten  hervorholen  wollen,  um  sie  in  neuen  Bücherstuben  zu  ver- 
wahren. 

Dante,  Petrarca,  Boccaccio,  die  italienischen  Dichter  des 
Quattrocento,  wurden  auch  seine  führenden  Humanisten,  die  Be- 
jaher einer  neuen  Lebensauffassung.  In  Italien  wandte  man  sich 
zuerst  den  antiken  Buchdenkmälern  wieder  zu,  hier  kehrte  man  aus 
den  Gefilden  des  Jenseits  in  die  Gegenwart  des  Menschentums 
zurück,  hier  behauptete  man  kühn  die  Persönlichkeit,  die  sich  jahr- 
hundertelang zu  eigenem  Dasein  emporgerungen  hatte,  gegen  die 
Gesellschaft.  Damit  aber  kam  auch  ein  neuer  Stand  aus  allen  anderen 
Ständen  wieder  zu  eigenem  Recht  im  Gemeinschaftsleben,  der  der 
Gebildeten.  Und  der  Bildungsträger  wurde  das  Buch,  dem,  als  der 
Hauptstrom  des  Humanismus  in  seinem  Quellgebiete  und  in  den 
von  ihm  durchzogenen  Ländern  um  die  Mitte  des  fünfzehnten  Jahr- 
hunderts versiegte,  der  deutsche  Gutenberg  die  neue  Form  einer 
Geisteswaffe  und  eines  Geisteswerkzeuges  schuf.  Der  Gegensatz 
zwischen  Gelehrsamkeit  und  Unwissenheit,  zwischen  Laien-  und 
Pfaffentum,  verringerte  sich  und  verschwand;  man  lernte  lesen,  vom 
Begreifen  der  Buchstaben  bis  zum  Verstehen  der  Gedanken.  Mächte 
und  Menschen  änderten  sich  durch  die  Anschauungen,  die  die  Ent- 
deckungsreisen und  die  Erfinderwerkstätten  brachten.  Die  Denk- 
richtungen in  den  Geisteswissenschaften,  die  Erkenntnisse  in  den 
Naturwissenschaften  bedingten  einander.  Nicht  allein  die  Erde  er- 
weiterte sich  dem  Gesichtskreise,  auch  das  Gedächtnis  der  Mensch- 
heit dehnte  sich  im  Buche  über  Räume  und  Zeiten  aus.  Überall 
berichtigte  man  mit  kritischen  Maßstäben  den  gewaltig  gewaltsam 
sich  ausdehnenden  Umblick.  Die  Fernen  weiteten  sich  und  ließen 
die  Heimat  schätzen,  der  Verkehr  näherte  die  Völker  und  trennte  sie 
auch  wieder.  Kosmopolität  und  Nationalität,  Staatenstolz  und  Welt- 
bürgertum wurden  mit-  und  nebeneinander  der  Ausdruck  des  neuen 
geistigen  und  seelischen  Wesens,  das  ebenso  in  den  Landessprachen 
die  Nationalpoesien  weckte  wie  in  den  Wissenschaften  das  Ansehen 
der    Glieder    einer    internationalen    Gelehrtenrepublik    bestimmte; 

41 


ITALIEN 

lange  in  dem  einer  akademischen  Bildung  als  der  vollendetsten  nach- 
wirkte. Mit  dem  Hervortreten  der  Persönlichkeit  wuchsen  die  Ver- 
fasser und  ihre  Werke,  kam  die  Rangordnung  im  Schriftum  wieder 
zur  Geltung.  Es  begann  eine  literarhistorische  Neuordnung,  die  neben 
die  Bibel  und  die  Kirchenväter  die  antiken  Klassiker  stellte.  Das 
Buch  erhielt  Eigenwert,  weil  sich  in  ihm  Verfasser  und  V^erk  ver- 
körperten. Das  beflügelt  gewordene  gedruckte  Wort  gewann  eine 
immer  stärkere  Stellung  als  ein  Vermittler  von  Lehre  und  Zeitung; 
der  Begriff  der  Gedankenfreiheit  verschmolz  mit  dem  der  Freiheit 
der  Presse.  Die  Philosophie,  die  als  eine  Emanzipation  von  der 
Theologie  begonnen  hatte,  verschärfte  sich  bis  zur  Gegnerschaft 
gegen  die  Kirche,  weil  auch  die  Gegensätze  zwischen  antiker  und 
christlicher  Gesinnung  sich  langsam  wieder  verschärften.  Humanis- 
mus und  Renaissance  wurden  zur  Reformation,  zu  der  politisch- 
sozialen Auseinandersetzung,  die  im  europäischen  Norden  beginnt, 
dessen  Renaissance  auf  anderen  Voraussetzungen  beruhte  als  die 
italienische. 

Die  ästhetisch-formalen  Interessen,  die  anfangs  den  Humanis- 
mus leiteten,  machten  auch  die  BibliophiUe  und  die  klassischen  Stu- 
dien gleichwertig  und  gleichzeitig.  Als  die  Geschichte  der  Hand- 
schriftenrettung aus  Klostergräbern  und  vor  der  Türkengefahr 
beginnt  der  Humanismus,  um  durch  Kritik  der  Texte  und  Methodik 
des  Sammeins  ohne  pädagogisch-theologische  Tendenzen  zur  Philo- 
logie, aus  einer  Weltanschauung  zu  einer  Wissenschaft  zu  werden. 
Dem  entsprach  es,  daß  nicht  die  Fakultäten  in  Bologna  und  Salerno 
seine  frühesten  Pflegestätten  geworden  sind;  daß  er,  von  den  Ver- 
tretern der  freien  Künste  verkündet,  von  den  Sophisten  vergleich- 
baren Wanderrednern,  sich  allmählich  erst  dem  staatlichen  Uni- 
versitätszwange unterwarf,  wo  dann  das  Ideal  humanistischer  Spät- 
zeit,  der  Alleskönner  und  AUeswisser,  der  Universalist,  über  die 
Polymathie  in  die  Polyhistorie  zurückgelangte. 

Die  Bücherei  Petrarcas  ist  einmal  [von  Voigt]  die  erste  moderne 
Privatbibliothek  genannt  worden.  Darin  mag  eine  übertreibende 
Verallgemeinerung  gefunden  werden.  Soviel  bleibt  aber  an  diesem 
Worte   zu    Recht   bestehen,    daß    es    den   Bibliophilen- Humanisten 

42 


14.  JAHRHUNDERT 

rühmt,  dessen  Büchersammlung  und  dessen  Persönlichkeit  sich  nicht 
trennen  lassen;  der  in  seinen  Büchern  aufging  wie  sie  in  ihm;  dem  die 
Bücher,  die  er  erwarb,  zu  Büchern  wurden,  die  er  kennen  lehrte, 
nicht  allein  kennen  lernte.  Bewußt  hat  Petrarca  in  einer  Biblio- 
sophia,  die  sich  überall  in  seinen  gelehrten  Werken  zeigte,  das  Buch 
dem  Menschen  näher  gebracht,  es  erhöhend  in  seinen  Lebenswerten, 
nicht  schreckend  vor  den  Zweifeln,  mit  denen  , Überlegung*  die 
, Zufriedenheit'  in  jenem  Zwiegespräche  der  Abhandlung:  ,,De  re- 
mediis  utriusque  fortunae"  bedrängt,  in  der  Petrarca,  den  aus  der 
neuen  Buchverehrung  seiner  Seele  entstandenen  Zwiespalt  auf- 
deckend, die  erste  moderne  Psychologie  des  Bibliophilen  geschrieben 
hat.  —  ^^Freunde  habe  ich,  deren  Gesellschaft  mir  sehr  wert  ist.  Allen 
Ländern  und  Zeiten  entstammen  sie,  mit  Ehren  hat  sie  ihre  Gelehr- 
samkeit überhäuft.  Dabei  ist  es  leicht,  mit  ihnen  zu  verkehren, 
denn  sie  stehen  mir  immer  zu  Diensten,  immer  sind  sie  willfährig, 
mir  Antworten  auf  die  Fragen  zu  geben,  die  ich  ihnen  stelle.  Die 
einen  berichten  mir  von  den  Geschehnissen  vergangener  Tage,  die 
andern  entschleiern  mir  die  Geheimnisse  der  Natur.  Von  diesen  lerne 
ich,  wie  ich  zu  leben,  von  jenen,  wie  ich  zu  sterben  habe.  Manche 
erheitern  meinen  Geist  durch  Munterkeit  und  scheuchen  meine  Sor- 
gen hinweg.  Andere  geben  meinem  Geiste  Kraft  und  lehren  mich 
das  Wichtigste,  den  Wünschen  zu  gebieten  und  auf  eigenen  Füßen 
zu  stehen.  Kurz,  sie  öffnen  mir  die  Tore  zu  allen  Künsten  und 
Wissenschaften,  auf  ihre  Belehrung  kann  ich  mich  immer  verlassen. 
Und  als  Gegenleistung  für  alles  das,  was  sie  mir  bieten,  verlangen  sie 
nichts  weiter  als  einigen  Raum  in  irgendeiner  Ecke  meines  be- 
scheidenen Hauses."  —  So  bekannte  sich  Francesco  Petrarca  zu  den 
Büchern,  in  dem  Jahrhundert  der  Entdeckung  des  Buches,  und  mit 
ihm  der  europäischen  ,, Literatur",  einer  seiner  Entdecker,  immer  sein 
Diener  und  sein  Herr,  ein  Bibliophile  und  ein  Humanist.  Die  Alten 
waren  ein  Jahrtausend  verstummt  gewesen,  nun  begannen  sie  von 
neuem  zu  reden.  Nicht  zu  allen,  vorerst  nur  zu  wenigen,  die  aus 
den  Beschränkungen  des  Denkens  unter  theologischem  Zwange  zu 
einer  allgemeinen  menschlichen  Bildung  den  Ausgang  suchten.  In- 
dem diese  Pfadfinder  auf  neuen  Gedankenwegen  die  Bibel,  das  Buch 

43 


ITALIEN 

des  ,Mittelaltcrs',  in  den  Händen  der  Theologen  ließen,  bekamen  sie 
die  eigenen  Hände  frei,  um  die  heidnischen  Schriften  aus  deren 
Bücherverstecken  herauszulesen.  Das  gab  Bewegung  der  Sammeln- 
den, ihrer  Geister  und  Gemüter.  Dadurch  entstand  aber  auch  ein 
anderes  Verhältnis  zu  den  Büchern,  das  noch  auf  anderen  Emp- 
findungen und  Einsichten  beruhte  als  auf  der  Anschauung:  ein  Buch 
sei  nur  Gedankenträger  und  Weiterträger;  ein  Notbehelf,  um  flüch- 
tigen Worten  Dauer  und  Zusammenhalt  zu  schaffen.  Man  begann, 
das  Buch  als  eine  eigene  Einheit,  als  die  Verkörperung  eines  Werkes 
zu  betrachten;  in  seiner  körperlichen  Nähe  die  Persönlichkeit  seines 
Verfassers  zu  spüren.  Immer,  wenn  sie  über  ihren  Umgang  mit  den 
Büchern  reden,  sprechen  die  Humanisten  davon,  daß  sie  ein  freund- 
schaftliches Verhältnis  zu  den  Büchern  haben.  Und  wenn  sie  sich 
beugen  vor  der  Autorität  des  Buches,  wenn  ihre  Buchverehrung 
sich  ständig  steigert,  ist  es  die  Ehrfurcht  vor  dem  hohen  Geiste,  den 
das  Buch  hüllt  und  vertritt.  Darum  verehren  sie  die  Buchgestaltung 
mehr  als  anderen  Hausrat,  mehr  als  andere  den  Menschen  ge- 
gebene Verständigungsmittel.  Denn  aus  der  Enge  eines  Menschen- 
lebens trägt  sie  das  Buch,  der  Genosse  ihres  Lernens,  in  die  Weiten, 
über  die  ihrem  Dasein  gezogenen  Grenzen  von  Raum  und  Zeit.  Es 
ist  das  Machtempfinden  des  menschlichen  Geistes,  das  mit  diesem 
Bundesgenossen  sich  den  Sieg  über  das  Universum  träumend,  zu 
einem  Universalismus  wird,  dessen  Grundbau  ein  allumspannendes 
Wissen  in  den  Wissenschaften  sein  soll.  Bis  dann  der  Begründung 
und  Eroberung  des  humanistischen  Europa  durch  das  Buch  die 
Zweifel  an  der  Möglichkeit  eines  solchen  Wissens  kamen,  die  den 
Humanisten  noch  Zweifel  an  ihrer  eigenen  Persönlichkeit  gewesen 
waren  und  den  Philosophen  zu  Zweifeln  an  der  Ausdehnung  der 
Grenzen  der  Menschheit  wurden.  Francesco  Petrarca  [1304 — 
1374]*  ist  in  seinen  unruhigen  Wanderjahren  kein  Bibliotaph  ge- 
wesen, manches  Büchergut  mag  ihm  beim  Verleihen  und  bei  dem 
ständigen  Wechsel  seines  Aufenthaltsortes  verlorengegangen  sein 
wie  jene  von  ihm  beklagte  unbekannte  Schrift  Ciceros.  Um  1337, 
als  er  sich  in  die  Einsamkeit  von  Vaucluse  bei  Avignon  zurückzog, 
um  sich  ganz  den  klassischen  Studien  zu  widmen,  dachte  er  daran, 

44  *  Abb.  II,  13 


14.  JAHRHUNDERT 

seines  Bücherreichtums  sich  in  gelehrter  Muße  zu  erfreuen.  Aber  die 
Dichterkrönung  in  Rom  [1341],  die  er  der  gleichen  ihm  von  der  Pariser 
Universität  angebotenen  Ehrung  vorgezogen  hatte,  die  Beziehungen, 
die  er  zu  Cola  di  Rienzo  fand,  der  Tod  Lauras  trieben  ihn  in  neue 
Unrast.  1353  verließ  er  Vaucluse,  um  an  den  Hof  der  Visconti  nach 
Mailand  zu  gehen,  von  hier  aus  ein  neues  Wanderleben  beginnend. 
Vor  dem  Kriege  und  der  Pest  fliehend  war  Petrarca  im  Sommer 
des  Jahre  1362  von  Mailand  über  Padua  nach  Venedig  gekommen, 
wo  er  sich  einen  neuen,  sicheren  Wohnsitz  gründete.  Daß  er  fortan 
hier  bleiben  wollte,  zeigte  eine  heute  noch  im  Archiv  von  Venedig 
aufbewahrte  Urkunde,  in  der  er  durch  Vermittlung  seines  Freundes 
Benintendi,  des  Kanzlers  der  Republik,  dieser  das  Angebot  machte, 
seinen  Bücherschatz  der  Markuskirche  zu  hinterlassen,  unter  der 
Bedingung,  daß  ihm  eine  ihm  genehme  Behausung  zur  Verfügung 
gestellt  werde.  Zwar  entsprach  der  Große  Rat  dem  Verlangen  des 
Dichters,  der  in  den  Jahren  1362  bis  1367  [1369]  den  Palazzo  di  Due 
Torri  an  der  Riva  degli  Schiavoni  bewohnte,  zu  einer  Erfüllung  des 
Vermächtnisses  aber  ist  es,  wie  lange  eine  Legende  annahm,  nicht 
gekommen.  Mit  seinen  Büchern  zog  sich  der  Ruhelose  nach  Arquä 
in  das  Haus  zurück,  das  er  sich  hier  gebaut  hatte;  vermutlich  seiner 
Gesundheit  wegen,  der  das  Klima  der  Lagunenstadt  unzuträglich 
war  und  weil  er  hier  Francesco  da  Carrara,  dem  Herrn  von  Padua, 
einem  ihm  ergebenen  Freunde,  nahe  sein  wollte.  Da  er  als  dessen 
Gesandter  späterhin  nach  Venedig  ging,  darf  daraus  geschlossen 
werden,  daß  die  Beziehungen  Petrarcas  zu  der  Republik  die  besten 
geblieben  waren,  daß  auch  der  Dichter  an  dem  einmal  geschlossenen 
Vertrage  festhielt.  In  seinem  1370  niedergeschriebenen  Testamente 
erwähnt  er  seine  Bücher  nicht,  mit  Ausnahme  eines  Gebetbuches 
ohne  hohen  Wert,  das  er  in  Venedig  gekauft  hatte.  Ein  Umstand, 
der  [nach  Schreibers  Vermutung]  vielleicht  zeigt,  wie  Petrarca  die 
Bedingungen  jenes  Vertrages  auslegte:  seine  Bücherei  gehörte  nach 
seinem  Tode  Venedig,  soweit  sie  beim  Vertragsabschlüsse  schon 
vorhanden  war.  Bücher  sammelnd  und  Bücher  schreibend,  obschon 
die  Bücherlust  als  eine  Eitelkeit  beklagend,  ist  Petrarca  in  einer 
Sommernacht  des  Jahres  1374  entschlafen.    Am  Morgen  des  19.  Juli 

45 


ITALIEN 

fand  man  ihn  über  einem  Buche  niedergesunken,  tot.    Damals  be- 
fanden sich  Carrara  und  Venedig  in  einem  Kriegszustande,  der  es 
erklärUch  macht,  weshalb  die  Erbschaftsansprüche  auf  den  Nachlaß 
Petrarcas,  auf  seine  wenig  wertvollen  und  wenig  zahlreichen  Bücher, 
wie  er  selbst  sie  in  ihrem  Angebot  eingeschätzt  hatte,  nicht  geltend 
gemacht  werden  konnten.    Um  so  eifriger  waren  die  Freunde  des 
Dichters  bedacht,  dessen  literarischen  Nachlaß  zu  sichern;  vor  allem 
die  noch  unbekannten  Werke,  das  lateinische  Heldengedicht  Africa, 
dessen  Vernichtung  Petrarca  gewünscht  hatte  und  die  italienischen 
Trionfi.    Aus  solcher  Sorge  warnte  ein  Brief  Boccaccios,  den  er  im 
November  1374  an  Petrarcas  Schwiegersohn,  Francesco  da  Brossano 
schrieb,    vor    allzuraschen    Bestimmungen    über    das    unschätzbare 
Büchergut.    Mit  der  Ordnung  und  Verwahrung  der  eigenen  Werke 
Petrarcas  betraute  Carrara  dessen  Freund  Lombardo  della  Seta,  er 
wird  wohl  auch  die  sonstigen  69  Bände  des  Dichters,  die  Haupt- 
masse von  dessen  Bücherei,  erworben  haben,  die  aber  bald  doch  ver- 
kauft und  zerstreut  werden  sollten.   Das  beklagte  sechzig  Jahre  nach 
Petrarcas  Tode  Poggio  in  der  Grabrede,  die  er  einem  anderen  be- 
rühmten Bibliophilen- Humanisten,  dem  Florentiner  Niccolo  Niccoli 
hielt.   Carrara  war  im  Jahre  1388  von  dem  Verbündeten  der  Republik 
Venedig,  Gian  Galeazzo  Visconti,  Herrn  von  Mailand,  besiegt  wor- 
den.   Zu  den  Beutestücken  gehörte  auch  die  Bibliothek  Carraras, 
die  so  in  die  der  Visconti  nach  Pavia  gelangte.   Unter  diesen  Büchern 
war  auch  die  Homerübersetzung  des  Leontius  Pilatus,  die  auf  Kosten 
Boccaccios  und  Petrarcas  angefertigt  und  mit  des  letztgenannten 
Randschriften  versehen  war,  ein  von  den  italienischen  Humanisten 
des    fünfzehnten   Jahrhunderts   vielgebrauchtes   und   vielgenanntes 
Werk.*    Als  dann  der  letzte  Herzog  von  Mailand,  Ludovico  Sforza, 
II  Moro,  1500  von  Ludwig  XII.  gefangen  genommen  wurde,  kam 
seine  Büchersammlung  in  die  des  französischen  Königs  nach  Blois, 
mit  ihr  1544  nach  Fontainebleau  und  schließlich  in  die  Bibliotheque 
royale   nach   Paris,   in   die   heutige   Nationalbibliothek.     Den  kost- 
barsten der  Petrarcabände  in  der  Sforzabibliothek  hatte  ein  Bürger 
Pavias,  Antonio  di  Pirro,  vor  der  Plünderung  gerettet,  die  Vergil- 
handschrift,  in  die  der  Dichter  seine  Eintragungen  über  Lauras  Tod 


46 


*  Abb.   12 


14.  JAHRHUNDERT 

und  andere  ihm  nahestehende  Personen  gemacht  hatte.  Sie  war  an 
seinen  Arzt  Dondi  dell'  Orologio  gelangt  und  vermutlich  von  dessen 
Neffen  und  Erben  an  Carrara  verkauft  worden.  1600  erwarb  der 
Kardinal  Francesco  Borromeo  das  Buch  für  die  Ambrosiana  in 
Mailand,  die  er  eben  begründete,  1796  nahm  es  Napoleon  nach  Paris 
mit,  1815  wurde  es  der  Biblioteca  Ambrosiana  zurückgegeben.  Es 
war  ein  Lieblingsbuch  Petrarcas  und  eines  seiner  ersten  Bücher  ge- 
wesen, eine  Anmerkung  seiner  Hand  erwähnt,  daß  es  ihm  am  1.  No- 
vember 1326  gestohlen  und  am  1.  April  1338  zu  Avignon  wieder 
zurückerstattet  worden  sei. 

Florenz  wurde  nach  Petrarcas  Tode  die  Hauptstadt  des 
Humanismus,  in  der  seine  besten  Freunde  und  hervorragendsten 
Schüler  lebten,  lehrten,  sammelten:  Luigi  Marsili  [1330—1394], 
der  Gründer  der  Academia  di  Santo  Spirito  —  der  ersten  Anstalt, 
in  der  die  freie,  die  fröhliche  Wissenschaft  außerhalb  der  Kirche 
und  der  Universitäten  eine  Unterkunft  fand  —  und  redliche  Theo- 
loge, Coluccio  Salutati  [1331—1406],  der  Kanzler  der  Signorie, 
der  die  Antike  in  das  Staatsleben  einführte,  vor  allem  Giovanni 
Boccaccio  [1313—1375].*  Sein  Vater  hatte  den  Verfasser  des  De- 
camerone,  des  Buches,  das  seine  Zeitgenossen  lachend  lasen  und  ge- 
lehrter Werke,  derentwegen  sie  ihn  bewunderten,  zum  Rechts- 
gelehrten  gemacht.  Er  selbst  aber  bevorzugte  die  humanistischen 
Studien,  die  poetischen  Tändeleien  und  das  weltliche  Treiben  am 
lustigen  Anjouviner  Hofe  in  Neapel,  bis  er,  nachdem  er  im  Pestjahr 
1349  seinen  Vater  verloren  hatte,  nach  Florenz  zurückkehrte  und 
im  folgenden  Jahre  Petrarca  kennen  lernte,  seitdem  ihm  in  enger 
Freundschaft  verbunden  bleibend,  die  in  ihrer  Bücherliebe  und 
Sammelleidenschaft  wurzelte.  Zwar  durfte  der  lustige  Hans  seinen 
Aufwand  beim  Bücherkaufen  nicht  so  weit  treiben  wie  Petrarca, 
der  Geld  genug  hatte,  um  dann  und  wann  mehrere  Schreiber  zu  be- 
schäftigen oder  die  Ausstattung  einer  Prachthandschrift  zu  bezahlen. 
Allein  dem  eigenen  Fleiß  hatte  er  die  Vermehrung  einer  sehr  ansehn- 
lichen Bücherei  zu  verdanken,*  was  ihm  sein  Biograph  Giannozzo 
Manetti  hoch  anrechnete:  „copiam  transcriptorum  suorum  intuen- 
tibus  mirabile  quiddam  videri  soleat  hominem  pinguiorem,  ut  eins 

*  Abb.  14,  15  47 


ITALIEN 

corporis  habitudo  fuit,  tanta  librorum  volumina  propriis  manibus 
exarasse,  ut  assiduo  librario  qui  nihil  aliud  toto  fere  vitae  suae 
tempore  egisset  satis  superque  esset/*  Daß  der  belesene  Entdecker 
des  Tacitus  auf  seinen  Dienstreisen  und  diplomatischen  Missionen 
die  Gelegenheiten  zu  nutzen  pflegte,  verstand  sich  in  jener  bücher- 
armen Zeit  von  selbst.  Man  mußte  wissen,  wonach  man  suchte, 
wenn  man  den  Eintritt  in  eine  gar  nicht  geordnete  Klosterbibliothek 
erhielt.  Es  waren  ja  auch  meist  nicht  sehr  beeilte  Fahrten,  auf  denen 
Boccaccio  die  Kiste  mit  den  Lieblingsbüchern  mitnahm.  Da  das 
Abschreiben  oder  das  Kaufen  die  beiden  einzigen  Möglichkeiten 
gaben,  den  Bücherschatz  zu  vermehren,  war  die  Buchleihe  eine  Ge- 
fälligkeit nicht  geringen  Wertes  und  es  hieß  schon  Bücher  tauschen, 
wenn  man  sich  verschiedene  Werke  gegenseitig  zum  Abschreiben 
anvertraute.  1362  brachte  in  die  ungebundene  Heiterkeit  des  Hu- 
manisten Boccaccio  ein  Kartäusermönch  mit  seinen  Mahnungen 
die  christliche  Hölle,  vor  der  der  lebenslustige  Mann  erst  allen  welt- 
lichen Anfechtungen  entsagen  und  selbst  auf  die  Bücherlust  ver- 
zichten wollte.  Einen  Entschluß,  den  er  mäßigte,  um  in  Certaldo 
in  der  Einsamkeit  unter  seinen  200  Bänden  zu  weilen,  die  ihm 
Augenweide  und  Seelentrost  blieben,  seines  Daseins  Reichtum. 
,,Plus  cum  alignibus  meis  libellis  parvulis  voluptatis  sentio,  quam 
cum  magna  diademate  sentiant  reges"  bekannte  er  einmal,  in  einem 
Briefe  an  Zanobi  da  Strada.  Er,  der  nicht  wie  Petrarca  in  für  die 
Nachwelt  bestimmten  Briefen,  in  denen  man  für  die  Beziehungen 
zwischen  Bibliophilie  und  Humanismus  die  psychologischen  Er- 
klärungen findet,  über  die  Abenteuer  seiner  Bücherfahrten  und 
Bücherträume  geschrieben  hat,  bald  die  Enttäuschungen  beklagend, 
bald  die  Funde  bejubelnd.  Den  Auftrag  der  Stadt  Florenz,  Dantes 
göttliche  Komödie  öffentlich  zu  erklären,  den  er  1373  erhielt,  hat 
Boccaccio  nicht  mehr  lange  ausführen  können.  Sich  ihm  widmend, 
die  philosophisch-theologische  Gelehrsamkeit  des  bewunderten  Wer- 
kes auslegend,  nicht  dessen  dichterischen  Tiefsinn  ergründend,  ist 
der  Mann  gestorben,  dessen  Meisterwerk  einst,  unbewußt,  Dantes 
Gesänge  parodiert  hatte.  Mit  ihm  fiel  die  letzte  der  drei  Kronen 
von  Florenz  ins  Grab,  unter  deren  Herrschaft  lange  noch  Bibliophilie, 

48 


^ 
1 


14.  JAHRHUNDERT 

Humanismus  und  Poesie  in  Italien  blieben.  Seinem  Beichtvater, 
Fra  Martino  da  Signa,  hinterließ  Boccaccio  seine  Bücher  unter 
der  Auflage:  ihre  allgemeine  Benutzung  zu  gestatten,  durch  ein 
Epitaffio,  eine  Gedenktafel,  deren  antike  Mode  auch  weiterhin  in  den 
italienischen  Sammlungen  befolgt  wurde,  an  den  Buchfreund  und 
Büchersammler  zu  erinnern,  sowie  sie  als  Stiftung  dem  Kloster  San 
Spirito  in  Florenz,  dem  jener  angehörte,  zu  vererben.  Eine  Bedin- 
gung, die  der  1387  gestorbene  Freund  getreulich  erfüllt  hat.  Aber 
Boccaccios  Erbe  war  in  die  Obhut  nachlässiger  Mönche  gekommen, 
die  es  nicht  zu  hüten  verstanden,  die  es  ungenutzt  verstauben  ließen. 
Bis  es  ein  anderer  Florentiner  Bücherfreund,  Niccolö  Niccoli,  noch 
einmal,  es  ehrfürchtig  rettend,  sammelte  und  die  Handschriften, 
soweit  sie  noch  vorhanden  waren,  in  einem  schönen,  der  Kloster- 
bibliothek von  ihm  gestifteten  Schranke  aufstellen  ließ,  in  dem  sie 
der  Feuersbrunst,  die  in  der  Nacht  vom  21.  auf  den  22.  März  1471 
die  Kirche  von  San  Spirito  vernichtete,  entgingen,  aus  dem  sie  aber, 
vermutlich  beim  Klosterumbau  gegen  1560,  verloren  und  nur  zu 
einem  kleinen  Teile  wiedergefunden  worden  sind. 

Boccaccio  hat,  in  der  Vorrede  seiner  ,,Genealogia  Deorum",  der 
Bücher  Untergang  und  Verderben  mit  wehmütigen  Worten  beklagt. 
Mensch  und  Natur  wüten  gegen  das  Buch,  Geiz,  Nachlässigkeit, 
Rachsucht,  Feuersbrünste,  Überschwemmungen  und  die  grausamste 
aller  Bücherfeinde,  die  Zeit.  Als  er  einst,  nach  einem  Berichte  seines 
Schülers  Benvenuto  da  Imola,  auf  einer  Reise  in  Kampanien,  fröh- 
lichen Herzens  die  berühmte  Klosterbibliothek  in  Montecassino  be- 
suchte, hatte  er  sie  weinend  verlassen,  weil  er  es  nicht  ertragen 
konnte,  die  geliebten  Bücher  in  solcher  Unordnung  und  Verkommen- 
heit zu  sehen,  wie  sie  für  ihren  mißachtetsten  Besitz  den  Mönchen 
noch  gerade  gut  genug  schien.  Die  bedachte  Buchpflege  hat  in  der 
großen  humanistischen  Bücherrettung  keine  geringe  Rolle  gespielt; 
sie  hat  die  Ausbildung  des  Büchersammelwesens,  in  dem  Florenz 
das  Muster  gab,  gefördert.  Auch  darin  ist  die  Bücherliebe  Petrarcas 
und  Boccaccios  vorbildlich  gewesen,  die  selbst  in  ihren  Übertreibun- 
gen den  richtigen  Weg  zeigte.  Hatte  nicht  Petrarca,  der  kein  grie- 
chisch konnte,  seinen  griechischen  Homerkodex  über  alles  verehrt? 

BOGENG    4  49 


ITALIEN 

Und  hatte  nicht  Boccaccio,  der  kaum  ein  sehr  viel  besserer  Gräzist 
war,  dafür  gesorgt,  daß  die  lateinische  Homerübersetzung  des  Cala- 
bresen  Leontius  Pilatus,  dem  er  in  Florenz  einen  Lehrstuhl  für  die 
griechische  Sprache  verschafft  hatte,  vollendet  wurde  und  sie  eigen- 
händig ins  Reine  geschrieben?  So  hat  er,  der  Petrarca  an  kritischer 
und  künstlerischer  Fähigkeit,  die  Klassiker  aufzunehmen,  nicht 
gleichkam,  darin  doch  das  maßgebende  Beispiel  des  Betriebes 
wissenschaftlicher  Übersetzungen  gegeben,  desjenigen  Verfahrens, 
durch  das  der  Eintritt  nach  Hellas  von  den  italienischen  Humanisten 
gesucht  wurde,  die  selbst  nur  selten  sich  entschlossen,  die  fremde 
Sprache  in  deren  Heimatlande  zu  lernen.  Die  Erkenntnis  des  griechi- 
schen Ursprunges  des  römischen  Schrifttums  war  noch  rechtzeitig 
genug  für  das  Rettungswerk  der  begeisterten  Handschriftenforscher 
und  Handschriftensucher  gekommen,  die  nun  im  Hellenismus  ihren 
humanistischen  Idealen  huldigten  und  die  Denkmäler  antiker  Kultur 
und  Literatur,  die  in  den  Balkanländern,  in  Byzanz  vorhanden  waren, 
nach  Italien  zu  schaffen  keine  Kosten  und  Mühen  scheuten.  DerVor- 
ort  der  neuen  Richtung  des  Büchersammelwesens  wurde  Florenz,  die 
Führung  übernahmen  die  Medici.  Manuel  Chrysoloras  [gestorben 
1415  in  Konstanz],  den  der  Kaiser  Manuel  Paläologos  1391  nach 
Italien  gesandt  hatte,  um  hier  Hilfe  gegen  die  Osmanen  zu  werben, 
hatte  1396  sein  Vaterland,  ohne  die  Verbindung  mit  ihm  zu  lösen, 
verlassen  und  lehrte,  von  1403  bis  1407  in  seiner  Heimat  weilend, 
von  1408  bis  1410  das  Griechische  in  Spanien,  Frankreich,  England, 
die  übrige  Zeit  in  verschiedenen  Städten  Italiens :  Venedig,  Florenz, 
Pavia,  Rom.  Die  Gräzisten,  die  er  in  seiner  Schule  bildete,  gaben 
den  humanistischen  italienischen  Bücherreisen,  deren  feste  Stütz- 
punkte die  florentinischen  und  venetianischen  Handelsnieder- 
lassungen in  der  Levante  wurden,  ihren  geistigen  heimatlichen  Rück- 
halt. Die  Gönner  der  Unternehmungen  aber  wurden  die  Kaufherren, 
deren  Mäzenatentum  die  Mittel  schaffen  mußte.  Als  Giovanni 
Aurispa  [1370 — 1459],  ein  Sizilianer,  Ende  1423  von  einer  zwei- 
jährigen Levantereise  zurückkehrte,  schickte  er  den  Bibliophilen 
in  Florenz,  die  die  Medici  dort  um  sich  vereinten,  einen  Vorboten 
seiner  Ankunft,  jenen  kostbaren  Band,  der  sieben  Tragödien  des 

50 


15.  JAHRHUNDERT 

Sophokles,  sechs  des  Äschylus  sowie  die  Argonautica  des  ApoUonios 
barg  und  den  heute  die  Biblioteca  Laurenziana  verwahrt.  238  Klassi- 
kermanuskripte hatte  er  von  seiner  Bücherreise  heimgebracht,  die 
zu  erwerben  er  sein  ganzes  Vermögen  hingeben  mußte.  Sogar  seine 
Kleider  hatte  er  verkauft  und  sich  dem  Bruder  Cosimos  de'  Me- 
dici  [1389 — 1464],*  Lorenzo,  mit  50  Goldgulden  verschuldet.  Sein 
Beispiel  fand  Nachahmung:  Francesco  Filelf  o  [1398—1481]  brachte 
einige  Jahre  später  aus  Byzanz  eine  kleinere,  mit  jener  ersten  nicht 
zu  vergleichende  Sammlung  nach  Florenz,  die  ebenfalls  Lorenzo  sich 
zu  eigen  machte,  so  daß  sie  durch  ihn  an  die  Laurenziana  überging. 

Bauten  und  Bücher,  diese  Leidenschaften  des  Rinascimento 
und  ihre  Liebhabereien,  mußten  in  dem  bereits  von  Petrarca  gehegten 
Gedanken  einen  gemeinsamen  Ausdruck  finden  können,  beides  mit 
der  Ausgestaltung  öffentlicher  Büchersammlungen  zu  vereinen. 
Wenn  trotzdem  nur  Bücherkammern  und  Büchersäle  entstanden, 
der  Bibliophilie  keine  Monumente  in  der  Form  ihr  dienender  Paläste 
errichtet  worden  sind,  so  ist  dafür  die  Erklärung  unschwer  zu  finden. 
Die  Büchermenge  der  einzelnen  Sammlungen  war  doch  noch  zu  klein, 
als  daß  sie  schon  die  architektonische  Prachtentfaltung  gerecht- 
fertigt hätte.  Pläne,  wie  diejenigen  Papst  Nikolaus  V.,  wiesen  in 
die  Zukunft.  Aber  der  Gedanke,  daß  das  Büchersammeln  der  Alt- 
gemeinheit zugute  käme,  blieb  lebendig.  Und  aus  der  begeisterungs- 
starken Buchpflege  der  italienischen  Humanisten  entwickelten  sich 
die  meisten  großen  Büchersammlungen,  die  heute  nicht  wenige 
italienische  Städte  zieren.  Am  Ende  seines  Lebens  dachte  auch 
Lorenzo  de'  Medici  daran,  die  Bücherschätze,  die  den  Namen 
seiner  Familie  trugen,  in  einem  Schatzhause  zusammenzutragen; 
eine  großzügige  und  hochherzige  Absicht,  deren  Ausführung  sein  Tod 
verhinderte.  Trotzdem  bleibt  er  der  eigentliche  Stifter  der  Biblio- 
teca Mediceo-Laurenziana  in  Florenz,  die  endlich  doch  noch  aus 
den  Büchersammlungen  von  S.  Lorenzo  und  von  S.  Marco,  aus  der 
der  Badia  fiorentina  bei  Fiesole,  aus  der  Medici  Privatbibliothek 
und  der  Niccolö  Niccolinischen  Privatbibliothek  hervorgegangen  ist. 

Die    Bereicherungen,    die    die    florentinischen    humanistischen 
Privatbibliotheken  den  Medizäern,  vor  allem  Cosimo,  verdankten, 

4*  *Abb.  i8  51 


ITALIEN 

bestanden  nicht  nur  in  der  Unterstützung  einzelner  Gelehrter,  in 
der  Handschriftenbeschaffung,  die  durch  Abschriften  den  Forschern 
zugänglich  wurden.  Die  Buchpflege,  die  die  Macht  und  die  Mittel 
der  Medici  ermöglichte,  fand  auch  einen  festen  geistigen  Halt  in  dem 
Beispiel,  das  deren  Lebensführung  gewährte,  die  die  Gleichstrebenden 
verband.  Wozu  noch  die  geschäftliche  Gewandtheit  Cosimos  hin- 
zukam, der  es  verstand,  wie  ein  Fürst  Bücherlehen  durch  seine 
Hilfeleistungen  zu  verteilen,  die  nach  der  Sammler  Tod  durch  das 
Gewicht  des  Goldes  ihm  anheimfielen.  Auch  in  dieser  Verbindung 
von  Mäzentatentum  und  nüchterner  Sachlichkeit,  die  die  besten 
Kräfte  an  ihren  besten  Platz  zu  stellen  wußte,  zeigte  sich  die  schöpfe- 
rische Tätigkeit  des  Mannes,  der  mehr  als  mancher  andere  den 
Ehrennamen  eines  Bibliothekenstifters  verdient.  Sein  erster  Rat- 
geber war  Niccolö  dei  Niccoli  [1363 — 1437]  gewesen ,  ein 
Bibliophile,  der  sein  Leben,  das  erfüllt  war  von  einer  leiden- 
schaftlichen Liebe  zu  den  Büchern,  ihnen  ganz  und  gar  geweiht 
hatte.  Aus  Padua  hatte  er  Petrarcas  Schriften  geholt,  um  mit 
ihnen  eine  Sammlung  zu  begründen,  deren  Reichtum  ihn  in  Armut 
und  Schulden  brachte,  trotzdem  er  selbst  die  Mehrzahl  seiner 
Codices  geschrieben  hat,  sie  nicht  geistlos  kopierend,  sondern  mit 
kritischer  Sorgfalt  rekonstruierend.  Dem  bedrängten  Buchfreunde 
kam  Cosimo  zu  Hilfe  und  gewann  damit  dessen  Fleiß  und  dessen 
Kenntnisse  für  sich.  Die  Angestellten  in  den  medizäischen  Nieder- 
lassungen, die  Florentiner,  die  auf  weite  Reisen  gingen,  die  Ge- 
sandten: sie  alle  wurden  mit  Aufträgen  versehen,  nach  bestimmten 
Handschriften  zu  fahnden.  Und  der  literarische  Minister  Cosimos  ver- 
stand es,  diesen  Bücherdienst  dem  kommerziellen  wie  dem  politi- 
schen Bereiche  des  Medici- Hauses  einzugliedern.  An  achthundert 
Bände  hinterließ  Niccolö  dei  Niccoli,  die  bedeutendste  Privat- 
bibliothek seiner  Zeit.  Den  unschätzbaren  Besitz  hatte  er  ursprüng- 
lich dem  Kloster  S.  Maria  degli  Angioli  vermacht,  aber  wenige  Tage 
vor  seinem  Tode  widerrief  er  das  Testament,  um  die  Bestimmung 
über  den  Verbleib  seines  Bücherschatzes  sechzehn  von  ihm  ernannten 
Humanisten  anzuvertrauen.  Sie  überließen  Cosimo  die  freie  Ver- 
fügung über  das  Erbe,  der  mit  ihm  dip  darauf  lastenden  Schulden 

52 


16.  JAHRHUNDERT 

übernahm.  400  Bände  wurden  ausgewählt,  um  sie  im  Kloster 
S.  Marco  in  dem  von  Michelozzo  erbauten  Bibliotheksaal  auf  64  Lese- 
pulten aufzustellen.  1441  ist  das  Gründungsjahr  der  ersten  öffent- 
lichen Bibliothek  Italiens,  der  Marciana,  die  1808  bei  der  Aufhebung 
der  geistlichen  Orden  mit  der  Laurenziana  vereinigt  wurde,  der  nach 
130  Jahren  errichteten  anderen  großen  Medicisammlung.  Die  Er- 
gänzung und  Vermehrung  der  Marciana  ließ  Cosimo  sich  ständig 
angelegen  sein;  für  400  Goldgulden  kaufte  er  in  Siena  kanonische 
Literatur,  von  den  Franziskanern  in  Lucca  erwarb  er  für  sie  49  theo- 
logische Werke.  Dabei  folgte  er  hier  und  bei  seinen  anderen  Bücher- 
käufen dem  Plane,  den  für  ihn  ein  anderer  berühmter  Bibliophile- 
Humanist,  Fra  Tommaso  Parentucelli  [Papst  Nikolaus  V.] 
ausgearbeitet  hatte,  einer  Bücherliste,  die  man  den  Kanon  der  huma- 
nistischen Literatur  ihrer  Zeit  nennen  kann,  auch  damit  die  Einheit- 
lichkeit seiner  Stiftungen  bekundend.  Von  ihnen  war  die  für  die 
Badia  unterhalb  von  Fiesole,  dem  Lieblingsaufenthalte  des  greisen 
Medizäers,  dem  Sitz  der  von  Marsiglio  Ficino  geleiteten  Platonischen 
Akademie,  errichtete  Bücherei,  die  1783  in  die  Laurenziana  auf- 
genommen wurde,  ebenso  eine  buchgewerbliche  wie  wissenschaft- 
liche Leistungsprüfung  der  florentinischen  humanistischen  Buch- 
pflege. Ihre  Herstellung  wurde  dem  Cartolaio  Vespasiano  da 
Bisticci  übertragen,  der  200  Bände  in  22  Monaten  lieferte,  die  die 
kirchliche  und  die  klassische  Literatur  in  einer  Auswahl  des  nach 
jenem  kanonischen  Kataloge  besten  umfassend,  von  45  für  diese 
Büchersammlungsgründung  angestellten  Schreibern  gefertigt  wurden. 
200  Bände  hatte  Cosimo  aus  dem  Erbe  Niccolö  dei  Niccolis  für 
seine  Hausbibliothek  zurückbehalten  als  Unterpfand  für  die  diesem 
Bibliophilen  und  dessen  Nachlaß  gemachten  Vorschüsse.  Bücherfroh 
und  bücherkundig  hat  er  durch  Einzelerwerbungen  planmäßig  auch 
diesen  Schatz  zu  vermehren  verstanden,  den  seine  Nachkommen 
in  seinem  Sinne  verwalteten.  Sein  Sohn,  der  Kardinal  Giovanni 
kaufte  die  Sammlungen  des  Staatskanzlers  Coluccio  Salutati 
und  des  bibliographischen  Columbus  Poggio  Bracciolini, 
sein  Enkel  Lorenzo  il  Magnifico  [1448—1492]*  beschäftigte 
überall,  insbesondere  aber  in  Rom  an  der  Vaticana,  Schreiber.    Er 


*  Abb.  19 


53 


ITALIEN 

rüstete  auch  die  große  Bücherreise  des  Giovanni  Lascaris  in 
die  Levante  aus,  die  um  1490  ihm  aus  dem  Peleponnes  an  200  grie- 
chische Handschriften,  darunter  80  unbekannte  Werke,  zuführte. 
Die  BibUoteca  Laurenziana  zu  einer  öffentlichen  aus  einer  privaten 
Bibliothek  zu  machen,  hinderte  Lorenzo  der  Tod;  der  Zug  Karls  VIII. 
von  Frankreich  nach  Italien  schmälerte  sie  nicht  unerheblich.  Als 
Piero,  Lorenzos  Sohn,  aus  Florenz  vertrieben  wurde  und  die  Medici- 
Paläste  der  Plünderung  anheimfielen,  kam  mit  den  Beutestücken 
auch  manches  Buch  nach  Frankreich.  Die  florentiner  Regierung 
ließ  zur  Rettung  der  Sammlung  sie  in  das  Haus  der  Signorie  und 
dann  in  das  Dominikanerkloster  San  Marco  überführen,  mußte  sie 
aber  ihrer  Geldnöte  wegen  zunächst  dem  Kloster  für  2000  Gold- 
gulden verpfänden  und  sie  schließlich  für  weitere  1000  Gulden  ihm 
zum  Eigentum  lassen.  Dabei  kam  es  zu  Teilungen  und  Verlusten. 
Vieles  erwarb  1508  der  Kardinal  Francisco  della  Rovere.  Der  Kardinal 
Giovanni  de'  Medici  [Papst  Leo  X.,  1475—1521],  Bücher  aus 
der  Hinterlassenschaft  des  Vaters  stückweise  zurückkaufend,  löste 
die  Familienbibliothek  wieder  aus,  um  sie  nach  Rom  schaffen  und 
in  seiner  Villa  am  Monte  Pincio  aufstellen  zu  lassen,  wo  sie  eine  eigene 
Verwaltung  erhielt.  Er  soll  auch  für  sie  den  berühmten  Kodex  mit 
den  fünf  ersten  Büchern  der  Annalen  des  Tacitus  vom  Kloster 
Corvei  um  500  Goldgulden  gekauft  haben.  Sein  TetamentsvoU- 
strecker  und  Vetter  Kardinal  Giulio  [Papst  Clemens  VII.,  1523 
—  1534]  ließ  die  Bibliothek  nach  Florenz  zurückbringen  und  beauf- 
tragte Michelagniolo  mit  der  Errichtung  eines  Gebäudes,  das  unter 
dem  ersten  Großherzog  von  Toscana,  Cosimo  I.,  durch  Vasari  voll- 
endet wurde.  Am  11.  Juni  1571  fand  die  feierliche  Einweihung  der 
Laurenziana  mit  ihren  3000  Handschriften  statt,  in  der  bereits  die 
Bestände  der  Bibliothek  von  San  Gimignano  und  viele  andere  der 
Bücher  Cosimos  ihr  endgültiges  Heim  gefunden  hatten.  Die  Biblio- 
thekengründungen des  Hauses  Medici  hatten  nun  ihren  festen  Mittel- 
punkt, um  den  sie  sich  nach  und  nach  zusammenzogen.* 

Abschreibend  und  bearbeitend  befestigten  die  Bibliophilen- 
Humanisten  ihren  Bücherbesitz  und  vermehrten  ihn,  Bücher- 
sammler  in  anderer  Weise  als  es  die  kommenden  Druckwerk]  ahr- 

C/  *  Abb.  20,  21 


15.  JAHRHUNDERT 

hunderte  gewohnt  wurden,  in  denen  die  Erschließung  eines  ver- 
lorenen griechisch-römischen  Schrifttums  vollzogen  war.  Dieses 
doppelten  Unterschiedes  wegen  sind  die  humanistischen  Sammel- 
verfahren wirtschaftlich  und  wissenschaftlich  sowohl  von  den  an- 
tiken wie  von  den  modernen  verschieden.  Im  Altertum  bedingten 
Apogramm  und  Autogramm  noch  für  ein  Manuskript  und  dessen 
Originalität  eine  Reihe  von  Zwischenstufen,  die  maßgebend  für  die 
Beurteilung  eines  Textes  waren;  der  alexandrinische  Klassiker- 
kanon erwuchs  aus  Vergleichungen,  die  bekannte  Werke  werteten. 
Aber  die  enthusiastisch  zu  Irrtümern  über  das  Alter  der  Codices 
geneigten  Humanisten  hatten  es  bestenfalls  mit  beglaubigten 
Büchertiteln  zu  tun,  für  die  sie  die  Bruchstücke  zusammensuchten, 
erst  einmal  den  derart  erzielten  Gewinn  auf  die  Richtigkeit  und  die 
Vollständigkeit  hin  überprüfend,  dazu  für  die  griechischen  Schriften 
meist  noch  den  Ubersetzungenumweg  notgedrungen  wählend.  Ab- 
schriften bedeuteten  für  sie  Annäherungen  an  die  Urschriften  und 
demgemäß  schätzten  sie  solche  nach  ihrem  inneren  Wert  ein;  das 
alte  Manuskript,  das  ungenau  und  unvollständig  war,  bot  ihnen 
weit  weniger  als  das  bessere  neue,  blieb  eine  Vorarbeit  für  dieses. 
Ihr  Sammeln,  Sichten,  Suchen  galt  den  noch  unentdeckten  ver- 
schollenen Werken;  das  Auffinden  eines  solchen  bereicherte  den  Be- 
sitzer auch  deshalb,  weil  er  nun  eine  begehrte  Vorlage  für  den  Bücher- 
tausch in  Händen  hatte,  die  um  so  wertvoller  wurde,  je  mehr  er 
selbst  imstande  war,  durch  eigene  Arbeit  einen  gebesserten  und 
gemehrten  Text  herauszugeben,  d.  h.  in  Abschriften  zu  verviel- 
fältigen oder  vervielfältigen  zu  lassen.  Die  buchgewerblich-wirt- 
schaftliche Tätigkeit  entsprach  der  wissenschaftlichen.  Beccadelli 
erwarb  einen  Livius,  den  Poggio  abgeschrieben  hatte,  für  120  Ze- 
chinen. Dieser  konnte  sich  für  den  Erlös  ein  bei  Florenz  gelegenes 
Grundstück  kaufen,  jener  sah  sich  zur  Veräußerung  einer  Villa  ge- 
zwungen. Alle  diese  Beschäftigungen  der  Bücherherstellung  hat 
einmal  [Ep.  fam.  XVIII,  5]  Petrarca,  sie  preisend,  geschildert:  „Sic 
apud  nos  alii  membranas  radunt,  alii  libros  scribunt,  alii  corrigunt, 
alii,  ut  vulgari  verbo  utar,  illuminant,  alii  ligant  et  superficiem 
comunt.'^  Die  Arbeit  des  Büchersammelns,  Bücherschreibens,  konnte 

55 


ITALIEN 

eine  literarische,  lohnende  Sondertätigkeit  werden,  die  Berufsart 
einer  Bibliophilie  sich  in  solchem  Zusammenhange  zu  einiger  Selb- 
ständigkeit entwickeln.  Alle  die  im  Auftrage  oder  auf  eigene  Rech- 
nung die  Länder  durchforschenden  Büchersucher,  deren  Gelehr- 
samkeit nicht  gering  sein  durfte,  gewannen  mehr  oder  minder  auch 
ihren  Lebensunterhalt  durch  ihren  Sammlerfleiß,  halb  Schreiber  und 
halb  Schriftsteller.  Etwa  um  die  Mitte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts 
waren  die  noch  erreichbar  gewesenen  schriftlichen  Überreste  der 
Vergangenheit  wohl  geborgen,  sie  in  Abschriften  zu  verbreiten  den 
Buchhändlern  ermöglicht,  die  ihrerseits  jetzt  in  der  äußeren  und 
inneren  Ausstattung  der  von  ihnen  für  den  Handel  angefertigten 
Handschriften  der  Bücherliebhaberei  großer  Herren  dienten,  in- 
dessen die  bibliographisch-kritischen  Anstrengungen  der  Biblio- 
gnosten  bibliothekarisch  organisierend  und  zentralisierend  sich  aus- 
gestalteten. Das  Beispiel  eines  der  hervorragendsten  Bibliophilen- 
Humanisten,  des  Papstes  Nicolaus  V.,  bezeichnet  diesen  Kulmi- 
nationspunkt. Indessen  ihn  die  Ausführung  seines  großes  Planes 
beschäftigte,  in  der  Büchersammlung  der  Päpste  eine  Vereinigung 
aller  Werke  des  Schrifttums  zustande  zu  bringen,  also  die  alexan- 
drinische  Idee  einer  Weltliteratur,  die  die  geistigen  Schöpfungen 
aller  Völker  und  Zeiten  eint,  beschäftigte  der  Bibeldruck  die  Guten- 
bergwerkstätte  in  Mainz.  Ein  Ereignis,  das  allmählich  erst  in  seiner 
eigentliche  Wirkung  sich  geltend  machte,  in  jener  Übergangszeit  der 
Handschrift  in  den  Wiegendruck,  die  die  andere  Hälfte  des  fünfzehn- 
ten Jahrhunderts  insofern  bestimmend  für  Bibliophilie  und  Humanis- 
mus werden  ließ,  als  es  sie  mit  dem  Bücherwesen  von  Grund  aus 
veränderte.  Papst  Nicolaus  V.  ist  noch  ein  Repräsentant  der  alten 
Bibliophilen,  die  auch,  soweit  sie  in  die  neue  Zeit  hineinlebten,  mit 
den  jungen  sich  nicht  verständigen  konnten  oder  wollten.  Dafür  ist 
ein  Beispiel  der  bedeutendste  Buchhändler  der  letzten  Generation, 
die  noch  im  Bannkreise  des  geschriebenen  Buches  lebte,  Vespasiano 
da  Bisticci  [1421 — 1498]  aus  Florenz.  In  der  Übergangszeit  der 
Buchhandschrift  in  das  Druckwerk,  die  man  das  Wiegendruckzeit- 
alter zu  nennen  pflegt,  gehörte  ein  Vertreter  der  alten  Bibliophilie, 
der  Vespasiano  war,  aus  Gründen,  die  die  besten  Bücherliebhaber  und 

56 


16.  JAHRHUNDERT 

Büchersammler  dieser  Epoche  für  die  richtigsten  halten  mußten, 
zu  den  Anhängern  der  Buchhandschrift.  Nicht  nur  seinen  Beruf 
verteidigte  der  Capo  der  Schreiber  Toskanas,  wenn  er  sich  mit  Stolz 
gegen  den  Andrang  der  sich  ausbreitenden  Büchermassen  wehrte. 
Das  ästhetische  Gefühl,  gewöhnt  an  die  Prachtentfaltung  reichster 
Schreibmeisterwerke,  war  von  der  noch  häufigen  Armut  der  neuen 
buchgewerblichen  Erzeugnisse  verletzt.  Auch  die  Buchdrucker 
hatten  für  ihre  hervorragendsten  Leistungen  ja  auf  die  Illuminatoren 
und  Miniatoren  nicht  verzichtet.  Und  die  Buchfreunde  sind  allmäh- 
lich erst  dadurch  für  die  neuen  Bücher  gewonnen  worden,  daß  deren 
Ausstattung,  die  Form  einer  Liebhaberausgabe  gewinnend,  die  Druck- 
werke erlesenen  Handschriften  vergleichbar  werden  ließ,  die  Auf- 
lagengleichheit durch  besondere  Vorzugsausgaben  beseitigte,  die  eine 
am  Ausgange  des  Jahrhunderts  sich  neu  entwickelnde  Einbandkunst 
noch  mehr  persönlicher  zu  gestalten  lehrte.  Aber  nicht  allein  all- 
gemeine ästhetische  Bedenken  oder  Bemühungen,  ein  Sammler- 
stück sorgfältigster  Arbeit  zu  erhalten,  wirkten  auf  den  ursprüng- 
lichen Widerwillen  der  Bibliophilen  gegen  das  gedruckte  Buch  ein. 
Mehr  noch  waren  literarische  Motive  seine  eigentliche  Ursache.  Ein- 
mal blieb  die  Auswahl  der  gedruckten  Werke,  die  die  Pressen  liefer- 
ten, jahrzehntelang  mehr  nach  weiteren  Bedürfnisfragen  und  buch- 
geschäftlichen Zweckmäßigkeiten  geregelt,  vieles,  was  sich  der 
Buchfreund  wünschte,  versagte  ihm  der  Drucker.  Sodann  gab  es 
oft  allzuschlechte  Texte,  und  der  Humanist,  der  nicht  auf  die  philo- 
logische Gewissenhaftigkeit  verzichten  wollte,  mußte  zur  Hand- 
schrift greifen.  Man  war  noch  kein  Bücherverschlinger  und  Schnell- 
leser geworden,  die  Beschäftigung  mit  einem  Buche  füllte  Wochen, 
Jahre,  ein  Leben  aus.  Die  literarische  Überlieferung  wurzelte  noch 
nicht  ganz  und  gar  im  Buche,  das  eine  Gedächtnishilfe  war.  Nicht 
wenige  Schreiber,  nicht  wenige  Schrifttumsgelehrte  konnten  ein  be- 
rühmtes Werk  Wort  für  Wort  auswendig.  Freilich,  man  bewegte 
sich  auch  im  engen  Kreise,  die  gleichen  Schriftsteller  mit  ihren 
gleichen  Schriften  fanden  sich  in  den  Bücher-  und  Schreibstuben 
immer  wieder.  Eine  Exklusivität  des  literarischen  guten  Tones 
herrschte,  dem  der  Anspruch  der  Buchdruckereien,  Buchware  jeder 

57 


ITALIEN 

Art  zu  vervielfältigen,  zuwider  sein  mußte.  Da  war  es  kein  Wunder, 
daß  die  den  Wissenschaften  nützliche  Kunst  des  Buchdrucks,  so 
umgrenzte  ein  Brief  des  Johannes  Lascaris  an  Piero  de*  Medici  ihren 
Wert,  nicht  als  eine  solche  empfangen  worden  ist.  Sie  begann  unter 
mancherlei  ökonomischen  und  technischen  Hemmungen  das  Buch 
als  Druckwerk  erst  auszubilden;  was  sie,  mit  der  Buchhandschrift 
in  Wettbewerb  tretend,  vorerst  leisten  konnte,  waren  nicht  Her- 
stellungsgüte und  Herstellungsschnelligkeit,  sondern  Massenver- 
vielfältigung. Und  wenn  Victor  Hugo  in  seinem  Nötre  Dame-Roman 
den  gotisch  denkenden  Menschen  prophezeien  läßt,  die  Baukunst 
werde  von  der  Buchdruckerkunst  getötet  werden,  hat  er  auf  das  an- 
schaulichste in  diesem  dichterischen  Bilde  ein  Zeitempfinden  zu- 
sammengedrängt, das  die  Beweglichkeit  des  neuen  Buchgeistes  in 
seiner  Dämonie  erkennen  läßt. 

Der  Auftrag,  Büchersammluugen  möglichster  Vollendung  zu 
schaffen,  ist  Vespasiano  da  Bisticci  zweimal  zuteil  geworden,  zwei- 
mal mußte  er  seine  Autorität  beweisen,  deren  er  sich  in  buchgewerb- 
lichen Dingen  erfreute:  als  er  für  Cosimo  de'  Medici  und  für  den 
Herzog  Federigo  da  Montefeltro  [1444 — 1482]*  in  Urbino  einen 
Büchersaal  einzurichten  hatte.  In  eiligster  Arbeit  hat  er  dem  Medi- 
zäer  den  Beweis  seiner  Leistungsfähigkeit  gegeben,  sie  mit  seinem 
Schreibvermerk:  ,,Vespasianus  librarius  fecit  fieri  Florentie'*  in  den 
eleganten  Renaissancecodices  seiner  Schreibstube  verbürgend,  die 
auf  feinem  weißen  Pergament,  mit  Randleisten,  Wappen,  Zierbuch- 
staben ausgeschmückt,  die  klare,  neue  Schrift  trugen,  welche  man, 
sie  der  karolingischen  Epoche  entstammenden  Manuskripten  nach- 
bildend, für  eine  echte  Wiedergabe  antiker  Muster  hielt.  Ob  nicht 
mehr  Schönheit  als  Sorgfalt  die  Bücher  des  geschäftigen  und  ge- 
schickten Mannes  auszeichnete,  für  den  Janus  Panonius  warb:  ,,In 
Italien  kann  man  Bücher  kaufen,  so  viel  man  will  —  schickt  nur  Geld 
nach  Florenz,  Vespasiano  wird  allein  für  das  weitere  sorgen'*,  stehe 
dahin.  Doch  der  Eifer,  der  seinen  Betrieb  leitete,  sein  Humanisten- 
stolz waren  echt.  Kein  schöneres  Lob  wußte  er  noch  1482,  als  er 
seine  Lebenserinnerungen  schrieb,  in  denen  er  seinen  besten  Kunden 
die  prachtvollsten  Ehrenmale  setzte  und  die  Namen  der  schlechten 

58  *  ^^^'  24 


15.  JAHRHUNDERT 

verschwieg,  dem  Herzog  Federigo  zu  finden,  als  dieses,  er  würde  sich 
eines  gedruckten  Buches  in  seiner  Sammlung  schämen.  Piero  de' 
Medici,  il  Gottoso,  Lorenzo  il  magnifico  und  dessen  Bruder  Giu- 
liano  gehörten  zu  denen,  die  Vespasiano  keiner  Vita  würdigte.  Sie 
mochten  keine  Sammler  mehr  nach  seinem  Sinne  gewesen  sein.  Hatte 
nicht  Piero  de'  Medici  beim  Tode  des  Königs  Matthias  Corvinus 
geäußert,  die  Scrittori  würden  jetzt  eine  Preisermäßigung  eintreten 
lassen  müssen,  da  nun  er  allein  sie  beschäftige.  Das  hieß  denn  doch 
das  Bibliophilen-Mäzenatentum  allzu  sehr  mit  kaufmännischer  Nüch- 
ternheit paaren  und  Vespasiano  kränken.  Herzog  Federigo,  in  dessen 
Hofordnung  der  Bibliothekar  nicht  fehlte,  feilschte  nicht.  Bei 
einem  Buche  nach  dem  Preise  zu  fragen,  schien  Vespasiano  ver- 
ächtlich zu  sein.  Man  mußte  sich  freuen,  es  überhaupt  erwerben  zu 
können.  Aber  die  barbarische  Erfindung,  die  aus  dem  Norden  kam, 
machte  das  Buch  zu  einer  Ware  für  jedermann:  das  Büchersammeln 
hörte  auf  kostbare  und  kostspielige  Kunstpflege  zu  sein. 

30000  Goldgulden  soll  Herzog  Federigo,  der  bereits  als  Knabe 
sammelte,  für  seine  Bücherei  ausgegeben  haben.  Das  Ideal  huma- 
nistischer Vollständigkeit  suchte  er  zu  erreichen,  indem  er  von  den 
anderen  bekannten  Bibliotheken  deren  Bücherlisten  erbat  und  ver- 
glich, um  zukaufen  und  zuschreiben  zu  lassen,  was  ihm  fehlte;  am 
Ende  einer  bibliographischen  Epoche,  in  der  sich  die  Bücher  noch 
zählen  ließen,  aber  die  Meinungen  über  den  Wert  der  Alten  und 
ihrer  Werke  schon  im  Streite  standen,  als  welcher  nicht  mehr  um 
falsche  oder  richtige  Texte  ging,  sondern  um  ihren  falschen  oder 
richtigen  Inhalt,  um  die  Autorität  der  Klassiker  selbst.  Der  Ein- 
seitigkeit und  dem  Formenwesen  des  Humanismus  waren  die  Män- 
ner entgegengetreten,  die,  wie  der  gelehrte  Pico  della  Mirandola 
[1463—1494]  in  der  Platonischen  Akademie,  deren  Seele  Marsiglio 
Ficino  [1433—1499]  war  und  die  die  Hofhaltung  des  prächtigen 
Lorenzo  de*  Medici  schmückten,  nicht  allein  den  Aristoteles  und  Plato 
in  Übereinstimmung  zu  bringen  wünschten,  sondern  die  Anschauun- 
gen der  verschiedenen  Völker  und  Zeiten.  Nicht  allein  nur  das  Dogma 
vom  klassischen  Altertum  wollte  Pico  della  Mirandola  gelten  lassen, 
sondern  ebenso  die  Lehren  der  arabisch- jüdischen  Philosophen  und 

59 


ITALIEN 

der  Scholastiker.  ,,Wir  werden  ewig  leben,  nicht  in  den  Schulen 
der  Silbenstecher,  sondern  im  Kreis  der  Weisen,  wo  man  nicht  über 
die  Mutter  der  Andromache  oder  über  die  Söhne  der  Niobe  diskutiert, 
sondern  über  die  tieferen  Gründe  göttlicher  und  menschlicher  Dinge ; 
wer  da  näher  tritt,  wird  merken,  daß  auch  die  Barbaren  den  Geist 
hatten,  nicht  auf  der  Zunge,  aber  im  Busen.**  Solche  vergleichende 
Weltanschauungslehre  zu  rechtfertigen  sollten  die  Büchersamm- 
lungen ermöglichen:  Denkmäler  des  Geistes  der  Menschheit,  im  stän- 
digen Aufbau  begriffen,  nicht  lediglich  Schatzkammern  der  Über- 
reste einer  großen  Vergangenheit. 

Hinter  Florenz  war  anfangs  Rom,  der  Ausgangspunkt  der  euro- 
päischen Politik,  der  Mittelpunkt  der  geistlichen  Autorität,  die  große 
Zeugin  für  die  Herrlichkeit  der  Antike,  in  der  humanistischen  Be- 
wegung zurückgeblieben,  bis  die  Florentiner  Tommaso  Paren- 
tucelli  [Sarzana]  und  Enea  Silvio  Piccolomini  [1405 — 1464], 
als  Päpste  Nicolaus  V.  und  Pius  IL,  ihre  Aufnahme  begünstigten.. 
Jener,  der  Bibliophile,  von  dem  seine  Grabschrift  künden  durfte: 
,,excoluit  doctos  doctior  ipseviros**,  indem  er  der  Erneuerer  der  Biblio- 
theca  Vaticana  wurde,  dieser,  indem  er  seine  Jugend  nicht  verleug- 
nete. Manchen  Humanisten  des  päpstlichen  Hofes  zierte  der  Kardi- 
nalspurpur, ihn  trug  der  Gräcist  Basilios  Bessarion  [1395—1472], 
ein  Bischof  der  oströmischen  Kirche,  und  der  Latinist  Pietro 
Bembo  [1470—1547],  deren  beider  Namen  mit  der  berühmtesten 
Büchersammlung  Venedigs  verbunden  bleiben  sollte.  Bessarion 
hatte,  kein  Opfer  scheuend,  er  soll  30000  Goldgulden  in  Handschriften 
umgetauscht  haben,  eine  Bücherei  entstehen  lassen,  damit  sein  un- 
glückliches Vaterland,  wenn  es  frei  würde,  das  verlorene  Schrift- 
tum wiederfände.  So  sorgte  er  für  einen  diese  Absicht  gewährleisten- 
den Aufbewahrungsort  und  fand  ihn  in  Venedig,  dessen  Signorie  sich 
zum  Bau  einer  Bibliothek  willig  zeigte.  Der  Lagunenstadt  hinter- 
ließ er,  die  Begründung  seiner  Stiftung  in  dem  bekanntesten  Biblio- 
philentestament  der  Renaissance  gebend,  seine  Bücher,  die  zum 
Grundstock  der  Markusbibliothek  wurden.  Auch  die  sehr  bekannte 
Büchersammlung  eines  anderen  Bibliophilen- Humanisten,  des  Sekre- 
tärs von  acht  Päpsten,   des   glückbegünstigten  Bücherfinders  und 

60 


15.  JAHRHUNDEKT 

Bücherspähers  Gian  Francesco  Poggio  Bracciolini  [1380 
--1459]*  aus  Florenz,  blieb  nicht  in  Rom,  sondern  gelangte  in  die 
Medizäerbibliothek  seiner  Vaterstadt;  ebenfalls  ein  Zeichen,  wie 
schwache  Anziehungskraft  damals  die  Büchersammlung  des  Heiligen 
Stuhles  auszuüben  vermochte.  Die  alten  Büchersammlungen  der 
Päpste  waren  zerstreut  worden.  Noch  1432  schrieb  Traversari 
darüber  an  Niccoli:  ,,Bibliothecam  S.  Petri  videre  volui,  sperans 
aliquid  inventurum  novi.  Audieram  enim  complura  ibi  esse  Volu- 
mina.   Sed  nihil  omnino  memoria  dignum  inveni.^^ 

Der  Begründer  der  Bibliothek  des  Vatikans  ist  Papst  Niko- 
laus V.  [1447—1455]  geworden,  jener  Bibliophile,  der,  als  er  noch 
Tommaso  Parentucelli  [Tommaso  von  Sarzana]  hieß,  sich  eines 
Mäcenas  Macht  und  Mittel  wünschte,  um  damit  Bauten  und  Bücher- 
[sammlungen]  schaffen  zu  können.  Sein  Freund  und  vertrauter  Rat- 
geber Vespasiano  da  Bisticci,  der  ihn  [in  den  Lebensbeschreibungen] 
als  das  Licht  und  den  Schmuck  der  Kirche  und  seines  Jahrhunderts 
rühmte,  berichtet:  „Tommaso  gab  für  die  Bücher  mehr  Geld  aus 
als  er  hatte.  Für  ihn  arbeiteten  mehrere  der  besten  Schreiber,  die 
aufzufinden  waren,  und  er  feilschte  nicht  um  ihren  Lohn.  Denn 
seinem  Glück  vertraute  er,  hoffend,  er  werde  nichts  ermangeln. 
Also  damals  arm,  besorgte  er  doch,  daß  die  für  ihn  angefertigten 
Bücher  in  jeder  Hinsicht  schön  würden.  Da  ereignete  es  sich  dann 
wohl,  daß  dem  gelehrten  Tommaso  das  Geld  ausging  und  er  borgend 
Bücher  kaufen  und  er,  um  die  Kalligraphen  und  Miniatoren  lohnen 
zu  können,  Schulden  machen  mußte,  die  er  erst  später  tilgte.  Bei 
den  Buchhändlern  von  Florenz  war  er  meistgesehen,  alles  Geld, 
das  er  auftreiben  konnte,  wandte  er  ihnen  zu.  Er  besaß  Bücher  aller 
Fächer.  Er  hatte  des  heiligen  Augustinus  Werke  in  zwölf  Bänden, 
die  alle  für  ihn  ganz  neu  geschrieben  und  verglichen  wurden.  Doch 
vernachlässigte  er  neben  den  Werken  der  Kirchenväter  auch  nicht 
die  Arbeiten  der  Gelehrten  neuer  Zeit.  Soweit  das  nur  immer  in 
seinem  Vermögen  stand,  schaffte  er  Bücher  an,  von  denen  in  seiner 
Sammlung  nur  wenige  standen,  die  er  nicht  mit  dem  allergrößten 
Fleiße  durchgelesen  und  mit  Randbemerkungen  in  seiner  schönen, 
zwischen  dem  antiken  und  dem  modernen  Stil  sich  haltenden  Hand- 


*  Abb.  17 


61 


ITALIEN 

Schrift  ausgestattet  hätte.  Es  befindet  sich  in  der  BibUothek  bei 
Santo  Spirito  in  Florenz  ein  Manuskript,  das  er  den  Mönchen  ge- 
schenkt hat,  des  heiligen  Augustinus  Buch  gegen  den  Pelagianer 
Julianus  und  andere  Irrlehrer.  Es  ist  ganz  und  gar  mit  Anmerkungen, 
die  er  in  der  eben  erwähnten  Handschrift  machte,  versehen.  Stets, 
wenn  ihn  eine  Gesandtschaft  mit  dem  Kardinal  Albergati,  den  er 
ständig  begleitete,  aus  Italien  führte,  brachte  er  ein  neues  hier  noch 
unbekanntes  Werk  heim.  Derartige  Funde  waren  die  Reden  des 
Papstes  Leo  und  die  Postille  des  Thomas  von  Aquino  zum  Evan- 
gelium des  Heiligen  Matthäus,  bisher  in  Italien  unbekannte  vor- 
treffliche Werke  sowie  Werke  neuerer  Zeit.  Denn  alle  griechischen 
und  lateinischen  Autoren  waren  ihm  bekannt,  keinen  Schriftsteller 
in  den  Wissenschaften  gab  es,  von  dem  er  nicht  gehört  hätte.  Des- 
halb war  auch  niemand  besser  geeignet  als  der  gelehrte  Tommaso, 
um  eine  Büchersammlung,  die  alle  Wissenschaften  umfassen  sollte, 
einzurichten  und  zu  ordnen.  Bei  der  Begründung  der  Bibliothek 
von  San  Marco  schrieb  ihm  Cosimo  de'  Medici,  er  möge  ihm  die 
hierfür  zu  befolgenden  Regeln  aufstellen.  Das  geschah  auch,  eigen- 
händig schrieb  er  sie  auf  und  schickte  sie  dem  Cosimo.  In  ihrer 
Befolg  ungwurden  die  beiden  Büchersammlungen  eingerichtet,  in 
San  Marco  und  im  Fiesolekloster,  auch  die  Büchersammlungen  des 
Herzogs  von  Urbino  und  des  Alessandro  Sforza  richteten  sich  nach 
ihnen.  Für  die  Begründung  einer  Bücherei  ist  dieser  Kanon  unent- 
behrlich." 

Eine  Anweisung  bibliothekstechnischer  Art  sind  freilich  die 
Büchereiregeln  des  Magisters  Tommaso  Parentucelli  nicht.  Das 
Bedürfnis  für  eine  Beschäftigung  mit  dem  Betriebe  einer  Bücher- 
sammlung war  damals  weder  bewußt  noch  überhaupt  vorhanden.  Sie 
sind  eine  auswählend  die  besten  Werke  aufzählende  Bücherliste,  die 
kennzeichnend  in  ihrer  Zusammensetzung  für  den  Geschmack  eines 
höchstgebildeten  humanistischen  italienischen  Klerikers  ist,  also 
dafür,  welches  Büchergut  ein  Theologe  des  fünfzehnten  Jahrhunderts 
für  unentbehrlich  hielt,  der  in  den  weltlichen  Wissenschaften  seiner 
Zeit  vortrefflich  Bescheid  wußte.  Voran  steht  die  Bibel,  ihr  folgen 
die  Kirchenväter  und  die  Kommentare.    Aristoteles  und  seine  Er- 

62 


15.  JAHRHUNDERT 

klärer  fähren  die  Philosophie  an,  in  der  die  arabisch-hebräischen 
[Averroes,  Avicenna,  Maimonides]  und  die  anderen  griechischen 
Meister  [in  lateinischen  Übersetzungen]  mit  den  Mathematikern 
[Boethius,  Euclid,  Vitulo,  Ptolomaeus]  ebenfalls  ihren  Rang  haben. 
Den  Beschluß  machen  die  Bücher  de  studiis  humanitatis,  die  zur 
Grammatik,  Rhetorik,  Poetik,  Moral  gehörenden  Schriften,  von 
denen  Tommaso  voraussetzt,  daß  sie  dem  Anfragenden  ohnehin  be- 
kannt wären,  weshalb  er  nur  die  ihm  am  wichtigsten  erscheinenden 
römischen  Dichter  [Vergilius,  Ovidius,  Statins,  Horatius,  Lucanus], 
Dramatiker  [außer  Seneca;  Epiker  und  Satiriker  fehlen],  Geschichts- 
schreiber, Grammatiker,  Philosophen,  Redner  anführte. 

Ein  rascher  Aufstieg,  in  drei  Jahren  [1444—47]  wurde  er  Bischof, 
Kardinal,  Papst,  brachte  Tommaso  Parentucelli  die  Tiara  und  seiner 
Bücherliebe  die  Möglichkeit,  sich  in  einer  großartigen  Schöpfung 
auszuwirken:  in  der  Begründung  der  Vaticana,  die  Papst  Nicolaus  V. 
durch  die  Vereinigung  der  Bestände,  die  sein  Vorgänger,  Papst 
Eugen  IV.  hinterlassen  hatte  [etwa  350  Handschriften],  mit  dem 
eigenen  ausgewählten  Bücherschatz  vollzog.  Den  weiteren  Ausbau 
begünstigten  die  Zeitumstände,  besonders  das  Jubiläumsjahr  1450, 
das  die  Kassen  füllte.  Sammeln  hieß  damals  noch  suchen  nicht  in 
der  Art  des  Aufstöberns  von  Handschriften  schlechthin,  sondern  in 
der  des  Zusammenbringens  und  Zusammenstellens  der  Texte.  Die 
Bemühungen  um  deren  Berichtigung  und  Vervollständigung,  um 
das  Erforschen  noch  unbekannter,  verlorener  Werke  setzten  ein 
System  der  Büchereivermehrung  voraus  ähnlich  dem,  das  sich  schon 
in  Alexandreia  und  Pergamon  bewährt  hatte.  Abschriften  sollten 
besorgt  werden,  wenn  die  Originale  sich  nicht  beschaffen  ließen; 
ausgedehnte  Bücherreisen  sollten  den  Rohstoff  gewinnen,  den  die 
Bibliothek  sichtete;  das  Buchgeschenk,  das  entgegenkommende 
Handschriftenherleihen  an  sonstiger  Zahlungsstatt  angenommen 
werden.  Die  Bibliothekspolitik,  die  der  Papst  treiben  konnte,  mußte 
klug  geleitet  werden,  um  ihre  Ziele  zu  erreichen.  Nicolaus  V.  ver- 
stand sich  auf  sie.  Seine  Expeditionen  gingen  bis  in  den  fernen 
Osten  [nach  Griechenland],  bis  in  den  hohen  Norden  [nach  Eng- 
land, Dänemark,  Preußen];  mit  Gold  und  Gunstbezeugungen  war  er 

63 


ITALIEN 

nicht  sparsam.  Bisweilen  war  es  nur  ein  Buchgerücht,  das  ein  kost- 
spieliges Unternehmen  veranlaßte,  wie  die  vierjährige  Reise  des 
Alberto  Enoche  aus  Ascoli,  der  zur  Entdeckung  einer  vollständigen 
Liviushandschrift  auszog,  versehen  mit  Empfehlungs-  und  Gnaden-* 
schreiben,  in  denen  ausdrücklich  bestätigt  wurde:  daß  der  Papst 
sich  mit  Abschriften  begnügen  und  die  Originale  an  Ort  und  Stelle 
lassen  werde.  Und  wenn  auch  in  diesem  Falle  das  erhoffte  Ergebnis 
ausblieb,  der  Papst  die  Rückkehr  seines  Buchgesandten  überhaupt 
nicht  mehr  erlebte,  so  waren  dafür  anderwärts  die  entschlossen  wahr- 
genommenen Gelegenheiten  ihm  desto  günstiger.  Die  Eroberung 
Konstantinopels  durch  die  Türken  veranlaßte  eine  weitausgedehnte 
Büchersuche,  die  gefährlich  und  deshalb  diplomatisch  im  geheimen 
durchzuführen  war.  Der  Erwerb  griechischer  Handschriften  durch 
die  Agenten  des  Papstes  lohnte  die  für  diese  gezahlten  hohen  Preise. 
Mit  Recht  durfte  Filelfo  rühmen,  Freigebigkeit  und  Großmut  des 
einen  Papstes  Nicolaus  V.  habe  Griechenlands  Untergang  verhütet, 
indem  sie  es  nach  Großgriechenland,  wie  einst  Italien  hieß,  hinüber- 
gerettet hätten.  Daneben  gingen  die  Nachforschungen  nach  den 
Handschriften  in  hebräischer  Sprache.'  Auf  die  Auffindung  des  Ur- 
textes des  Matthäusevangeliums  hatte  Papst  Nicolaus  V.  einen 
Preis  von  5000  Dukaten,  ein  großes  Vermögen,  ausgesetzt,  das  sich 
freilich  niemand  verdienen  konnte.  Und  ebenso  wie  in  der  Fremde 
die  Agenten  des  Papstes  mit  Mühen  und  Mut,  dank  seiner  Frei- 
gebigkeit auch  vor  den  kostspieligsten  Ausgaben  nicht  zurück- 
schreckend, ihm  Abgaben  und  Steuern  in  Handschriftensammlungen 
heranziehend,  die  Geistesgüter  der  Vergangenheit  bargen,  waren  in 
seiner  Umgebung  die  gelehrtesten  Männer  und  geschicktesten 
Schreiber  tätig.  Von  überallher  wandten  sich  Bücherwidmungen, 
die  nach  damaliger  Gewohnheit  auch  ihren  baren  Lohn  heischten, 
an  ihn.  Keinem  Kaiser,  keinem  früheren  Papste  seien  so  viele  Werke 
wie  Nicolaus  V.  gewidmet  worden,  urteilte  Enea  Silvio.  Eine  echt 
humanistische  Idee  war  es,  das  ganze  griechische  Schrifttum  durch 
lateinische  Übersetzungen  für  Italien  zurückzugewinnen,  an  ihrer 
Verwirklichung  arbeitete  der  Papst  bis  zu  seinem  Tode.  Vespasiano 
meinte,  hätte  der  Papst  seine  Absichten  vollständig  ins  Werk  setzen 

64 


15.  JAHRHUNDERT 

können,  dann  würde  die  Bibliothek  etwas  Wunderbares  geworden  sein. 
In  ihr  sollte  Rom  der  geistige  Mittelpunkt  der  Erde  werden.  ^^Operam 
damus,  ut  pro  communi  doctorum  virorum  commodo  habeamus 
librorum  omnium  tum  latinorum  tum  graecorum  bibliothecam  conde- 
centem  Pontificis  et  sedis  apostolicae  dignitati"  umschrieb  Nico- 
laus V.  diesen  Gedanken  in  dem  Empfehlungsschreiben  an  den 
Hochmeister  des  deutschen  Ordens,  das  er  dem  Alberto  Enoche  mit- 
gegeben hatte.  Er  durfte  seinen  großzügigen  Plan  nicht  vollenden 
und  auch  den  geplanten  Prachtbau  der  Sammlung  konnte  er  nicht 
mehr  ausführen  lassen.  Seine  Abschreiber,  die  er  in  seiner  Residenz 
und  sonst  im  Dienste  hatte  —  es  gab  wenige  Orte,  wo  seine  Heilig- 
keit nicht  Abschreiber  gehabt  hätten,  sagt  Yespasiano  —  und  für 
deren  Wohlergehen  er  ängstlich  sorgte  —  als  ihn  1450  die  Pest  aus 
Rom  nach  Fabriano  vertrieb,  behielt  er  die  Schreiber  und  Über- 
setzer bei  sich,  damit  sie  ihm  nicht  wegstürben  —  waren  aus- 
erwählte Schönschreiber,  des  Pergamentes  würdig,  das  er  ihnen 
anvertraute;  seine  Buchbinder  mußten  die  Prachtbände,  die  sein 
Wappen  zierte,  mit  allem  Schmuck  versehen,  auf  den  sie  sich  ver- 
standen. Die  Aufwendungen,  die  Papst  Nicolaus  V.  für  diesen 
Bücherschatz  in  acht  Jahren  gemacht  hat,  sollen  40000  Scudi 
[nach  Assemani,  nach  anderen  30000  Goldgulden]  betragen  haben. 
Rund  1200  Handschriften  hinterließ  er,  die  größte  Sammlung 
seiner  Zeit.  56  Bände,  fast  nur  antike  Klassiker,  bildeten  die  Bi- 
bliothek seines  Arbeitszimmers,  die  übrigen  waren  in  acht  Schrän« 
ken  in  einem  Raum  mit  einem  breiten  und  hohen  Fenster  unter- 
gebracht, auf  die  sie,  nicht  ohne  Rücksicht  auf  die  Lieblings- 
bücher des  Papstes,  verteilt  waren,  der  betrachtend,  blätternd, 
lesend  gern  im  Umgange  mit  seinen  Büchern  verweilte.  Dem 
Papste  Kalixt  III.  fehlte  der  Büchersinn  seines  Vorgängers,  seine 
Regierungssorgen,  die  Türkengefahr,  nahmen  ihn  vollkommen  in 
Anspruch.  Aber  er  war  doch  auch  dem  fein  humanistisch  gebildeten 
Bibliophilen  Nicolaus  V.  verglichen  eine  amusische  Persönlichkeit, 
mag  das  bissige  Geschichtchen  des  Yespasiano  nun  richtig  sein  oder 
nicht:  Als  Calixtus  die  Regierung  antrat  und  die  zahlreichen  aus- 
gezeichneten Bände  besah,  von  denen  ein  Halbtausend  in  karmesin- 


BOQENO    5 


65 


ITALIEN 

farbiger  Samtkleidung  mit  Silberbeschlägen  sich  prunkend  zeigte, 
verwunderte  er  sich  nicht  wenig,  weil  ihm,  dem  Juristen,  nur  ge- 
heftete Akten  vertraut  waren.  Beim  Betreten  des  Büchereiraumes, 
da  er  den  Verstand  seines  Vorgängers  hätte  preisen  sollen,  klagte 
er:  ,,Seht  her,  wofür  jener  den  Kirchenschatz  verschwendete."  Aber 
Calixt  III.  ließ  nicht  allein  die  kostbaren  Einbände  entfernen,  um 
ihren  Erlös  in  die  Kriegskasse  fließen  zu  lassen.  Er  bekümmerte 
sich  auch  sonst  nicht  um  die  Bibliothek.  Aus  ihr  lieh  er  dem  Kardi- 
nal Isidor  von  Rußland  51  Bände  auf  Lebenszeit,  die  kaum  wieder 
zurückgegeben  wurden.  Erst  Papst  Sixtus  IV.  [1471  —  1484]  trat 
das  Erbe  von  Nicolaus  V.  an,  das  im  Sacco  di  Roma  [1527]  noch 
einmal  schwere  Verluste  erleiden  sollte,  die  durch  Rückkauf  ge- 
raubter Handschriften  teilweise  wieder  gut  zu  machen  dem  Kardinal 
Marcello  Cervino  gelang.  Mit  dem  Bau,  den  Papst  Sixtus  V.  [1585 
—  1590}  nach  den  Plänen  Papst  Gregors  XIII.  [1572—1585]  für  die 
Codices  und  libri  Vaticani  vollendete,  war  die  Bibliotheca  Vaticana 
die  3650  Bände  bei  dessen  Tode  zählte,  in  ihre  endgültige  Entwick- 
lung gelangt,  in  der  sich  ihr  andere  Büchers£^mmlungen  selbständig 
anfügten.* 

Die  Blütezeit  Italiens,  die  man,  mit  einem  Worte  ihre  Er- 
scheinungen und  deren  Ursachen  zusammenfassend,  Renaissance 
nennt,  ging  nicht  nur  von  den  großen  Stadtstaaten  Florenz  und 
Venedig,  nicht  nur  von  der  großen  Hofhaltung  der  Päpste  in  Rom 
aus.  In  dieser  Schöpfung  einer  neuen  Zeit  fehlten  auch  nicht  die 
kleineren  Fürstenhöfe  in  Oberitalien,  unter  denen  der  der  Este  in 
Ferrara  der  hervorragendste  war.  Ihn  zierten  die  Dichter  Bojardo, 
Ariosto,  Tasso,  edle  Geselligkeit  zu  einer  geistigen  Gemeinschaft 
im  Gewinnen  nationalen  Reichtums  für  die  Literatur  erhöhend.  Der 
Bestand  einer  Estensischen  Hofbibliothek  war  schon  im  vierzehnten 
Jahrhundert  vorhanden,  aber  erst  mit  dem  Ende  des  fünfzehnten 
erweiterte  sie  sich.  Im  Ausleihen  der  Bücher  war  sie  von  ungewöhn- 
licher Freigebigkeit.  Die  Büchersammlung  des  Hauses  Este  wurde 
1598  durch  Herzog  Cesare  von  Ferrara  nach  Modena  überführt,  als 
Clemens  VIII.  das  Herzogtum  Ferrara  einzog,  um,  als  Biblioteca 
Estense  noch  heute  eine  der  hervorragendsten  italienischen  Samm- 


66 


*  Abb.  i6 


16.  JAHRHUNDERT 

lungen,  diese  Stadt  zu  zieren.  Aber  auch  Ferrara  besitzt  in  der 
Bücherei  des  Studdio  publico  mit  dem  1801  hierher  von  S.  Benedetto 
gebrachten  Grabmal  Ariostos  ein  Denkmal  seiner  Glanzzeit,  aus  der 
mancher  Bibliophilennamen  unvergessen  blieb.  Die  Bibliothek  des 
Lilio  Gregorio  Giraldi  [1479—1552],  die  der  Dichter  Gio- 
vanbattista  Giraldi  Cinthio  [1504—1573]  erbte,  war  damals 
die  Akademie  der  Buchfreunde  Ferraras  gewesen,  in  der  man  häufig 
die  ausgezeichnete  Bücherkennerin  Olympia  Fulvia  Morata 
[1526—1555]  traf,  die  später  den  deutschen  Arzt  Andreas  Gruthler 
aus  Schweinfurt  heiratete  und  1554  bei  der  Plünderung  dieser  Stadt 
ihre  ansehnliche  nach  Deutschland  mitgenommene  Privatbibliothek 
verlor.  Alte  Überlieferungen  verschmolzen  mählich  mit  den  An- 
sprüchen einer  neuen  Buchzeit  in  den  anderen  Bildungsstätten  und 
Fürstensitzen  Italiens,  die,  obschon  die  Macht  ihres  politischen  An- 
sehens geschwunden  war,  noch  immer  die  feine,  höfisch-vornehme 
Weise  des  Umganges  mit  den  Büchern  übten,  die  die  humanistischen 
Verkehrsformen  eines  Bibliophilen-Cortegiano  gewesen  sind.* 

Die  Bedeutung  des  Buches  für  den  Buchfreund  humanistischer 
Gesinnung  lag  darin,  daß  es  der  Vermittler  einer  geistigen  Verständi- 
gung mit  den  Großen  der  Vergangenheit  war.  Deshalb  gerade  ge- 
staltete sich  der  Umgang  mit  den  Büchern  in  der  veredelten  Weise, 
die  alle  Geselligkeit  belebte  und  beseelte.  Nicht  allein  ein  Weis- 
heitskünder  und  Wissensschöpfer  blieb  das  Buch,  in  ihm  verkörperte 
sich  die  Persönlichkeit  eines  Werkes.  Bibliophilie  und  Humanismus 
wurzeln  darin  in  der  gleichen  Grundanschauung,  daß  sie  im  Buche 
den  Menschen  sich  zu  entdecken  mühen,  der  sein  Verfasser  war, 
daß  sie  Lebendigem  nachspüren.  Es  ist  eine  Abkehr  vom  Buche  "und 
sein  Wiederauffinden.  Eine  Abkehr,  weil  man  die  Autorität  des 
Buches  nicht  hinnahm  wie  einen  gesetzlichen  Zwang,  ein  Wiederauf- 
finden, weil  man  dem  überlegenen  Geist  des  Buches  gehorchen  wollte. 
Als  Luther  im  sechzehnten  Jahrhundert  die  Bibel  übersetzte,  als 
Milton  im  siebzehnten  Jahrhundert  seine  Areopagitika  schrieb, 
waren  sie  weit  mehr  Bibliophilen- Humanisten  als  die  gelehrten 
Philologen  ihrer  Zeit,  die  das  Erbe  von  Griechenland  und  Rom  ver- 
walteten.   Vielleicht  ist  es  gerade  das  Aufgehen  des  Humanismus  in 

5*  *  Abb.  26  67 


ITALIEN 

der  Wissenschaft  der  Philologie  gewesen,  seine  äußere  Geschichte, 
die  ihn  immer  mehr  mißverstehen  ließ.  Der  Enzyklopädismus  der 
Humanisten  war  etwas  anderes  als  die  antike  Polymathie,  als  die 
polyhistorischen  Anstrengungen  des  siebzehnten  und  die  enzyklo- 
pädischen Bemühungen  des  achtzehnten  Jahrhunderts;  war  weit 
weniger  ein  Wissen  aus  Büchern  oder  über  Bücher  als  ein  Verlangen 
nach  dem  Ebenmaß  geistiger  Wesenheit  aller  Bücher  und  des  einen, 
das  den  Leser  gerade  beschäftigte.  Es  gibt  kein  schöneres  Beispiel 
für  die  Auffassung  der  Buchgeselligkeit  im  humanistischen  Ver- 
stände als  Machiavellis  Beschreibung  seines  Tagewerkes.  1513  auf 
seinem  geringen  Landsitz  La  Strada  bei  Florenz  lebend  und  den 
, Principe*  schreibend,  teilte  er  seine  Stunden  in  wohlerwogener  Ab- 
wechslung ihres  Inhalts.  Alle  bereiteten  sie  ihm  Daseinsfeste,  die  der 
Arbeit  und  die  des  Ausruhens.  Und  aus  den  Beschwerlichkeiten  und 
Leiden,  die  der  Mißverstandene  tragen  mußte,  rettete  er  sich  am 
Ende  in  die  Gesellschaft  von  Seinesgleichen,  feierlich  sie  begrüßend 
und  feierlich  von  ihr  empfangen.  Mit  Sonnenaufgang  trieb  es  ihn  in 
den  Wald,  in  dem  der  Jäger  den  Körper  erfrischte  und  weitete,  um 
ermüdet  die  Quelle  aufzusuchen,  an  der  er  die  Krammetsvögel 
wußte.  Sein  Begleiter  war  ein  Buch,  Dante  oder  Petrarca  oder  ein 
anderer  Dichter  nicht  so  hohen  Ranges,  TibuU,  Ovid,  ihnen  ver- 
wandte. Hier  blieb  seine  Bücherlust  ein  genießendes  Spiel,  ein  er- 
götzendes Schwelgen  in  den  eigenen  Erinnerungen,  zu  dem  ihm  die 
dichterischen  Schilderungen  der  Liebschaften  und  Schwärmereien 
verhalfen;  die  Vorkost  der  Mahlzeit,  die  ihn  nach  Hause  rief. 
Dann  mochte  er  der  Menge  gehören,  sich  gern  in  den  Nachmittags- 
stunden mit  den  Bauern  und  ihrem  Zeitvertreib  beschäftigen.  Wenn 
aber  der  Abend  kam,  fand  er  ihn  daheim,  bereit  in  die  Bücherei  zu 
treten.  ,. Angemessen  gekleidet  schreite  ich  in  die  Hallen  der  Vorzeit. 
Aufgenommen  mit  Wohlwollen,  kann  ich  mich  hier  mit  jener  Nah- 
rung sättigen,  die  allein  mir  schmeckt,  weil  ich  für  sie  geboren  bin. 
Ich  habe  keine  Scheu,  mit  den  Alten  umzugehen  und  sie  nach  den 
Gründen  ihrer  Handlungen  zu  befragen.  Sie  sind  so  gütig,  mir  zu 
antworten,  für  vier  Stunden  ist  die  Langeweile  vergessen,  sind  die 
Leiden  verschwunden.*'    Machiavelli  beschreibt  den  Tag  eines  ein- 

68 


16.  JAHRHUNDERT 

Samen  Mannes  und  die  Einteilung,  die  er  seinem  Tage  gibt,  ist  die 
eines  südländischen  Temperamentes.  Ein  Geistesverwandter  in 
höheren  Breiten,  der  gleich  ihm  den  Verkehr  mit  klugen  Büchern 
den  mit  dummen  Menschen  vorzog,  Arthur  Schopenhauer,  hätte 
mancherlei  an  dieser  Einteilung  zu  tadeln  gefunden,  die  nicht  die 
frischesten  Stunden  für  die  Niederschrift  der  eigenen  Gedanken  vor- 
behielt. Indessen  Machiavellis  Mustertag  ist  ja  auch  nicht  ein  solcher 
für  seine  humanistischen  Zeitgenossen  gewesen  und  sein  Zeugnis 
nur  angerufen  worden,  um  damit  zu  bekunden,  wie  feinfühlig  man 
damals  die  Bücher  zur  Hand  nahm,  je  nachdem  man  sich  ihnen  als 
Freunden  oder  Führern  näherte.  Die  Kunstfertigkeit  des  Lesens 
war  auch  eine  Kunstfertigkeit  des  Umganges  mit  anderen  Persön- 
lichkeiten. Oder  vielmehr,  auch  sie  gehörte  einem  gesellschaftlichen 
Idealismus  an,  in  dem  das  Buch  neben  dem  Menschen  stand.  Der 
Bibliophile  blieb  frei  vom  Zwange  blinden  Buchglaubens  und  blin- 
der Buch  Vergötterung;  Anteil  ihres  inneren  Wertes  erschien  ihm  die 
äußere  Bücherpracht.  Darin  trat  eine  Änderung  nicht  zum  Besseren 
ein,  als  Büchermenge  und  Wissensschwere  wuchsen.  Beweis  der 
Gelehrsamkeit  wurde  die  auf  Vollständigkeit  weisende  Bücher^ahl. 
An  den  Wänden  standen,  wartend,  aufgereiht  die  Bände,  eingeteilt 
nach  den  Fächern  ihrer  Wissenschaften.  Doch  nicht  ohne  Müdigkeit 
sah  der  gelehrte  Sammler  sie  sich  vermehren,  wenn  er,  die  Begehr- 
lichkeit des  BesitzenwoUens  von  Büchern,  ihrer  Kenntnisse  und 
Kunde,  mit  seiner  Lebenszeit  verglich.  Leichter  nahmen  solche 
Zweifel  jene  Bücherliebhaber,  die  heiteren  Sinnes  die  Bücher  als 
Schmuckstücke  ihrer  Wohnung  erwählten,  sich  an  ihrem  Anblicke 
bereits  ergötzend.  Die  Aldusoffizin*  hatte  das  Beispiel  gegeben,  auch 
dem  Druckwerk  Ausstattungsprunk  zu  verleihen,  der  den  einzelnen 
Abzug  aus  der  gleichmachenden  Auflage  hervorhob.  Vorerst  aus 
geschäftlichen  Gründen  waren  ihre  Vorzugsausgaben  auf  gewählten 
Papieren  oder  Pergament  entstanden:  das  besondere  Buch  sollte  den 
Buchfreunden  der  alten  Schule  auch  in  seiner  neuen  Druckwerk- 
gestalt erhalten  bleiben,  ein  Einzelstück  persönlichen  Ranges 
sein.  Und  das  Bedürfnis  der  Gelehrten,  die  einen  breiten  Rand  für 
ihre    handschriftlichen    Vergleichungen    und    Vermerke    brauchten, 

*  Abb.  27—29  59 


ITALIEN 

sollte  das  Großpapier  befriedigen.  Daraus  entwickelte  sich  eine  eigene 
Art  der  Bücherliebhaberei,  die  die  neue  Einbandkunst  unterstützte. 
Die  Bücherlust  des  geschmackvollen  Sammlers  weckte  es,  wenn  er 
auswählend  und  auszierend  die  Bücher  seiner  Umgebung  bestimmte, 
sich  ihm  in  schöner  Gestalt  zu  zeigen,  die  sie  farbenfreudig  aus  dem 
Alltagsgrau  hervorleuchten  ließ.  Er  konnte  und  wollte  nicht  mehr 
alle  Bücher  haben,  die  ihm  erreichbaren  aber  sollten  auch  nach  etwas 
aussehen.  Barockes  Empfinden  und  Renaissancegefühl  verbinden 
sich  schon;  das  Buch  in  der  Form  einer  Liebhaberausgabe  erhielt 
den  Liebhaberwert  eines  Sammlerstückes,  den  die  anderen  Kenner 
neid-  oder  teilnahmsvoll  zu  schätzen  wußten  und  trennte  sich  derart 
schon  von  seinem  Besitzer  durch  den  unvermeidlichen  Verlust  der 
allernächsten  persönlichen  Werte,  die  ihn  mit  diesem  verbinden. 
Das  Leben  war  zu  vielseitig  geworden,  als  daß  es  im  Umkreise  einer 
Bücherrunde  verbleiben  konnte.  Da  gewann  sich  der  eine  die  glän- 
zenden Bände  zurück  als  eine  Bereicherung  seiner  Bücherträume, 
der  andere  erblickt  in  ihnen  einen  Rang,  Reichtum  erhöhenden 
Schmuck.  Berühmt  ihrer  kunstfertigen  Einbände  wegen  sind  be- 
sonders zwei  italienische  Liebhaberbüchereien  geworden,  die  von 
Tommas  o  Maioli  [u.  1500 — u.  1550]*  und  die  von  DemetrioCane- 
vari  [1559—1625],*  der  seit  1590  Leibarzt  des  Papstes  Urbans  VII. 
war.  Aber  die  beiden  Namen  sind  uns  nicht  viel  mehr  als  die  Be- 
zeichnungen dieser  Einbände.  Wir  wissen  nicht,  ob  und  inwieweit 
Maioli  selbständigen  Anzeil  an  der  Schöpfung  eines  neuen  Einbandstils 
nahm,  als  dessen  eigentlicher  Vertreter  ein  französischer  Buchfreund 
gilt,  Jean  Grolier.  Und  der  Besitz  Demetrio  Canevaris  an  Pracht- 
bänden, der  mit  seiner  Bibliothek  bis  1823  in  Genua  zusammen- 
blieb, ist  von  einem  uns  unbekannten  Vorgänger  ererbt  oder  gekauft 
gewesen.  Maioli  und  Canevari  waren  beide  nicht  die  einzigen 
Italiener  des  sechzehnten  und  siebzehnten  Jahrhunderts,  die  als 
Einbandliebhaber  sich  den  Ruf  sorgsamer  Buchpflege  erwarben. 
Auch  des  Kardinals  Michael  Bonelli  [1541—1598]  Namen  hat 
deshalb  heute  noch  einen  guten  Klang  und  die  Liste  ließe  sich  ver- 
längern, ohne  weiterreichende  Werte  zu  zeigen.  Denn  die  neue 
Einbandkunst    fand    in    Frankreich   ihre    Heimat,    wo    der   kunst- 


70 


*  Abb.  30—32 


16.  JAHRHUNDERT 

sinnigen  Sammelfreudigkeit  in  der  Mode  eine  starke  Verbündete 
erstand,  wo  das  Schrifttum,  sich  einer  machtvollen  nationalpoliti- 
schen Idee  unterordnend,  selbst  zu  einer  glänzenden  Machtstellung 
emporwuchs,  indessen  es  mit  dem  Ausgange  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts in  Italien  verfiel.  Dem  Lande,  in  dem  das  politische  Frei- 
heitsbewußtsein von  den  Spaniern,  das  philosophische  und  religiöse 
von  den  Jesuiten,  das  sprachliche  von  der  1582  gegründeten  Akademie 
der  Crusca  in  Florenz  unterdrückt  wurde,  deren  Zensur  einen  Kanon 
der  italienischen  Klassiker  aufrecht  erhielt,  den  sie  aufgestellt  hatte 
und  bis  in  die  von  ihr  als  gut  oder  schlecht  bezeichneten  Ausgaben 
überwachte.  Das  führte  zu  einer  Beschränkung  der  Bücherwahl, 
zu  einer  Regelung  der  Büchereien  nach  Zitaten.  Man  bemächtigte 
sich  müder  der  Schätze  der  Vergangenheit,  da  man  sie  in  gesicherter 
Wahrung  zu  halten  meinte.  Der  Überfluß  der  alten  und  neuen  Bücher 
hatte  andere  Sammler  als  die  aufraffenden,  doch  auch  weiter- 
gebenden Humanisten  werden  lassen.  Die  Bibliophilen,  die  Biblio- 
theken ersten  Ranges  gründen  wollten,  mußten  deren  Ausmessungen 
weit  und  immer  weiter  bestimmen;  ihr  Ziel  zu  erreichen  gelang 
ihnen  nur,  wenn  sie  ordnend  und  sichtend  ständig  in  der  Beschäfti- 
gung des  Sammeins  nicht  erlahmten.  Darin  wurde  die  Bibliophilie 
mehr  und  mehr  zu  einer  bibliothekarischen  Tätigkeit,  die  eine  eigene 
Wissenschaft  vom  Buche  erforderlich  machte. 

In  Padua  hatte  Gian-Vincenzio  Pinelli  [1538—1601]*  die 
bedeutende  Bibliothek  gesammelt,  in  der  sich  die  Buchfreunde 
dieser  Stadt  zu  treffen  pflegten,  so  daß  sie  einer  ununterbrochen  den 
Künsten  und  Wissenschaften  eröffneten  Akademien  verglichen 
worden  ist.  Alle  Fächer  waren  in  ihr  wohl  besetzt,  nur  die  der  Rechts- 
wissenschaften nicht,  die  Pinelli  leer  ließ,  da  ihm  sein  Vater  Paolo, 
ein  vornehmer  und  sehr  wohlhabender  Genuese,  das  juristische  Stu- 
dium aufgezwungen  hatte.  Dafür  dankte  er  seinem  Vater  ein  er- 
hebliches Vermögen,  das  ihm  ein  Büchersammeln  nach  seinen  Nei- 
gungen gestattete.  Der  Beschaffung  neuer  Bücher  diente  ein  über 
Europa  sich  ausdehnender  Briefwechsel  mit  führenden  Gelehrten, 
das  neue  Sammlungsverfahren,  das  die  Unvollkommenheiten  des 
internationalen   Buchhandels   wettmachen  sollte.    Weiterhin  hatte 


*  Ahh,  33 


71 


ITALIEN 

Pinelli  seinen  Agenten  in  den  großen  italienischen  Städten  den  Auf- 
trag gegeben,  allmonatlich  die  Runde  in  den  Pergament  verarbeiten- 
den Werkstätten  zu  machen,  um  Manuskripten  und   Manuskript- 
fragmenten nachzuspüren.   Auch  dieses  bUeb  noch  in  den  verschiede- 
nen Ländern  lange  eine  lohnende  Art    des  Bücherkaufens,  war  aber 
jedenfalls  dazu  ein  Zeichen,  wie  rasch  die  Ausbreitung  des  Buch- 
drucks die  Einschätzung  des  Buches  vernichtet  hatte  und  wie  sehr 
der   Kodex,   das   Humanistenideal,   als   eine   Kostbarkeit  in  seiner 
volkstümlichen  Wertung  gesunken  war.     In  Padua  hatte  Pinellis 
Sammeleifer   nur   einen   einzigenNebenbuhler    zu   fürchten   gehabt, 
seinen  Freund  Paolo  Aicardo.    Ein  Vertrag  beseitigte  ihren  Wett- 
bewerb, nach  dem  die  Bibliothek  des  Erstverstorbenen  dem  über- 
lebenden sufallen  sollte.    Derart  erbte  Pinelli  Aicardos  Büchernach- 
laß.  Als  er  dann  selbst  seinen  Bücherschatz  den  Erben  lassen  mußte, 
beabsichtigten  diese,  die  Bibliothek  nach  Neapel,  Pinellis  Geburts- 
stadt, zu  bringen;  ein  durch  die  venetianische  Regierung  vereiteltes 
Vorhaben,  die  die  Beschlagnahme  von  etwa  200 — 300  Handschriften- 
bänden, die  in  die  Markusbibliothek  gekommen  sind,  bestimmte,  weil 
sich  in  ihnen  Kopien  von  Dokumenten  zur  venetianischen  Politik 
befanden,  die  nicht  ins  Ausland  gelangen  sollten.    Die  anderen  Be- 
stände, die  freigegeben  wurden,  sollten  großenteils  in  drei  Schiffs- 
ladungen von  Genua  nach  Neapel  verfrachtet  werden.    Eines  dieser 
Schiffe  wurde  von  Piraten  aufgebracht,    die  die  unerwartete  Beute 
der  ,Bibliothek  Neptuns'  schenkten,  so  daß  nur  wenige  Bände  aus 
diesem   Seeabenteuer   gerettet   wurden,   indessen   der   glücklich  in 
Neapel  angekommene  Rest  dort,  lange  vernachlässigt,  in  Ballen  ver- 
packt blieb,  bis  er  in  der  Ambrosiana  vom  Kardinal  Borromeo  wieder 
erlöst  wurde.    Die  noch  in  Padua  zurückgebliebenen  Bücher  gaben 
den  Grundstock  einer  anderen  Pinelli-Privatbibliothek,  die  sich  der 
im  Levantehandel  reich  gewordene  Zweig   der  Familie  schuf  und 
deren  letzter  Besitzer  der  1785  in  Venedig  gestorbene  gelehrte  Buch- 
drucker und  Buchhändler  Maffeo  Pinelli*  gewesen  ist.    Der  an- 
gesehene Bibliograph  J.  Morelli  hatte  ihre  11861  Bände  in  einem 
ausgezeichneten  Katalog  beschrieben  und  die  Londoner  Buchhänd- 
ler Messrs.  Robson  &  Edwards  hatten  sie  für  13000  Zechinen 


72 


*  Abb.  34 


17.  JAHRHUNDERT 

[oder  ungefähr  7000  Pfund]  1788  erworben.  Aber  die  Auktion,  die 
im  März  und  April  1789,  im  Februar  und  März  1790  in  der  eng- 
lischen Hauptstadt  stattfand,  blieb  eine  verfehlte  Spekulation.  Die 
14778  Nummern  brachten  nur  9356  Pfund,  eine  Summe,  die  nach 
Abzug  der  Unkosten  die  Auktionatoren  keinen  erheblichen  Gewinn 
machen  ließ.  Immerhin  war  diese  bibliographisch-merkantile  Ope- 
ration für  die  Verlegung  des  Schwergewichtes  im  internationalen 
Büchersammelwesen  kennzeichnend:  sie  zeigte,  daß  Italien  auf  gehört 
hatte,  der  Mittelpunkt  zu  sein,  in  dem  die  Bücherschätze  der  Erde 
zusammenflössen,  die  hierher  die  Bibliophilen- Humanisten  leiteten. 
Der  Kardinal  und  Erzbischof  von  Mailand  Conte  Federico 
Borromeo  [1564-1631],*  der  für  60000  Lire  die  in  Neapel  befind- 
lichen Bücher  Pinellis  angekauft  hatte,  um  sie  der  von  ihm  1602 
aufgestellten  und  1609  der  Benutzung  eröffneten,  nach  dem  Mai- 
ländischen Schutzpatron  genannten  Biblioteca  Ambrosiana  zu- 
zuführen, ist  der  letzte  der  Büchereigründer  Italiens  gewesen,  der 
noch  größere  Handschriftenmassen,  wie  einst  die  Humanisten,  zu- 
sammenbringen konnte.  Aber  der  Plan  der  Anstalt,  den  er  nicht 
ohne  Eigenwilligkeiten  entworfen  hatte,  so  verbot  er  die  Druck- 
legung von  Katalogen,  war  doch  schon  durch  andere  Anschauungen 
beeinflußt  und  bestimmt,  die  auf  die  Entwicklung  eines  öffent- 
lichen, staatlichen,  wissenschaftlichen  Büchersammelwesens  wiesen. 
Nach  dem  Beispiel  der  Domherren  an  den  Kathedralen  wollte  er 
eine  wissenschaftliche  Behörde  einsetzen,  die  Doctores  Bibliothecae 
Ambrosianae,  ein  Gelehrtenkollegium  von  sechzehn  Mitgliedern, 
die  in  ihren  Fächern  die  Anschaffungen  beraten  und  überwachen, 
die  Arbeiten  der  Bibliotheksbesucher  unterstützen  und  selbst  biblio- 
graphisch-bibliothekarisch die  Bücherschätze  verwerten  sollten. 
Mangel  an  Mitteln  schränkte  diesen  Plan  ein.  Immerhin  aber  ent- 
hielt er  die  fortan  geltenden  Grundsätze  für  den  Auf-  und  Ausbau 
sowie  die  Benutzung  öffentlicher  Büchersammlungen  in  seinen  Grund- 
zügen und  verwies  darauf,  daß  die  Büchermassen  eine  Umstellung 
der  Büchersammelverfahren  herbeiführen  mußten,  daß  ein  einzelner 
nicht  mehr  der  Herr  aller  bekannten  Bücher  sein  konnte,  sondern 
nur  noch  ihr  Diener  in  der  Gestalt  des  eifrigen  Bibliothekars,  der  in 

*  Abb.  35  73 


ITALIEN 

den  Katalogen  verwaltete.  Wer  es  noch  anders  wollte,  wer  sich  nicht 
damit  begnügte,  auswählend,  genießend,  lernend  mit  den  Büchern 
Umgang  zu  haben,  versank  noch  bei  Lebzeiten  in  das  Büchergrab 
wie  jener  Florentiner,  den  man  allein  deshalb  nicht  einen  Biblio- 
manen  nennen  möchte,  weil  das  Ergebnis  der  ihn  beherrschenden 
Sammelleidenschaft  solch  ein  Urteil  verhindert. 

Der  absonderlichste  aller  Florentiner  Büchersammler  ist  An- 
tonio Magliabechi  [1633—1714]*  gewesen,  von  dem  man  behaup- 
tete: er  habe  nie  ein  Buch  zu  Ende  gelesen  und  doch  gäbe  es  keinen 
anderen,  der  gleich  ihm  die  Bücher  und  ihren  Inhalt  kenne.  Schon 
den  armen  Knaben  zog,  lange  bevor  er  lesen  lernte,  ein  gewaltiger 
Trieb  zum  Buche.  Ein  auf  ihn  aufmerksam  gewordener  Buch- 
händler nahm  sich  des  jungen  Magliabechi  an  und  nun  entwickelten 
sich  dessen  Bibliophilentalente  in  ihrer  ganzen  Einseitigkeit  und 
in  ihrer  ganzen  Stärke.  Der  Bibliothekar  des  Großherzogs  Cosimo  III., 
Michele  Ermini,  ebnete  ihm  weiter  den  Weg  zu  den  Wissenschaften; 
die  großherzogliche  Gunst  unterstützte  ihn.  Als  der  einundachtzig- 
j ährige,  seit  1673  Amtsnachfolger  Erminis,  die  Augen  schloß,  verlor 
Florenz  seinen  merkwürdigsten  Mitbürger  und  gewann  eine  neue 
Büchersammlung  europäischen  Rufes,  die  Biblioteca  Magliabe- 
chi an  a,  die  ihr  Stifter  dem  Großherzog  vermacht  hatte.  Ihre  30000 
Bände,  seitdem  reichlich  vermehrt,  wui^den  1859  mit  der  Palatina, 
der  großherzoglichen  Privatbibliothek  in  ifler  BibliotecaNazionale 
zusammengeschlossen.  Den  alten  Buchfreunden  seiner  Vaterstadt, 
die  er  nur  zweimal  zu  kurzen  Ausflügen  verließ,  läßt  sich  der  Bücher- 
zusammenschlepper  MagUabechi  nicht  vergleichen,  mögen,  sein  Fleiß, 
seine  Genügsamkeit,  seine  Kenntnisse  auch  lobenswert  scheinen. 
Denn  er  war  nur  ein  Diener  des  Buches  gewesen,  während  jene  seine 
freien  Herren  waren,  die,  gewohnt,  weit  über  die  Buchseiten  in  die 
Welt  hinauszuschauen,  von  den  Büchern,  die  ihnen  aus  allen  Zeiten 
und  in  allen  Zungen  reden  sollten,  das  Geheimnis  der  den  Geist  be- 
flügelnden Schwingen  entlehnten.  Es  ist  ein  gar  kläglicher  Gegensatz 
zwischen  den  Bibliophilen- Humanisten  und  dem  Büchersklaven 
Magliabechi.  Doch  nicht  allein  ein  Gegensatz  der  Charaktere,  auch 
ein  Gegensatz  der  Epochen. 

74  *  Abb.  38 


17.  JAHRHUNDERT 

Magliabechi,  dessen  Gelehrsamkeit  ein  Anagramm  seines  Na- 
mens, das  der  Pater  Finardi  ausgedacht  hatte,  kennzeichnete  [An- 
tonius Magliabechius  —  Is  unus  Bibliotheca  tnagna],  war  auch 
seiner  verwunderlichen  Lebensweise  wegen,  in  die  ihn  seine  leiden- 
schaftliche Bücherliebhaberei  zwang,  eine  von  keinem  Besucher 
der  Arnostadt  ausgelassene  Sehenswürdigkeit  geworden  und  die 
Magliabechiana  könnten  einen  dicken  Band  füllen,  in  dem  bald  über 
das  fabelhafte  Gedächtnis  dieses  Mannes,  bald  über  seine  Unrein- 
lichkeit  berichtet  wird,  die  sein  starker  Schnupftabaksverbrauch 
noch  verstärkte.  Oder  über  die  Einrichtung  seiner  Wohnung,  in 
der  die  Bücher  auch  die  Dienste  des  Hausgestühls  zu  leisten 
hatten.  Oder  darüber,  daß  Eier  seine  Hauptnahrung  waren,  daß  er 
nur  drei,  vier  Stunden,  und  zwar  auf  oder  zwischen  seinen  Büchern 
schlafe  usw.  Alle  diese  anekdotischen,  einander  nacherzählten 
Schnurrpfeifereien  lassen  freilich  auch  in  ihren  Übertreibungen  nicht 
verkennen,  wie  eigenwillig  diese  Persönlichkeit  gewesen  sein  muß 
und  wie  ihre  Beschränkung  auf  das  Leben  in  Büchern,  ihr  Bücher- 
wissen, ihre  Lese-  und  Sammelwut  sie  mit  seltsamen  Zügen  aus- 
stattete. Einen  Besuch  bei  dem  Wunderlichen  beschreibt  ein,  aus 
Rom  vom  15.  März  1692  datierter,  Brief  des  Heinrich  Bartsch  fol- 
gendermaßen: ,jZu  Florenz  war  ich  an  den  berühmten  Bibliothekar 
Magliabechi  von  Herrn  Professor  Schurzfleisch  rekommendiert,  wel- 
cher mich  gut  aufnahm  und  mir  und  meinen  Gefährten  ungemeine 
Höflichkeiten  erwies.  Er  ist  drei  ganze  Tage  mit  uns  herumgelaufen 
und  hat  uns  alle  Memorabilia,  insonderheit  die  Groß- Herzogliche 
Bibliothek  gezeigt.  —  Endlich  führte  er  uns  auch  in  seine  eigene 
Bibliothek ;  darinne  sah  es  gar  wunderlich  aus,  und  habe  ich  niemals 
eine  solche  Unordnung  gesehen,  werde  sie  auch  nicht  wieder  sehen. 
Der  Mann  lebt  ganz  allein,  hat  keine  Frau,  Magd  oder  einen  Jungen, 
sondern  läßt  sein  Essen  bei  den  Nachbarn  zurichten.  In  seinem 
Hause  [Parva  sed  apta  domus,  in  der  Gasse  della  Scala,  hinter  der 
Dominikaner- Kirche  gelegen]  findet  man  nichts  als  Bücher.  Alle 
seine  Mobilien  bestehen  aus  sechs  Stühlen  [auf  welchen  Bücher 
liegen]  und  aus  einer  Matratze,  auf  der  er  schläft.  Wenn  man  ins 
Vorhaus  kömmt,  liegen  Bücher,  eins  über  das  andere,  fast  bis  an 

75 


ITALIEN 

den  Balken,  so  daß  nur  ein  Gang  für  Eine  Person  gelassen  ist.  So 
sieht  es  auch  in  den  anderen  Kammern  aus.  Die  Treppe  ist  gleich- 
falls mit  Büchern  belegt,  so,  daß  man  oft  auf  dieselben  treten  muß. 
Der  Stall  ist  voll  Bücher.  Die  Repositorien  sind  drei-doppelt  mit 
Büchern  angefüllt.  Im  Hofe  steht  ein  Brunnen,  auf  dessen  Rande 
rund  umher  Bücher  liegen.  Und  doch  weiß  er  auch  das  geringste 
Buch  sogleich  zu  finden.  —  Sein  Geld,  was  er  hat,  erstreckt  sich 
nicht  über  20  Skudi,  und  das  liegt  zerstreut  zwischen  den  Büchern. 
Kömmt  ein  Bettler,  so  schickt  er  ihn  zuweilen  an  den  Tisch  und 
sagt,  er  soll  nehmen,  was  er  findet.  Er  hat  in  seinem  Hause  gern 
noch  einmal  so  viel  Bücher,  als  auf  der  Großherzoglichen  Bibliothek 
zu  finden  sind.  Bei  dem  Großherzog  ist  er  sehr  gelitten  und  kann 
von  ihm  soviel  Geld  bekommen,  als  er  will,  aber  er  achtet  kein  Geld, 
es  sey  denn,  Bücher  dafür  zu  kaufen.  Schnupftabak  ist  seine  größte 
Delikatesse,  welches  wir  schon  erfahren  hatten,  deswegen  wir  alle 
Tage  eine  Dose  füllten,  welche  auch  aufging.  Davon  hat  er  sich  die 
ungeheuere  Nase  so  verdorben,  daß  sie  aussieht  wie  ein  ungefegter 
Schornstein.  Wenn  wir  dieses  und  jenes  fragten,  so  diskurierte  er 
so  lange  und  so  vehement,  daß  ihm  das  Maul  schäumte.  Er  redet 
schlecht  Latein,  darum  er  schwer  dazu  zu  bringen  ist,  sondern 
meist  Italienisch. '' 

Das  Bildnis  des  Buchmannes  Magliabechi  armseliger  Herkunft 
und  geringer  Lebensgewohnheiten  hat  in  der  Porträtgalerie  der  ita- 
lienischen Bibliophilen  einen  einsamen  Platz.  Die  stolzesten  Fürsten- 
geschlechter verschmähten  es  vordem  nicht,  durch  ein  Büchereidenk- 
mal sich  ihre  Ehren  zu  erwerben.  Alte  angesehene,  begüterte  Fa- 
milien in  Italien,  die  für  die  Ausstattung  ihrer  Paläste  und  Villen 
Büchersammlungen  unterhielten,  Sammlungen,  die  wechselten,  weil 
sie  durch  Erbteilungen  auseinandergerissen  oder  zusammengefügt 
wurden,  Sammlungen,  die  vergessen  und  verkauft  wurden,  Samm- 
lungen, die  heute  noch  verschlossen  und  vorhanden  sind,  waren  seit 
dem  Bücherlust  und  Kunstfreude  fast  eine  Pflicht  der  vornehmen 
Welt  geworden,  zahlreich.  Aber  alle  diese  Büchersammlungen  sind 
doch  eigentlichen  Liebhaberbüchereien  nur  in  jenem  Sinne  zu  ver- 
gleichen, in  dem  man  einen  jahrhundertelang  angesammelten  Kunst- 

76 


17.  JAHRHUNDERT 

besitz  eine  Kunstsammlung  nennt,  weil  der  Bestand  einer  solchen 
in  ihr  überreich  vorhanden  ist,  weil  sie,  geordnet  und  verzeichnet, 
eine  Kunstsammlung  werden  würde,  die  als  ein  Ganzes  selbständig 
sich  zeigt.  Und  sogar  dann,  wenn  einzelne  Bücherliebhaber  einem 
ererbten  Bücherschatz,  ihn  ordnend  und  vermehrend,  eine  Zeitlang 
das  Gepräge  ihrer  Persönlichkeit  verliehen,  das  rasch  nach  ihrem 
Tode  verloren  ging,  da  die  erneuerte  Sammlung  durch  Teilungen 
wieder  zerfiel,  ist  ihr  Platz  in  der  Geschichte  der  berühmt  gewordenen 
Privatbibliotheken  nur  schwer  aufzufinden,  da  die  Nachrichten  über 
sie  ausführlicheren  Bericht  versagen,  sie  kein  Glied  in  der  Kette  einer 
Überlieferung  bildet.  Deshalb  würde  eine  Aufzählung  dieser  Büche- 
reien, soweit  da  und  dort  sich  ein  Hinweis,  eine  Urkunde,  ein  Ver- 
kaufsverzeichnis finden  läßt,  nicht  mehr  sein  als  eine  lange  Liste 
von  Namen  und  Zahlen  ohne  rechten  Zusammenhang.  Als  das  Bei- 
spiel einer  altberühmten  Familienbibliothek  ist  die,  1892  in  Rom 
versteigerte,  Biblioteca  Borghese  anzuführen,  die  kennzeich- 
nend ist  für  die  großen,  im  Anfange  des  siebzehnten  Jahrhunderts 
in  Rom  vorhandenen  vornehmen  Hausbüchereien.  Ihre  Gründer 
waren  der  Kardinal  Camillo  Borghese  [geb.  1552,  Papst  Paul  V. 
1605 — 1621]*  und  sein  von  ihm  adoptierter  Neffe  Scipione  Caf- 
farelli-Borghese  [1576—1633],  der  mit  sechsundzwanzig  Jahren 
Kardinal  und  Bibliotecario  di  S.  Romana  Chiesa  geworden  war. 
Damals  begannen  Macht  und  Mittel  der  Geschlechter,  die  noch  vor 
wenigen  Jahrzehnten  um  Herrschaft  und  Reichtum  gestritten  oder 
sich  verbündet  hatten,  schon  zu  schwinden  und  selbst  den  Be- 
günstigsten die  kirchliche  Ehrenlaufbahn  sich  zu  verlangsamen. 
Der  erblassende  Glanz  des  literarischen  Mäzenatentums  strahlte 
nicht  mehr  weit  über  die  engeren  Staats-  und  Stadtgrenzen  hinaus; 
die  humanistische  Universalität  verdrängte  allmählich  ein  literari- 
scher Lokalpatriotismus,  der  sich  zum  einigenden  Nationalismus  erst 
wieder  im  neunzehnten  Jahrhundert  zusammenschließen  sollte.  In 
den  Akademien  und  ähnlichen  gesellschaftlichen  Vereinigungen  lebte 
die  Literatur  als  Mode  weiter,  doch  meist  nur  Treibhauspflanzen 
starben  ihre  üppigen  Wucherungen  mit  dem  Tage,  der  sie  erzeugt 
hatte.    Langsam  verliefen  die  Wellen,  deren  Flut  die  Büchertempel 

*  Abb.  36  77 


ITALIEN 

aus  dem  Meere  der  Vergangenheit  emporgetragen  hatten:  die  Be- 
geisterung für  das  Buch  war  vor  den  Bücherläden  keine  Heldentat 
mehr.*  Das  Buch  war  eine  Jedermannsware  geworden  und  bekam 
auf  den  Umwegen  über  die  Kuriosität  und  die  Rarität  erst  im  acht- 
zehnten Jahrhundert  wieder  neue  Sammlerreize.  Um  so  schärfer 
traten  jetzt  die  Gestalten  solcher  Buchfreunde  hervor,  deren  Büche- 
reien sich  von  der  Büchermasse  trennten,  indem  sie  die  überflüssig 
und  unmöglich  gewordene  Vollständigkeit  durch  eine  Auswahl  er- 
setzten, die  Höhepunkte  des  Buchwesens  und  Schrifttums  wider*» 
spiegeln  wollte.  Büchersaal  und  Bücherstube  hatten  nicht  mehr 
das  humanistische  Ideal  Vollständigkeit.  Immer  weiter  schieden  sich 
die  Wissenschaften  und  die  Bücher  und  Büchersammler  mit  ihnen. 
Wo  der  Gedanke  einer  allumfassenden  Bibliothek  sich  hervorwagte, 
wendete  er  sich  mit  Entschiedenheit  ihrer  öffentlichen  Zweck- 
erfüllung zu.  Die  Ähnlichkeit  öffentlicher  und  privater  Sammlungen 
minderte  sich  immer  schneller  bis  zu  einem  Gegensatz,  und  gegen- 
einander sonderten  sich  auch  die  Gruppen  der  Privatbibliotheken. 
Die  Berufsgelehrten  und  die  Liebhaber  wurden  die  eigentlichen 
Sammler.  Jene,  aus  der  Not  eine  Tugend  machend,  ihr  Arbeits- 
mittel mit  ihren  Bedürfnissen  ausgleichend,  denen  sich  noch  die 
großen  öffentlich  werdenden  Sammlungen  versagten,  diese,  indem 
sie  das  Buch  selbst  aus  seinen  Eigenschaften  zum  Sammlerstück 
erhoben.  Muster,  die  die  anderen  Privatbibliotheken  nachahmten. 
Um  alte  Familienbibliotheken  so  weiterzuführen,  wie  ihre  Anfänge 
es  ihnen  bestimmt  hatten,  war  ein  Aufwand  erforderlich  geworden, 
den  man  meist  nicht  mehr  bezahlten  könne  oder  wollte.  So  stockte 
ihre  Fortführung.  Oder  aber  die  früheren  Bestände  dieser  Bücher- 
sammlungen, soweit  sie  sich  nicht  ganz  und  gar  auflösten,  mußten 
neueren  Einrichtungen  weichen.  Auch  darin  äußerte  sich  die  über- 
wiegende Vermehrung  der  Personalbibliotheken,  die  meist  nicht 
mehr  Generationen  überdauerten,  da  den  Erben  ihre  Verwertung 
durch  die  Ausbildung  eines  Büchermarktes  erleichtert  wurde. 

Amt  und  Ansehen  der  Kirchenfürsten  bedingten  ebenso  den 
Besitz  einer  Bücherei  wie  er  ihnen,  die  mehr  und  mehr  dem  Adel 
Italiens  entstammten,  zu  einer  gesellschaftlichen  Gewohnheit  wurde, 

78  *  Abb.  39 


17.  JAHRHUNDERT 

Die  Kardinäle,  deren  Residenz  Rom  war,  liebten  es,  hier  oder  auf 
ihrem  Landsitz  eine  Repräsentationsbibliothek  aufstellen  zu  können, 
die  nach  ihrem  Tode  vielfach  dem  Familienbesitz  zufiel  oder  einer 
kirchlichen  Anstalt,  einem  Kloster  etwa.    Derartige  Büchereien  er- 
weiterten sich  gelegentlich  wohl  auch  zu  einer  Liebhaberbücherei, 
wenn  ihr  Sammler  oder  ihr  Verwalter  einen  ausgesprochenen  Bücher- 
sinn hatte,  zu  einer  Privatbibliothek  höherer  Ordnung,  wenn  sie 
wissenschaftliche  Zwecke  erfüllen  sollte.    Dann  aber  unterschied  sie 
sich  nicht  weiter  von  den  ihr  ähnlichen  Büchersammlungen  anderer 
Länder  ihrer  Zeit,  es  sei  denn,  daß  ihre  Bände,  mit  einem  Kardinals- 
wappen oder  gar  einem  Papstwappen  prunkend  späteren  Besitzern 
die   Erinnerung   an   eine     geschichtlich   bekanntgewordene   Persön- 
lichkeit erhielten.    Bibliophilenprovenienzen,  die  das  Andenken  an 
Buchfreunde  wahren,  die  als  Bücherkenner  und  Bücherpfleger  sich 
auszeichneten,  sind  sie  meist  nicht.    Schon  der  Kardinal  Domenico 
Capranica  [gest.  1458],  der  neben  Bessarion  in  der  ersten  Reihe 
der  römischen  Büchersammler  jener  Tage  stand,  hatte  seine  Bücherei 
mitsamt   seinem  Palaste   zur  Begründung  eines   neuen  Kollegiums 
hinterlassen.    Soweit  seine  Stiftung  Nachahmer  fand,  wählten  diese 
ähnliche  Zwecke  der  Fortnutzung  ihrer  Sammlungen,  überließen  sie 
sie  durch  Vermächtnis  einer  bestimmten  geistlichen  Anstalt,  einem 
bestimmten   kirchlichen   Orden.     Aber   erst   im   Anfange   des   sieb- 
zehnten Jahrhunderts,   1614,  ist  von  einem  Bibliophilen,  Angelo 
Rocca  [1545—1620],   Bischof  in  partibus   von   Tagaste,   die   erste 
öffentliche   Bibliothek   Roms   gegründet   worden,   die   allen,   die   es 
wünschten,  zugänglich  sein  sollte.    Noch  standen  die  Alessandrina, 
die  Chigiana,  die  Corsiniana,  die  Casanatense,  die  Vallicelliana,  die 
Barberiniana*  nicht  zur  Verfügung  wissenschaftlicher  Forschungen, 
die  Vaticana  erschloß  sich  nur  auf  besondere  Erlaubnis,  die  Kloster- 
büchereien dienten  ausschließlich  den   Ordensmitgliedern.    Da  war 
die  Biblioteca  Angelica,  wie  sie  nach  ihrem  Stifter  hieß,  für  die  Ge- 
lehrtenrepublik im  Kirchenstaate  eine  erwünschte  Zufluchtsstätte. 
Künstlerischer  Lebensgenuß  und  Musendienst  in  den  Wissenschaften 
gab    den    Haushaltungen    der    Kirchenfürsten    noch   hohen    Glanz. 
Doch  nicht  die  humanistischen  Ideale  waren  es,  die  ihn  als  Sonne 


*  Abb.  37 


79 


ITALIEN 

leuchten  ließen,  sie  waren  in  der  Altertumskunde  zusammen- 
geschrumpft, der  einzigen  auf  dem  archäologischen  von  Poggio 
entdeckten  Boden  der  Tiberstadt  geltenden  profanen  Wissenschaft. 
Sonst  herrschte  die  Theologie  wieder  über  alles  andere  Wissen,  seine 
Pfleger  und  Pflegestätten.  Sie  war  die  amtliche  römische  Wissen- 
schaft, deren  Gebiet  freilich  nicht  mit  allzu  engen  Grenzen  umzogen 
wurde.  Das  alles  gab  auch  dem  römischen  Büchersammelwesen  des 
siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhunderts  einen  besonderen  eigen- 
artigen Zug.  Um  die  Wende  dieser  Jahrhunderte  mehrten  sich  die 
Bibliotheksstiftungen  für  das  Gemeinwohl,  Der  Kardinal  Hierony- 
mus  Casanatta  [1620 — 1700]  vermachte  seine  Büchersammlung 
öffentlicher  Natzung,  sie  wurde,  mit  der  der  Dominikaner  ver- 
einigt, im  Riesensaal  der  Minerva  aufgestellt.  Denn  die  architek- 
tonische Einheit  des  Büchereiraumes  galt  in  ItaUen  noch  viel,*  man 
liebte  es,  die  Einheitlichkeit  einer  großen  Büchersammlung  durch 
ihre  Ordnung  sinnlich  wahrnehmbar  zu  machen,  Raumteilungen  zu 
vermeiden,  Akademien  und  Konservationen  inmitten  einer  das 
Auge  erfreuenden  Bibliothekspracht  zu  halten,  den  Büchersaal  als 
den  gegebenen  Ort  gelehrter  Geselligkeit  anzusehen.  Derart  ent- 
stand allmählich  aus  der  Gewährung  der  Benutzung  größerer  Privat- 
bibliotheken an  einzelne  ihre  Umwandlung  in  dem  öffentlichen  Ge- 
brauche geöffneter  Sammlungen,  die  für  einige  der  bekanntesten 
dieser  Bibliotheken  kennzeichnend  blieb.  Kardinal  Renato  Im- 
periali [1651 — 1737]  hinterließ  seine  im  Palast  bei  S.  Apostoli  be- 
findliche Büchersammlung,  die  vom  Kardinal  Slusio  stammte  und 
von  Justus  Fontanini  katalogisiert  war,  ebenfalls  der  Öffentlichkeit. 
Ein  Menschenalter  später  wurde  die  Biblioteca  Angelica  mit  der  be- 
deutendsten im  achtzehnten  Jahrhundert  in  Rom  entstandenen 
Liebhaberbücherei,  der  des  Kardinals  Passionei,  verbunden. 

In  diesem  Jahrhundert  galten  in  Italien  und  anderswo  reiche 
Büchersammlungen  noch  als  Sehenswürdigkeiten.  Aber  bereits  war 
die  Beschäftigung  der  Gelehrten  mit  den  Büchern  zu  wissenschaft- 
lichem Sammeln  geworden.  Das  Auswählen,  nicht  mehr  so  sehr  das 
Beschaffen  der  Bücher  verlangte  ebenso  wie  die  zu  ihrer  Nutzung  er- 
forderliche Ordnung,  wenn  die  Bändezahl  wuchs,  eigene  Fachkennt- 

80  *  Abb.  22,  23 


18.  JAHRHUNDERT 

nis.  Aus  den  Bibliognosten  des  siebzehnten  Jahrhunderts^  deren 
eigenwillige  Gelehrsamkeit  sich  in  den  aufgehäuften  Büchermassen 
zurechtfand,  hatten  sich  die  Bibliothekare  des  achtzehnten  Jahr* 
hunderts  entwickelt,  deren  Beruf  sich  eben  fester  bildete,  um  im 
neunzehnten  Jahrhundert  der  eines  Verwaltungsbeamten  zu  wer- 
den. Aus  den  Belustigungen  der  Kuriositäten*  und  Raritätensucher 
entstand,  ihre  Methodik  und  Systematik  festigend,  sich  mit  buch* 
geschichtlichen  Forschungen  verbindend,  die  Bibliographie,  eine 
Quellenkunde  aller  Wissenschaften.  Ein  Altbfichermarkt  mit  seinen 
internationalen  und  nationalen  Liebhaberwerten  bedingte,  daß  die 
Bibliophilen,  mochten  sie  ihre  eigenen  Bibliothekare  sein  oder  Män- 
ner von  Ruf  gewinnen,  es  an  buchhändlerischer  Geschäftigkeit  und 
Geschäftlichkeit  nicht  fehlen  ließen.  Es  genfigte  nicht,  Abschriften 
zu  bestellen;  man  mußte  die  Ausgaben  eines  Werkes  kennen  und 
finden,  die  mühselige  Einzelarbeit  stetig  auf  das  Ganze  gerichtet 
halten,  um  bei  der  Organisation  einer  großen  Privatbibliothek,  die 
sich  vor  anderen  auszeichnen  sollte.  Glück  zu  haben.  Alte  Buch* 
handschriften  hohen  Wertes  ließen  sich  nur  durch  günstige  Zufälle 
verschaffen.  Dafür  fand  sich  die  ihnen  folgende  Buchschicht,  die 
der  Wiegendrucke,  noch  in  reicher  Zahl  und  das  Bestreben  der 
Büchersammlungen  war  darauf  gerichtet ,  sie  zu  erfassen,  die  Edi- 
tiones  principes  der  Klassiker  zu  vereinen;  dazu  die  Bücher,  die  in 
den  einzelnen  Wissenschaften  einen  Rang  hatten,  zusammenzu- 
bringen. Die  Bedeutung  des  Begriffes  der  Seltenheiten  umgrenzte 
sich:  derjenigen  Drucke,  die  aus  irgendeinem  Grunde  gesucht,  aber 
schwierig  zu  erlangen  waren.  Eine  BibUothekornamentik,  er- 
glänzten sie  unter  den  Zimelien  und  waren  schon  mehr  als  die  immer- 
hin den  Käufern  sich  noch  anbietenden  kostspieligen  Prachtwerke, 
die  keinem  Bibliothekenluxus  fehlen  durften.  Derart  erscheint  das 
achtzehnte  Jahrhundert  eine  Übergangszeit  von  der  Büchergelehr- 
samkeit zur  Bücherkunde.  Im  Büchersammelwesen  vollzog  sich  die 
Trennung  zwischen  den  Liebhaberbüchereien  und  den  Bibliotheks- 
magazinen, die  das  Verlangen  nach  Vollständigkeit  und  Zweck- 
mäßigkeit ihrer  Anlage  für  den  öffentlichen  Gebrauch  zu  Anstalten 
werden  ließ,  die  zugleich  wissenschaftliche  Arbeitsstätten  sein  sollten 

BOGENO    6  81 


ITALIEN 

und  Speicher,  die  die  Bücher  der  Vergangenheit  der  Zukunft  er- 
hielten. Das  umschreibt  Goethe,  wenn  er  den  beabsichtigten  Über- 
tritt eines  berühmten  Gelehrten  aus  der  bibliothekarischen  Tätig- 
keit bei  einem  berühmten  deutschen  Büchersammler  in  die  bei  einem 
berühmten  römischen  Sammler  schildert:  „Und  so  war  auch  die 
literarisch-bibliographische  Bildung  dasjenige  Verdienst,  das  Winckel- 
mann  früher  dem  Grafen  Bünau  und  später  dem  Kardinal  Passionei 
empfahl.  Ein  Bücherkenner  ist  überall  willkommen,  und  er  war  es 
in  jener  Zeit  noch  mehr,  als  die  Lust,  merkwürdige  und  rare  Bücher 
zu  sammeln,  lebendiger,  das  bibliothekarische  Geschäft  noch  mehr 
in  sich  selbst  beschränkt  war.  Eine  große  deutsche  Bibliothek  sah 
einer  großen  römischen  ähnlich.  Sie  konnten  mit  einander  im  Be- 
sitz der  Bücher  wetteifern.  Der  Bibliothekar  eines  deutschen  Grafen 
war  für  einen  Kardinal  ein  erwünschter  Hausgenosse  und  konnte 
sich  auch  da  gleich  wieder  als  zu  Hause  finden.  Die  Bibliotheken 
waren  wirkliche  Schatzkammern,  anstatt  daß  man  sie  jetzt,  bei  dem 
schnellen  Fortschreiten  der  Wissenschaften,  bei  dem  zweckmäßigen 
und  zwecklosen  Anhäufen  der  Druckschriften,  mehr  als  nützliche 
Vorratskammern  und  zugleich  als  unnütze  Gerümpelkammern  an- 
zusehen hat,  so  daß  ein  Bibliothekar  weit  mehr  als  sonst  sich  von 
dem  Gange  der  Wissenschaft,  von  dem  Wert  oder  Unwert  der 
Schriften  zu  unterrichten  Ursache  hat  und  ein  deutscher  Biblio- 
thekar Kenntnisse  besitzen  muß,  die  fürs  Ausland  verloren  wären.** 
Um  das  Amt  eines  Bibliothekars  beim  Kardinal  Domenico 
Passionei  [1682—1761]*  anzutreten,  war  1755  Johann  Joachim 
Winkelmann  [1717—1768]  nach  Rom  gekommen.  1756  erst  ließ 
er  sich  ihm  vorstellen,  um  von  da  an,  im  Genüsse  einer  der  er- 
lesensten Büchersammlungen  der  Tiberstadt,  sein  Hausfreund  zu 
bleiben.  Passionei  war  bei  aller  seiner  wissenschaftlichen  Bildung 
durchaus  kein  Stubengelehrter,  sondern  ein  weltgewandter  Mann, 
von  großer  Freiheit  des  Geistes  und  der  Umgangsformen;  ein  Mann, 
der  es  verstand,  seinen  Bibliophilie-Passionen  eine  vornehme  welt- 
lichere Wendung  zu  geben,  ohne  das  zu  vernachlässigen,  was  seinen 
Ämtern  und  Würden  anstand;  das  Beispiel  eines  die  Bücher  hoch- 
schätzenden  Kirchenfürsten,   der  mit  ihnen  lebte  und  leben  ließ. 


82 


*  Abb.  40 


18.  JAHRHUNDERT 

Die  Eigenheiten,  die  auch  ihm  aus  solchen  Eigenschaften  erwuchsen, 
verändern  das  Bild  einer  Persönlichkeit  nur  wenig,  die  das  Muster 
jener  Art  von  Büchersammlern  gewesen  ist,  die  die  Phantasie  sich 
gern  in  der  Gestalt  eines  gesellschaftlich  hochstehenden  GeistUchen 
vorstellt.  Angefangen  hatte  der  Conte  Passionei  den  Aufbau  seiner 
Bibliothek  unter  der  Anleitung  des  Paters  Tommasi,  dem  er  die 
Lehre  verdankte,  bester  Gebrauch  von  Geld  und  Kenntnissen  sei  ihre 
Verbreitung,  schon  in  den  römischen  Studienjahren.  Wie  er  denn 
überhaupt  darin  sehr  geschickt  gewesen  ist,  sich  mit  bedeutenden 
Leuten  zusammenführen  zu  lassen  und  das  einmal  gefundene  glück- 
liche Verhältnis  durch  einen  Briefwechsel  aufrecht  zu  erhalten,  der 
ihn  mit  samt  seiner  Bücherei  in  den  Mittelpunkt  eines  sich  über 
die  europäischen  Länder  ausdehnenden  Gedanken-  und  Schriften- 
tausches stellte.  Die  diplomatischen,  erfolgreichen  Wanderjahre 
führten  ihn  seit  1706  durch  Frankreich,  Holland,  England.  Als  der 
apostolische  Legat  1713  aus  Utrecht  nach  Rom  zurückkehrte,  be- 
gleitete ihn  nicht  allein  der  Ruf  eines  bewährten  Vertreters  des 
Heiligen  Stuhles.  Auch  der  Bibliophile  erfreute  sich  eines  in  den 
Hauptstädten  wohlangesehenen  Namens.  Er  fand  jetzt,  von  Papst 
Clemens  XL  in  einer  Ministerstellung  verwendet,  die  ihn  eine  füh- 
rende Rolle  in  politischen  Sendungen  und  Verhandlungen  von 
Wichtigkeit  spielen  ließ,  die  Muße,  um  die  Ordnung  seiner  sehr  an- 
gewachsenen Bibliothek  vornehmen  lassen  zu  können.  Der  Nach- 
folger dieses  Papstes,  Innocenz  XHL,  ernannte  ihn  jedoch  1721  zum 
Nuntius  in  der  Schweiz,  wo  er  bis  zum  Jahre  1730  blieb.  Anekdoten 
möchten  behaupten  —  in  seinen  Briefen  spricht  auch  der  Präsident 
De  Brosses  von  ihnen  —  der  amtliche  Einfluß  hätte  Passionei  in 
den  Stand  gesetzt,  die  alemannischen  Klosterbibliotheken  um  kost- 
bares Büchergut,  vor  allem  um  wertvolle  Handschriften  zu  bringen. 
Inwieweit  ihren  Ausschmückungen  tatsächliche  Vorgänge  zugrunde 
lagen,  bleibe  dahingestellt.  Jedenfalls  aber  hätte  der  in  kleinen  Listen 
geübte  Diplomat,  dessen  Verbindlichkeit  so  groß  war,  daß  sein 
Dank  stets  das  Angebot  überholte,  sich  in  derartigen  heimlichen 
Bücherjagden  nicht  so  plump  ungeschickt  zeigen  können,  wie  es 
ihm  diese  Geschichtchen  zuschreiben.  Es  sind  Bibliophilen- Legenden, 

6-  83 


ITALIEN 

die  in  immer  neuisn  Wandlungen  bald  von  diesem,  bald  von  jenem 
Bächersammler  erzählt  werden.  Daß  Passionei  einmal  Besuchern, 
die  sich  über  seinen  unfähigen  Bibliothekar  verwunderten,  die  Ant- 
wort gegeben  habe,  seine  Bibliothek  sei  sein  Serail,  über  das  er  nur 
von  Eunuchen  wachen  lasse,  ist  die  Aufwärmung  eines  längst  be- 
kannten Witzwortes.  Dagegen  war  die  Abneigung,  die  Passionei 
gegen  die  Jesuiten  hatte,  echt.  In  seiner  Bücherei  duldete  er  kein 
Werk  eines  Jesuiten.  1730  wurde  Passionei  von  Papst  Clemens  XII. 
zum  Nuntius  in  Wien  ernannt,  1737  zum  Sekretär  der  Breven  und 
zum  Kardinal,  allerdingst  erst,  nachdem  ein  Brief  Kaiser  Karls  VI. 
den  Papst  darauf  aufmerksam  gemacht  hatte,  daß  der  um  die  Kurie 
sehr  verdiente  Diplomat  schon  längst  der  Auszeichnung  durch  den 
Purpur  würdig  gewesen  wäre.  Passioneis  sehr  selbständiges  Wesen, 
das  letzten  Endes  auch  seine  Papstwahl  verhinderte,  mag  nicht 
schuldlos  an  solchen  Störungen  seiner  amtlichen  Laufbahn  gewesen 
sein,  während  der  er,  weshalb  wenigstens  andeutend  auf  sie  verwiesen 
werden  sollte,  viele  Jahre  lang  auch  einer  der  berühmtesten  in 
deutschen  Landen  lebenden  Büchersammler  gewesen  ist.  Der  neue 
Ehren-  und  Pflichtenkreis,  in  den  Passionei  bei  seiner  endgültigen 
Rückkehr  nach  Rom  eintrat,  brachte  mit  der  Aufsicht  über  die 
Propaganda,  den  Index,  die  Korrektur  der  orientalischen  Bücher 
ihn  in  eine  engere  Verbindung  mit  dem  amtlichen  Buchwesen  der 
römischen  Kirche.  Seit  1754  war  der  Capolibraro  von  Europa,  wie 
er  sich  selbstgefällig-selbstironisch  nannte,  Bibliotecario  di  Santa 
Madre  Chiesa,  und  förderte  mit  seinen  Erfahrungen  und  Kennt- 
nissen auch  die  Sammlungen  des  Vatikans,  für  dessen  Bibliothek  er 
die  von  Baron  Philipp  von  Stosch  [1691  —  1757]  in  Florenz  nach- 
gelassene Handschriftensammlung  hinzukaufen  ließ.  Eine  Autorität 
in  bibliographischen  und  literarhistorischen  Fragen  starb  Passionei 
neunundsiebzigj  ährig  in  seiner  Villa  in  Fraskati,  wo  seine  kleinere 
Privatbibliothek  stand,  aus  Schmerz  darüber,  nach  des  Abbe  Goujet 
Meinung,  daß  er  das  Mesengnys  Exposition  de  la  doctrine  chr^tienne 
verdammende  Breve  unterzeichnen  mußte.  Die  Büchersammlung 
Passioneis,  die  1721,  wie  ihr  Besitzer  an  G.  B.  Ottio  schrieb,  60000 
Bände  zählte,  nachdem  ihr  1719  die  Druckwerke  der  Büchersamm- 

84 


19.  JAHRHUNDERT 

lungCassiano  del  Pozzos  einverleibt  waren,  deren  Handschriften 
an  die  Vaticana  veräußert  wurden,  ist  für  32000  scudi  romani  weiter- 
verkauft worden,  sie  befindet  sich  jetzt  in  der  BibUoteca  AngeUca 
in  Rom.  Die  antiken  Klassiker  und  die  Archäologie,  die  dogmatische 
und  die  historische  Theologie  bildeten  die  Hauptmasse  ihres  Inhalts. 
Der  Kardinal,  dessen  Begehren  es  gewesen  war,  Diener  aller  euro- 
päischen Gelehrten  zu  heißen,  allerdings  unter  Bevorzugung  der 
ausländischen,  denn  die  Römer  konnte  er  wenig  leiden,  hatte  seine 
Bücherei  seine  Frau  genannt.  „Doch  bedeutete  dies  nur  seine  aus- 
schließliche Leidenschaft,  nicht  den  ausschließlichen  Gebrauch.'* 
Erfuhr  er  von  wissenschaftlichen  Arbeiten,  schickte  er  unauf- 
gefordert Auszüge.  Dieses  Ergötzen  an  der  gelehrten  Hilfeleistung 
war  es,  das  ihn  bestimmte,  seine  Bücherei  nicht  in  eine  geregelte 
Ordnung  mit  Nummern  kommen  zu  lassen.  An  ihn  selbst  sollte  man 
sich  wenden,  er  allein  wollte  wissen,  wo  die  Bücher  stünden.  ,,Er 
freut  sich,  wenn  ich  ihm  Gelegenheit  gebe,"  bemerkte  einmal  Winckel- 
mann,  ,,zu  zeigen,  daß  er  seine  Bücher  besser  kennt,  als  sein  armer 
Bibliothekar,  der  ein  französischer  Abbe  ist :  er  klettert  selbst  herum, 
um  mir  das  verlangte  zu  suchen." 

Die  Gestalt  des  hilfswilligen  Kardinals  auf  der  Bücherleiter 
ist  die  des  letzten  italienischen  Büchersammlers  europäischen  Ruh- 
mes gewesen.  Weder  die  antiken  noch  die  italienischen  Klassiker 
konnten  im  neunzehnten  Jahrhundert  ihren  alten  Vorrang  in  den 
Liebhaberbüchereien  wahren.  Das  Buch  Italiens  hatte  aufgehört 
zu  herrschen.  Um  1800  war,  dank  Bodoni,  eine  Zeitlang  zwar  die 
Buchkunst  Italiens  von  internationalem  Einfluß  gewesen,  aber  das 
Buchwesen  und  mit  ihm  das  Büchersammelwesen  Italiens  stand 
im  neunzehnten  Jahrhundert  noch  unter  allzu  starken  äußeren 
Hemmungen  y  als  daß  es  eine  einheitlich  emporstrebende  Ent- 
wicklung hätte  nehmen  können.  Wenn  bald  die  kirchlichen,  bald 
die  weltlichen  Behörden  mit  Bücherverboten,  deren  Nichtbeach- 
tung unter  Umständen  für  den  Sammler  gefährlich  werden  konnte, 
ihm  entgegentraten;  wenn  die  Grenzen  ihn  daran  erinnerten,  daß 
es  kein  Italien  gäbe,  dann  mochte  er  in  der  nationalen  Vergangen- 
heit nicht  ohne  Zukunftsgedanken  verweilen.    Die  Bewegung  des 

85 


ITALIEN 

Humanismus  und  die  des  Risorgimento  haben  hierin  in  der  BibUo- 
philie  mit  ihren  politischen  Tendenzen  eine  Ähnlichkeit,  daß  sie  in 
den  Büchern  nicht  allein  ein  geistiges  Vaterland  wiederfinden 
wollten.  Die  Ausgaben  der  Dantereihen  auf  dem  Ehrenplatz  der 
Büchereien  italienischer  Sammler  zeigten  auch  derart  die  Einheit 
des  Volkes,  Literatur  und  Politik  verknüpfend.  Der  Altbuchhandel 
konnte,  obschon  die  Bücherschätze  ItaUens  den  anderen  Ländern 
noch  immer  reichlich  zuflössen,  nach  außen  hin  nicht  zu  einer  vollen 
weiten  Wirkung  gelangen,  erst  im  neuen  Staate  gewann  er  eine  gleiche 
internationale  Bedeutung  wie  in  England,  Frankreich,  Deutschland, 
bis  ihn  im  zwanzigsten  Ausfuhrgesetze  einschränkten/  Aber  die 
BibUophilie  Italiens,  mochte  sie  auch  als  eine  einheitliche  Erscheinung 
nicht  glänzend  hervortreten,  ist  trotzdem  nicht  verschwunden,  be- 
deutende alte  und  neue  Sammlungen,  bisweilen  allgemeiner  bekannt- 
geworden durch  ihre  Versteigerungen  oder  Verzeichnisse,  häufiger 
noch  in  stiller  Verborgenheit  gedeihend,  zeugen  für  sie.  Und  noch 
immer  ist  es  ihr  Stolz,  sich  als  Erben  jener  Humanistentradition  zu 
fühlen,  die  verkündet  wird  von  Petrarcas  Worten:  Libri  medullitus 
delectant. 


86 


*  Abb.  41 


III.  FRANKREICH 

Die  Anfänge  der  Bibliotheque  Nationale  in  Paris,  der  Bücher* 
Sammlung  des  französischen  Volkes,  reichen  weit  zurück,  bis  in 
die  frühen  Librairies  der  Könige  von  Frankreich.  Darin  mag  man  ein 
bezeichnendes  Merkmal  der  Bibliophilieentwicklung  dieses  Landes 
erkennen:  das  der  nationalen  Tendenz,  die  nicht  nur  in  einer  geistigen 
Übereinstimmung  vorhanden  war,  sondern  bald  in  einer  Haupt- 
stadt, in  einer  Hofhaltung  dauernde  Unterstützung  fand.  Für  die 
Bibliophiliemode,  für  alle  jenen  äußeren  Formen,  die  eine  Er- 
starkung des  Büchersammelwesens  zeigen,  auch  noch  durch  Über- 
treibungen die  Ausbreitung  einer  Buchkultur  verraten,  ist  Paris  rasch 
tonangebend  geworden.  Hiermit  hängt  es  wohl  zusammen,  daß  das 
ästhetische  Element  der  modernen  Bibliophilie  französischen  Ur- 
sprungs war,  indessen  das  ethische  Element  aus  dem  Glaubensbe- 
kenntnis der  Humanisten  hervorwuchs :  Anerkennung  der  von  edlen 
Werken  offenbarten  Schönheit  und  Wahrheit  durch  Buchdenkmäler 
zu  einer  Anschauung  sich  erheben  zu  lassen,  die  von  Buchdenkmälern 
versinnlicht  wurde.  Die  Huldigung  der  Humanisten  galt  dem  Buche, 
die  Büchersammlung  erschien  in  dessen  Hintergrunde  als  das  hu- 
manistische Ideal  der  Vollständigkeit  des  Wissens.  Anders  schon 
betrachteten  die  Bibliophilen  Frankreichs  ihre  Bibliothek  und  deren 
Bücher,  als  sie  im  sechzehnten  Jahrhundert  eine  selbständige  Stellung 
gewonnen  hatten.  Damals  war  bereits  das  Druckwerk  zur  Herrschaft 
gelangt.  Wenn  sie  es,  durch  Ausstattung  einzelner  Ausgaben,  ein- 
zelner Bände,  in  die  feinen  Formen  geschmackssicherer  Liebhaberei 
einbezogen,  lösten  sie  es  nicht  aus^  der  Sammlung,  befestigten  sie 
es  vielmehr  in  ihr  noch  weiter,  durch  Besitzmerkmale  besonderer 
Art  die  Zugehörigkeit  eines  ausgezeichneten  Einzelstückes  zum 
Ganzen  hervorhebend.  Nicht  darauf  kam  es  ihnen  an,  den  Abzug 
der  Buchdruckerwerkstätte  in  ein  Kunstwerk  zu  verwandeln,  das 
der  Prachthandschrift  gleichwertig  wurde.  Die  Ausstattung  des 
Buches  war  ihnen  nicht  allein  mehr  ein  Mittel,  ein  Buch  zu  vervoll- 
kommnen, sondern  auch,  um  dessen  Eingliederung  in  die  Sammlung, 
die  sie  sich  wünschten,  zu  vollenden.    Das  deutet  auf  eine  Wandlung 

87 


FRANKREICH 

des  Bibliotheksideals.  Nicht  Vollständigkeit  schlechthin,  sondern 
Vollständigkeit  in  der  Auswahl  des  Besten  und  Schönsten  sollte 
erreicht  werden.  Und  auf  eine  andere  Auffassung  des  Bibliotheks- 
organismus  selbst  als  eines  solchen.  Es  handelte  sich  hier  nicht  mehr 
um  das  Ansammeln  und  Aufstellen,  sondern  um  die  Benutzung  der 
Bücherei  im  ganzen.  Die  Bibliophiliemode  verkleidete  einen  biblio- 
thekstechnischen Wunsch:  die  Einheit  aller  Bücher  durch  die  aus 
ihnen  erlesenen  zu  finden  und  in  der  Büchereieinheit  zu  schaffen. 
Der  Besitz  einer  Bücherei  war  damit  noch  anders  gerechtfertigt 
als  bei  den  Humanisten.  Blieb  sie  dort  eine  aufzuzehrende  reiche 
Vorratskammer  des  Wissens,  so  erhielt  sie  nunmehr  eigenen  Rang 
eines  Werkzeuges  der  Wissenschaften.  Derart  erklärt  Michel  de 
Montaigne  den  Besitz  einer  Bücherei,  die  kein  Überfluß,  keine  Ver- 
schwendung wäre,  sogar  dann  nicht,  wenn  sie  den  Leser  nicht  unter- 
hielte oder  unterrichte.  Dieser  Besitz  erscheint  ihm  in  einer  ganz 
anderen  psychologischen  Perspektive  als  den  Humanisten,  die  sich 
rühmten,  die  Bücher  auswendig  zu  wissen.  Die  Bibliothek  Mon- 
taignes  sollte  sein  Alter  und  seine  Einsamkeit  trösten,  ihn  von  der 
Last  müßiger  Langeweile  befreien,  ihn  vor  unangenehmer  Gesell- 
schaft schützen  und  den  Stachel  der  nicht  gar  zu  ernsten  Leiden 
und  Leidenschaften  abstumpfen.  Wenn  er  gewöhnlich  von  ihrem 
Vorhandensein  keinen  besseren  Gebrauch  mache  als  andere,  denen 
Bücher  unbekannt  blieben,  so  erfreue  es  ihn  doch,  wie  den  Geizigen 
sein  Goldschatz,  seine  Bände  zur  Hand  zu  haben,  durch  die  Beruhi- 
gung des  Bewußtseins,  sie  brauchen  zu  können,  wann  und  wie  er  es 
wolle,  durch  die  Hoffnung,  er  würde  sie  kennenlernen  und  sich  mit 
ihnen  verständigen.  Damit  war  ausgesprochen,  daß  nicht  alle  Bücher 
zu  allen  Menschen  paßten;  daß  nicht  alle  Bücher  gelesen  zu  werden 
brauchten;  daß  die  Benutzung  des  Buches  weiterreiche  als  bis  zum 
fleißigen  Lesen  und  Wiederlesen  einiger  Bände.  Montaigne  hielt 
die  Bücher  für  den  besten  Vorrat,  den  man  auf  die  Lebensreise  mit- 
nehmen könne  und  beklagte  alle,  die  sie  entbehren  müßten.  Er 
gab,  auch  schlechte  Bücher  nicht  verschmähend,  den  guten  den  Vor- 
zug, er  erkannte,  daß,  wenn  die  Menschen  Fehler  hätten,  auch  ihre 
Bücher  nicht  ohne  Fehler  sein  könnten,  daß  eine  Bibliothek,  die 

88 


14.  JAHRHUNDERT 

jederzeit  und  überall  die  höchsten  Wünsche  erfülle,  eine  unmög- 
liche Utopie  sei  und  daß  die  Bände  einer  Bücherei  gerade  durch 
diese  einen  Ausgleich  ihrer  UnvoUkommenheiten  finden  würden. 
Eine  Bücherei  zu  haben  hieß  fortan  nicht  mehr,  alle  Bücherzu  kennen 
und  zu  lesen;  es  hieß,  aus  der  Bücherei  eine  höhere  Einheit  des  Buches 
zu  schaffen,  die  äußeren  und  die  inneren  Grenzen  der  unaufhörlich 
wechselnden  Bücherwelt  zu  regeln.  Hatte  der  Humanismus  das 
Buch  individualisiert,  so  individualisierte  solcher  Bibliophilen- 
skeptizismus  die  Büchereien,  weil  er  in  ihnen  selbst  die  Persönlich- 
keiten ihrer  Sammler  richtunggebend  für  ihre  Anlage,  Ausdehnung 
und  Ausstattung  werden  ließ.  Wissenschaftliche  Zweckgedanken 
leiteten  die  Fachbüchereien  der  Gelehrten,  die  methodisch  und  syste- 
matisch sich  desto  mehr  von  den  sonstigen  Privatbibliotheken 
schieden,  je  mehr  sich  ihre  Wissenschaften  in  den  Fakultäts Wissen- 
schaften selbst  trennten.  Die  großen  Sammlungen,  die  sich  einen 
eigenen  Repräsentationsstil  schufen,  gingen  auf  eine  gleichmäßige 
Vollständigkeit  in  der  Auswahl  des  besten  aus  allen  Fächern  aus, 
bedingt  durch  einen  bibliographischen  Kritizismus,  der  die  Bücher- 
massen siebte.  Der  Eklektizismus  kam  in  der  neuen  Form  der  Lieb- 
haberbücherei zur  Geltung,  die  den  alten  Gedanken  der  freien  Künste 
auf  das  Bücherhaben  und  Büchernutzen  anwandte;  mit  jener  Freiheit 
des  Sammlers  zu  dem  Seinen,  die  Montaigne  verteidigte,  mit  jener 
kunstsinnigen  Art,  sich  den  begehrten  Besitz  anzueignen,  für  die 
Grolier  vorbildlich  wurde.  Damit  ist  die  Bibliophilenbibliothek  ein 
ästhetisches  Ideal  geworden,  weil  sie  das  Ebenmaß  ihrer  äußeren 
Geltung  und  ihres  inneren  Wertes  im  Verhältnis  zu  dem  Buch- 
freunde, dem  sie  dient,  gewinnt  und  auf  ihn  einschränkt,  eine 
Individualität  wie  er  selbst  wird.  Nirgendwo  aber  waren  die  Be- 
dingungen für  die  Entwicklung  derartiger  Liebhaberbüchereien, 
die  sich  verhältnismäßig  rasch  vollzog,  günstiger  als  in  Frank- 
reich. Denn  hier  gelangte  man  bald  zu  einem  Ausgleich  zwischen 
der  Freiheit  des  persönlichen  Lebens  und  gesellschaftlichem  Regel- 
zwang; fand  in  der  Mode  und  in  der  Tradition  einen  festen  Halt, 
eine  Sicherheit  des  Lebens,  die  gerade  auch  in  den  Liebhaber- 
büchereien zum  Ausdruck  kommen  mußte,  die  bald  jenes  vornehme 

89 


FRAN  KREICH 

Wesen  gewannen,  das  ein  Erbe  von  Generationen  gleichartiger  Ge- 
sinnung ist. 

Der  Bücherschatz  König  PhiUpps  VI.  und  König  Johanns  II. , 
des  Guten,  war  nicht  groß.  Als  dieser,  1364,  starb,  hinterließ  er 
seinem  Sohne  und  Thronfolger  König  Karl  V.,  dem  Gelehrten 
[1337—1380],  etwa  ein  Dutzend  Handschriften,  das  Karl  auf  etwa 
900  Bände  vermehrte.  Er  war  einer  der  besten  Buchfreunde  und 
einer  der  größten  Büchersammler  in  jenen  Tagen,  nach  den  hier 
übereinstimmenden  Urteilen  seiner  Zeitgenossen.  „Ne  dirons-nous 
encore,  de  la  sagesse  du  roi  Charles,  le  grand  amour  qu'il  avait  ä 
l'etude  et  ä  la  science.  Et  qu'il  soit  ainsi,  bien  le  demontrait  par  la 
belle  assemblee  de  notable  livres  et  belle  librairie  qu'il  avait  de  tous 
les  plus  notables  volumes."  [Christine  de  Pisan.]  Oder  aber  [in  der 
Anrede  des  Raoul  de  Presles]:  ,,Yous  avez  toujours  aime  la  science 
et  honore  les  bons  der  es  et  etudie  continuellement  ces  divers  livres 
et  Sciences;  et  vous  n'avez  eu  d'autre  occupation."  Ursprünglich  war 
die  Librairie  du  Roi  in  seinem  Palaste  aufgestellt,  1367  oder  1368 
kam  sie  in  das  Chäteau  du  Louvre,  in  die  unter  Leitung  Raimonds  du 
Temple  neu  oder  umgebaute  Tour  de  la  Fauconnerie,  in  der  sie  drei 
Stockwerke  einnahm.  Die  Wände  im  ersten  Stock  waren  ganz  mit 
irländischem  Holz  ausgekleidet,  einem  Geschenk  des  Hennegau 
Seneschalls,  die  Deckenrundung  war  mit  zyprischem  Holze  geziert. 
Der  Eingang  in  jedes  der  Bücherzimmer  war  durch  eine  sieben  Fuß 
hohe,  drei  Fuß  breite  und  drei  Daumen  dicke  Tür  verwahrt.  Die 
Einrichtung  war  aus  dem  Palast  hinübergenommen.  Dreißig  kleine 
Leuchter  und  eine  Lampe  von  Silber  waren,  nach  den  Berichten 
Felibiens  und  Sauvals,  an  der  Decke  angebracht;  sie  erlaubten  es, 
auch  bei  Dunkelheit  oder  in  der  Nacht  zu  lesen  und  schreiben.  Diese 
königliche  Librairie  überdauerte  ihren  Stifter  nur  wenige  Jahrzehnte. 
Ihre  Bände  wurden  teilweise  zerstreut,  sie  bereicherten,  da  Karls  V- 
[1423  verstorbener]  Sohn  Karl  VI.,  der  Wahnsinnige,  ihnen  keinen 
Schutz  gewähren  konnten,  die  Büchereien  der  Herzöge  von  Anjou 
und  Berry,  ergänzten  sich  aber  durch  neue  Büchergeschenke  an  den 
König,  so  daß  sie  schließlich  wieder  das  Neunhundert  erreichten, 
als  sich  ihrer  der  [1435  gestorbene]  Regent  von  Frankreich,   John, 

90 


15.  JAHRHUNDERT 

Duke  of  Bedford  durch  eine  Art  von  Scheinkauf  für  1200  livres  be- 
mächtigte und  sie  [1429]  nach  England  bringen  ließ,  von  wo  nur 
einige  wenige  später  in  die  Bibliotheque  Nationale  zurückgekehrt 
sind.  Vielleicht  wäre  damals  schon,  ohne  diese  politischen  Zufälle, 
eine  Bibliothek  in  Frankreich  entstanden,  die  die  gleichzeitigen 
italienischen  weit  hinter  sich  zurückgelassen  hätte.  Denn  auch  der 
Duc  Jean  de  Berry  [1340—1406]*  ist  ein  Bücher-  und  Kunstfreund 
außergewöhnlicher  Bedeutung  gewesen,  „der  erste  moderne  Sammler 
im  großen  Stil,  der  nicht  bloß  ausdrücklich  oder  der  Kuriosität 
halber  seinen  Schatz  mit  Kunstwerken  füllt."    [J.  v.  Schlosser.] 

Eine  neue  Bibliotheque  du  Roi  de  France  bildete  König  Lud- 
wig XI.  [1423—1483],  indem  er  die  in  den  königlichen  Residenzen 
vorhandenen  Bücher  im  Louvre  vereinigte,  denen  er  die  Bücherei 
seines  Bruders,  des  Duc  de  Guyenne,  und  einen  Teil  der  Bücherei  der 
Ducs  de  Bourgogne  hinzufügte  und  für  die  er  sich  die  Bücherei  des 
Duc  de  Berry  zurückgeben  ließ.  Karl  VIII.  [1470—1498]  und  Lud- 
wig XII.  [1462—1515]*  brachten  als  italienische  Kriegsbeute  vieles 
auch  in  ihre  Bibliothek,  der  eine  die  Sammlung  des  Königs  Alfonso 
von  Aragonien  aus  Neapel,  der  andere  die  der  Sforza  aus  Pavia. 
Unter  Ludwig  XII.,  dessen  libraire  et  reheur  Guillaume  Eustache 
war,  begann  auch,  mit  dem  Übergänge  der  Gotik  in  den  Renaissance- 
stil, die  neue  Art  der  Einbandprunkentfaltung,  mit  der  die  Bücher- 
sammlung der  französischen  Könige  im  sechzehnten  Jahrhundert 
glänzte.  Um  1500  zählte  sie  kaum  2000  Bände,  darunter  200  Druck- 
werke. Der  König  hatte  sie  aus  dem  Louvre  in  das  Schloß  von  Blois 
überführen  lassen,  wo  schon  die  Bücherei  seines  Vaters,  des  Dichters 
Charles  d'Orleans,  Comte  d'Angoulfeme  [1391—1465]  vor- 
handen war,  die  dieser  mit  den  aus  England  heimgebrachten  Hand- 
schriften sich  gegründet  hatte.  Hierher  kam  nun  auch  aus  Brügge 
eine  der  ausgezeichnetsten  Liebhabereibüchereien  des  fünfzehnten 
Jahrhunderts,  die  der  König  von  Jean,  dem  Erben  und  Sohn  ihres 
Sammlers  Louis  de  Bruges,  Seigneur  de  la  Gruthuyse, 
prince  de  Steenhuyse,  Lord  Wincester  [gest.  1492]  erworben 
hatte.  Franz  I.  [1494—1547]*  besaß  bereits  eine  eigene  Bücherei  in 
Fontainebleau    und  ließ  auch  die  Bibliotheque  du  Roi  de  France 

*  Abb.  42—44  91 


FRANKREICH 

aus  Blois  hierher  kommen,  sie  mannigfach  vermehrend,  indessen 
Heinrich  II.  [1519—1559]*  nur  wenig  für  sie  tat.  Franz  IL,  Karl  IX., 
Heinrich  III.,*  Heinrich  IV.  standen  der  Büchersammlung  ihres 
Hauses,  die  jetzt  schon  einer  selbständigen  Verwaltung  sich  erfreute, 
gleichgültiger  gegenüber.  Die  Bibliophilie  an  Heinrichs  IV.  Hofe 
fand  ihre  Förderung  durch  die  Frauen,  zumal  durch  die  erste  Ge- 
mahlin des  Königs  Marguerite  de  Valois  [1552—1615],*  wie  schon 
an  Heinrichs  IL  Hofe  die  Damen,  die  ihm  am  nächsten  standen, 
auch  die  Bücher  geliebt  hatten. 

Catherine  de  Medicis  [1519—1589],*  den  Familienüberliefe- 
rungen treu  bleibend,  eine  Freundin  der  Künste  und  Wissenschaften 
wie  ihr  Gemahl,  Heinrich  IL,  und  ihr  Schwiegervater,  Franz  L,  hat 
eine  sehr  beträchtliche  eigene  Bücherei  hinterlassen,  die  sie  nicht 
ohne  die  den  Medici  eigene  Gabe,  Geschäftsangelegenheiten  glücklich 
mit  dem  Musendienste  zu  vereinen,  zustande  gebracht  hat.  Als  bei 
der  Belagerung  von  Thionville  1558  der  Marschall  Pietro  Strozzi 
gefallen  war,  behauptete  sie,  dessen  Büchersammlung  sei  ein  alter 
Medieibesitz,  den  sie  nunmehr  zurückforderte.  In  seiner  Art  be- 
richtet Brantöme  [Vies  des  Capitaines  etrangers]  darüber:  „Ce  grand 
capitaine  Strozzi  avoit  une  tres-belle  bibliotheque,  dont  on  ne 
sauroit  dire  de  lui  comme  le  roy  Louis  XI  disoit  d'un  prelat  de  son 
royaume  qui  avoit  une  tres-belle  librairie  et  ne  la  voyoit  jamais, 
qu'il  ressembloit  k  un  bossu  qui  avoit  une  belle  grosse  bosse  sur  le 
dos  et  ne  la  voyoit  pas.  Mais  Monsieur  le  marechal  visitoit,  voyoit 
et  lisoit  souvent  en  sa  belle  librairie;  eile  lui  estoit  venue  du  cardinal 
Ridolphe  [Ridolfi-Medici]  et  fut  achete  apr&s  sa  mort;  il  estoit  tr^s- 
savant  prelat;  eile  estoit  estim^e  plus  de  quinze  mille  escus  pour  la 
rarete  des  beaux  et  grands  livres  qui  y  estoient.  Apres  la  mort  dudit 
marechal,  la  royne  m^re  la  retira  avec  promesse  d'en  recompenser  son 
fils  et  de  la  lui  payer  un  jour;  mais  jamail  il  n'en  a  eu  un  sol.  Je  sais 
bien  ce  qu'il  m'en  a  dit  d'autrefois  en  estant  fort  mal  content.** 
Die  Königin,  die  als  Bibliophilin  auch  in  einem  Lobgedichte  Ron- 
sards  schwungvoll  angesungen  wurde,  hatte  ihren  von  überall  her 
vermehrten  Bücherschatz,  der  an  4—5000  griechische,  lateinische, 
hebräische,  arabische,  französische,  italienische  Werke,  darunter  die 

92  *  Abb.  46—48 


16.  JAHRHUNDERT 

alten  kostbaren  achthundert  Klassikermanuskripte  der  Ridolfi- 
Strozzi-Sammlung  zählte,  vermutlich  in  ihrem  bei  Paris  gelegenen 
Schlosse  Saint-Maur  verwahrt.  Aber  nach  ihrem  Tode  bedrohten 
auch  diesen  Besitz,  den  eine  amtliche  Schätzung  aus  dem  Jahre  1597 
auf  5400  ecus  bewertete,  ihre  zahlreichen  Gläubiger  und  es  bedurfte 
erheblicher  Anstrengungen  des  Hofes,  um  ihn  1599  für  die  Biblio* 
theque  du  Roi  zu  erlangen.  Etwas  gewaltsam,  wie  die  Aneignung 
der  Bücherei  Strozzi,  geschah  das  freilich  auch.  J.  A.  de  Thou,  der 
eben  erst  das  Amt  eines  Garde  de  la  Bibliotheque  du  Roi  zu  ver- 
walten begann,  führte  die  Rettung  der  wichtigen  Sammlung,  nach 
allen  Seiten  hin  ausgleichend,  durch,  und  Heinrich  IV.  brauchte  nur 
5400  ecus  aufzuwenden.  Die  Bestände,  großenteils  heute  noch  in 
der  Bibliotheque  Nationale  geborgen,  und  die  Verzeichnisse  zeigen, 
daß  die  Auswahl  der  Bände  und  deren  Erhaltung  hier  die  Benennung 
einer  Liebhaberbücherei  rechtfertigen.  Die  Dichtung,  auch  die 
neuere  Dichtung,  war  reich  und  reichhaltig  vertreten,  die  damals 
durch  ihre  Massen  noch  in  den  angesehenen  großen  Privatbiblio- 
theken überwiegenden  schweren  wissenschaftlichen  Schriften  waren 
im  Verhältnis  zum  Ganzen  geschmackvoll  verteilt,  so  daß  es  sich 
wohl  annehmen  läßt,  die  königliche  Sammlerin  habe  mit  der  Unter- 
haltung ihrer  von  ihrem  Beichtvater  und  Bibliothekar  Benciveni, 
abbe  de  Bellebranche  geleiteten  Bücherei  nicht  nur  für  einen  vor- 
nehmen Hausschmuck  gesorgt,  sondern  auch  für  ihre  Leselust.  Daß 
ihre  Einbandliebhaberei  den  Luxus  von  Prachtbänden  nicht  ver- 
schmähte, verstand  sich  nach  der  Königin  Kunstliebe  und  der  Mode  von 
selbst,  immerhin  dürften  ihre  Geldnötesie  verhindert  haben,  auchhierin 
sich  alle  Wünsche  zu  erfüllen,  denn  die  Bezahlung  der  Buchbinder 
war  nicht  so  einfach  gewesen  wie  der  Ankauf  der  Strozzisammlung, 
deren  Handschriften  erst  Heinrich  IV.  neu  binden  ließ.  Die  Bücherei 
der  Diane  de  Poitiers,  duchesse  de  Valentinois  [1499 — 
1566],*  der  ältesten  Tochter  eines  Bibliophilen,  des  Jean  de  Poitiers, 
seigneur  de  Saint  Vallier,  im  Chäteau  d'Anet,  hatte  eine  weit  engere 
Verbindung  mit  derjenigen  Heinrichs  IL  als  die  seiner  Gemahlin. 
Wenigstens  hat  man  das  daraus  schließen  wollen,  dass  ihr  Band- 
zeichen, das  D  der  Mondsichel,  sich  auf  den  Einbänden  ihres  könig- 

*  Abb.  45  93 


FRANKREICH 

liehen  Geliebten^  dessen  Handbücherei  fast  vollständig  in  der  Biblio- 
thSque  nationale  aufbewahrt  wird,  in  dessen  H  eingestellt  wieder- 
finde,  woraus  sich  dann  die  Deutung  einer  Bibliophilenhuldigung 
ergab«  Unvermehrt  und  unversehrt  blieben  die  Bücher  der  schönen 
Diana  lange  im  Schloß  Anet  stehen,  bis  sie  1724  aus  dem  Nachlasse 
der  damaligen  Schloßherrin,  der  Anne  de  Baviere,  die  Anet  1718  er- 
erbt hatte,  versteigert  wurden.  Bei  dieser  Gelegenheit  kaufte  J.  B. 
Guyon  de  Sardiere  die  meisten  der  schönen  Bände,  die  mit 
seiner  Bibliothek  in  die  des  Herzogs  von  La  ValliÄre  kamen. 

Der  Einfluß  Italiens  auf  die  Büchersammlungen  des  französi- 
schen königlichen  Hauses  der  Valois  ist,  obschon  nicht  der  allein- 
herrschende, nicht  gering  'gewesen.  Aber  das  Beispiel,  das  die  ita- 
lienische Renaissance  mit  ihrer  Sammelleidenschaft  gab,  mit  den  auch 
durch  sie  großwerdenden  Namen  der  Medici,  Guidobaldi,  Della 
Rovere,  Sforza,  Farnese,  Gonzaga,  fand  in  Frankreich  vorerst  keine 
so  weitreichende  Nachahmung.  Um  1500  konnte  sich  Paris  mit  Rom, 
wo  39  Kardinäle  39  Museen  in  ihren  Palästen  hatten,  schwerlich 
vergleichen.  Dazu  wirkte  die  nationale  Tradition  dem  entgegen,  daß 
die  französische  und  die  italienische  Renaissance  sich  schlechthin 
verschmolzen.  Der  Einfluß  der  von  Franz  I.  herbeigerufenen  Ita- 
liener war  keineswegs  stark  genug,  um  das  französische  Kunst-  und 
Sammelwesen  sich  unterzuordnen.  Deshalb  sind  überall  die  Ansätze, 
auf  denen  die  neue  Zeit  begründet  wurde  in  der  französischen  Ver- 
gangenheit vorbereitet,  auch  in  der  Bücherei  und  im  Buchgewerbe 
ist  das  ,k  Tentique'  aus  der  ,mode  frangoise*  entstanden.  Das  Buch 
durfte  in  der  Form  des  alten  oder  kostbaren  Manuskriptes  neuer 
Arbeit  gewiß  nicht  fehlen,  wenn  sich  ein  reicher,  vornehmer  Herr, 
dessen  Hausrat^  Sammlungen  werden,  sein  Schoß  einrichtete,  wie 
es  um  1504  mit  dem  Chateau  de  Bury  Florimond  Robert  et, 
dit  le  Grand,  tat,  der  [1532  verstorbene]  Schatzmeister  Karls  VIII., 
Ludwigs  IL,  Franz'  I.  Und  die  Buchhandschriftenzeit  hat^  in 
Frankreich  ihre  köstlichste  und  längste  Nachblüte  gehabt.*  Immer- 
hin jedoch  war  die  Aufnahme  des  neuen,  aus  Deutschland  kommen- 
den Buches  weit  weniger  als  in  Italien  ein  Widersprechen  gegen  die 
mindere  Art  des  Druckwerkes,  weit  mehr  ein  Bemühen,  es  buch- 


94 


*  Abb.  66 


16.  JAHRHUNDERT 

gewerblich  zu  veredeln  und  zu  verschönern.  Daß  das  Buch,  dank 
der  Einbandkunst,  in  das  Kunstgewerbe  einbezogen  wurde,  gab  der 
neuen  Art  der  Bücherliebhaberei  Frankreichs  die  Grundlage  einer 
natürlichen  Entwicklung.  Diese  Bibliophiliemode  brachte  einen 
neuen  Buchkunstzweig  zur  Blüte,  das  Druckwerk  erhöhend,  weil 
dessen  Buchformwerte  erweiternd.  Die  Begierde,  Schönes  und  Seltenes 
zu  besitzen,  um  damit  das  Leben  zu  verzieren:  diese  einer  Renaissance 
verbundene  Sammlerlust  war  nicht  allein  in  Paris,  war  ebenso  in 
den  Provinzstädten,  in  Ronen,  Lyon,  Tours,  Dijon,  Troyes  und 
anderen  vorhanden,  wo  die  Cabinets  der  Curieux  sich  mit  Kunst- 
und  Naturmerkwürdigkeiten  ausstatteten,  den  Büchern  keinen  ge- 
ringen Platz  gewährend.  In  der  Beschreibung,  die  der  Dichter 
Andre  de  Rivaudeau,  seiner  Cousine  Marie  Tiraqueau  zu  Ehren,  von 
dem  Kabinett,  das  ihr  Vater  Michel,  der  berühmte  Jurist,  ein  Freund 
von  Rabelais,  in  Bel-Esbat  [bei  Fontenay]  besaß,  gab,  heißt  es  über 
die  Bibliothek: 

Un  recueil  de  force  liures  bons 

Tirez  de  mille  endroits  de  la  France  et  du  fons 
Des  briz  Ausoniens,  des  presses  de  Venise, 
Et  du  pais  Souffle  par  Thaleine  de  bise. 

Gerühmt  wird  der  Sammler,  der  das  Seine  von  überallher  zu  holen 
weiß,  gerühmt  wird  Venedig,  der  Vorort  feinen  Buchgeschmackes 
und  geschmackvoller  Bücherliebhaberei.  Unter  den  vielen  damals 
sich  in  Frankreich  bildenden  Büchersammlungen,  die  durch  ihre  Aus- 
wahl sich  bemühten,  dem  Buch  seine  Geltung  unter  dem  Gerät 
einer  vornehmen  Haushaltung  zu  wahren,  die  die  Einbandpracht- 
entfaltung liebten,  um  auch  äußerlich  diese  Geltung  zu  zeigen,  ist 
gerade  keine  ihres  Einbandprunkes  wegen  in  späteren  Zeiten  be- 
rühmter geworden  als  diejenige  Groliers. 

Aber  man  muß  sich  doch  vergegenwärtigen,  daß  dieser  berühmte 
Bibliophilenname,  der  auch  für  die  Bucheinbandkunstentwicklung, 
für  den  Zusammenhang  zwischen  der  französischen  und  der  italie- 
nischen Bucheinbandkunstgeschichte  von  erheblicher  Wichtigkeit 
wurde,  daß  dieser  Name,  in  dem  sich  die  Bibliophilietradition  einen 

95 


FRANKREICH 

Heros  erschaffen  hat,  den  Zeitgenossen  keineswegs  die  Persönlichkeit 
eines  Buchfreundes  sondergleichen,  vielmehr  den  eines  berühmten 
Kunstfreundes  verkörperte,  der  auch  Bücher  sammelte.  In  der  Be- 
schreibung, die  Jacques  Strada  in  seiner  „Epitome  du  Thresor  des 
antiquitez'*  [Lyon:  1553]  von  den  Sammlungen  des  Schatzmeisters 
gibt,  stehen  die  Bücher  an  letzter  Stelle:  „J'ay  este  encores  plus  es* 
merveille,  et  non  sans  cause,  de  Tindustrie  de  M.  le  Thresorier  Jean 
GroUier  demourant  ä  Paris,  homme  noble  et  docte  .  .  .  pour  ce  qu'il 
ha  amasse  un  nombre  presque  infini  de  pieces  d'or,  d'argent  et  de 
cuiure,  petites  et  grandes,  toutes  entieres  sans  estre  gastees,  dignes 
d'estre  accomparees  ä  grans  thresors.  Ce  qui  lui  ha  donn6  un  bruit 
par-dessus  les  autres,  avec  le  bonte  et  vivacite  de  son  esprit  orne  de 
doctrine,  dont  il  s'est  acquis  ceste  tant  belle  science.  Dauantage 
est  ä  louer,  de  ce  (combien  qu'il  soit  assez  ayme  et  honore  sans  cela), 
qu'il  met  toute  diligence  d'acquerir  de  tous  costez  toutes  sortes 
d'anciennes  figures,  tant  de  cuiure,  que  de  marbre,  y  employant  gens 
expressement,  pour  en  retirer  de  tous  endroits,  les  plus  singulieres: 
des  quelles  il  ha  un  nombre  merveilleux,  et  principalement  de  me- 
daillons  qui  valent  une  richesse  infinie.  II  n'est  seulement  recom- 
mandable  pour  icelies  antiquitez,  mais  aussi  fort  louable,  pour  une 
tres  grande  multitude  de  liures,  tant  grecs  que  latins.*' 

Mag  nun  die  Überlieferung  auch  dem  Bibliophilen  Grolier 
manches  zugedichtet  haben,  was  keineswegs  als  seine  Sinnes-  und 
Sonderart  zu  betrachten  ist  —  wie  denn  auch  der  Besitzvermerk: 
...  et  amicorum  eine  nicht  ungewöhnliche  Wendung  unter  huma- 
nistischen Buchfreunden  war  —  mag  auch  die  Auswahl  der  Bibliothek 
Croliers  noch  ganz  dem  Geschmacke  entsprochen  haben,  der  die 
Antike  zu  einem  Ausgangspunkte  der  Renaissanceideen  werden  ließ, 
mag  Grolier  kein  bahnbrechender  Neuerer  gewesen  sein,  der  beispiel- 
gebend für  die  Bücherwahl  die  Bibliophilie  weiterleitete,  in  einem 
ist  er,  gleichviel  ob  das  schon  in  seinen  Tagen  hochgeschätzt  worden 
ist,  für  die  Bücherliebhaberei  vorbildlich  geworden:  in  der  Anerken- 
nung des  Druckwerkes  durch  dessen  [nach  heutigem  Sprachgebrauch] 
kunstgewerbliche  Ausstattung.  In  der  Übergangszeit  der  zweiten 
Hälfte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  waren  die  Bibliophilen  noch 

96 


16.  JAHRHUNDERT 

den  Prachthandschriften  treu  geblieben,  erst  die  Alduswerkstätte  in 
Venedig  hatte  die  Formen  einer  Liebhaberausgabe  modernen  Stils, 
die  den  gewöhnlichen  Druck  von  den  Vorzugsausgaben  trennte, 
aufgefunden.  Der  erste,  oder  doch  einer  der  ersten  bedeutenden 
Büchersammler,  der  dieser  neuen  Bibliophiliedoktrin  im  großen 
huldigte  und  der  sie  aus  Italien  nach  Frankreich  verpflanzte,  war 
Grolier.  Der  Buchkunstfreund  und  Einbandliebhaber  hat  in  Grolier 
einen  Vorgänger  gehabt,  der  mit  Recht  Jahrhunderte  nach  seinem 
Tode  als  solcher  entdeckt  worden  ist,  unabhängig  von  den  kaum 
noch  aufzuklärenden  Beziehungen,  die  die  Einbände  der  Grolier- 
bibliothek  mit  den  seinen  Bestrebungen  nachfolgenden  Bibliophilen 
Frankreichs  verbanden. 

Bei  der  Begründung  der  berühmten  französischen  Liebhaber- 
büchereien wird  schon  im  sechzehnten  Jahrhundert  deutlich,  aller- 
dings noch  nicht  als  Sammeln  von  Büchern  berühmter  Abstammung, 
daß  sie  miteinander  insofern  in  einem  sehr  engen  Zusammenhang 
stehen,  als  die  Auflösung  einer  solchen  Sammlung  fast  immer  den 
anderen  die  in  ihrer  Geschichte  bemerkenswertesten  Bereicherungen 
bringt.  So  wurzeln  auch  in  diesem  tatsächlichen  Sinne  fast  alle  be- 
deutenden französischen  Liebhaberbüchereien  des  sechzehnten  und 
siebzehnten  Jahrhunderts  in  derjenigen  Groliers.  Jean  Grolier  de 
Servin,  Vicomte  d'Aguisi  wurde  1479  in  Lyon  geboren,  lebte  als 
Schatzmeister  des  Königs  von  Frankreich  Franz  L  1510 — 1533  in 
Mailand,  ging  1534  als  sein  außerordentlicher  Gesandter  an  den  Hof 
des  Papstes  Clemens  VIL  und  wurde  von  dort  1537  als  einer  der  vier 
Staatsschatzmeister  [1538]  nach  Paris  berufen,  wo  er  1547  General- 
schatzmeister von  Frankreich  wurde,  ein  Amt,  das  er  auch  unter  den 
Königen  Heinrich  IL,  Franz  IL  und  Karl  IX.  bis  zu  seinem  Tode 
[1565]  bekleidete.*  Der  alternde  Grolier  hatte  noch  manche  amt- 
liche und  geschäftliche  Verdrießlichkeiten,  zu  deren  Überwindung 
ihm  die  Hilfe  des  Parlamentspräsidenten  De  Thou  von  großem 
Nutzen  war.  Durch  diesen,  den  Vater  des  Geschichtsschreibers  und 
Staatsmannes,  J.  A.  de  Thou,  sind  die  Namen  der  beiden  berühmte- 
sten französischen  Bücherfreunde  des  sechzehnten  und  siebzehnten 
Jahrhunderts  in  eine  persönliche  Beziehung  gebracht,  wenn  auch 

BOOENO    7  *Abb.  52— 56  97 


FRANKREICH 

die  schönen  Bände,  die  Grolier  dem  Präsidenten  de  Thou  geschenkt 
hatte,  nicht  in  die  Bibliothek  J.  A.  de  Thous  gelangt  zu  sein  scheinen. 
Das:  et  amicorum,  mit  dem  Grolier  die  3000  Bände  seiner  Bücherei 
in  den  Dienst  seiner  Freunde  stellen  wollte,  ist  aber  jedenfalls  für  ihn 
keine  leere  Höflichkeit  gewesen.  Mag  er  es  auch  nicht  wörtlich  be- 
folgt haben:  mit  Büchergeschenken  ist  er  nicht  sparsam  gewesen, 
denn  er  liebte  es,  eine  Anzahl  schön  ausgestatteter  Abzüge  neu  er- 
scheinender Werke  zu  verteilen  wie  er  die  ihm  selbst  dargebrachten 
Buchgaben  der  Verfasser  und  Verleger  gut  zu  lohnen  pflegte  — 
ein  Zug  in  dem  Bilde  eines  Bibliophilen-Mäzens,  der  modern  war, 
weil  ihn  erst  das  Druckwerk  ermöglicht  hatte.  Nach  Groliers  Tode 
wurde  sein  Nachlaß  unter  den  Erben  geteilt,  wobei  jedenfalls  manche 
Bücher  verkauft  worden  sind.  Aber  der  eigentliche  Bestand  seiner 
Bücherei  [3000  Bände]  kam  in  den  Besitz  seines  Schwiegersohnes, 
des  Garde  des  sceaux  de  France,  Mery  de  Vic,  Seigneur  de  Er- 
m^nouville,*  und  ging  nach  dessen  Tode  [1622]  in  den  seines  Sohnes 
Dominique,  des  Bischofs  von  Auch,  über,  der  1661  gestorben  ist. 
Die  von  diesem  ansehnlich  vermehrte,  in  einem  Palaste  der  Rue 
St.  Martin  aufgestellte  Bibliothek  wurde  1676  im  Hotel  de  ville 
von  Lyon  verkauft,  und  dieses  Jahr  bezeichnet  den  Zeitpunkt,  in 
dem  Grolierbände  in  größerer  Zahl  Ware  des  Altbüchermarktes 
wurden.  Die  bedeutendsten  Bücherfreunde,  die  damals  den  Besitz 
Groliers  unter  sich  teilten,  waren  J.  A.  de  Thou,  Pierre  Pithou, 
Paul  Petau,  Ballesdens  und  der  Kanzler  P.  Seguier.  Auch  der  P. 
Menestrier,  damals  bibliothecaire  de  Lyon,  machte  Einkäufe  für  die 
ihm  anvertraute  Bibliothek  der  Stadt  Lyon.  Bonaventure  d'Ar- 
gonne  hat  die  Versteigerung  beschrieben:  die  Tatsache,  daß  er,  ein 
armer  Mönch,  einige  schöne  Bände  erstehen  konnte,  zeigt,  daß  die 
Preise  kaum  sehr  hoch  gewesen  sein  werden. 

Damals  gab  es  schon  zwei  Richtungen  in  der  französischen 
Bibliophiliemode,  eine  anerkannte,  seriöse,  die  Gelehrsamkeit  mit 
Geschmack  und  Würde  zu  vereinen  strebte,  woraus  das  Ideal  der 
Repräsentationsbibliothek  fast  allzu  rasch  sich  ausbildete  und  eine 
neue,  deren  Anhänger,  nach  Etienne  Dolets  häufig  angeführtem 
Wahlspruche  sammelten:    Livres  nouveaulx,  livres  vielz  et  antiques. 

98  *  Abb.  65 


16.  JAHRHUNDERT 

Die  Dichter  und  ihr  Anhang  in  der  vornehmen  Welt  mochten  sich 
nicht  damit  zufrieden  geben,  daß  man  bloß  die  alten  Bücher  ehre  und 
schätze.  Mit  den  Pierre  Ronsard  und  Philippe  Desportes  kommt 
eine  literarische,  moderne  Richtung  in  die  französische  Bibliophilie. 
Hatte  Arthur  Gouffier,  seigneur  de  Boisy,  noch  der  Einbandlieb- 
haberei im  italienischen  Stil  gehuldigt,  so  kaufte  sein  Sohn  Claude, 
grand  ecuyer  de  France,  der  spätere  Duc  de  Rouannais,  schon  ohne 
Strenge  die  Dinge,  die  ihm  schlechthin  Freude  machten:  Auto- 
gramme und  Porträts,  schöne  Druckwerke  und  Handschriften,  die 
Neuigkeiten  des  französischen,  italienischen,  spanischen  Bücher- 
marktes. Als  Bibelot  wurde  das  Buch  salonfähig,  die  schönen 
chasseresses  des  bouquins  schlössen  sich  aus  dem  Bibliophilen- 
reigen  nicht  aus.  Damit  waren  die  Beziehungen  der  Bücherliebhaberei 
zum  alten  und  neuen,  zum  guten  und  schönen  Buch  umschrieben 
und  vorbereitet.  Das  Buch  in  der  Mode  lockte  den  Buchfreund, 
dem  es  Vergnügen  machte,  die  Bücher  seiner  Gegenwart  sich  anzu- 
schaffen und  nach  seinem  Wohlgefallen  auszustatten;  den  auch  die 
Kuriositäten,  zumal  die  verbotenen  Schriften,  reizten:  Bücher, 
über  die  man  sich  zu  unterhalten  verstand.  Die  gewichtigen  Bände, 
die  Kostbarkeiten  und  Seltenheiten,  stellten  sich  in  die  immer  mehr 
bibliographisch  beherrschte  Ordnung  der  großen  Sammlungen,  die 
der  Stolz  ihrer  Besitzer  und  der  Neid  von  deren  Nebenbuhlern 
wurden.  Bescheidenere  begnügten  sich,  die  Ansammlungen  ihrer 
Bücher  frei  von  dem  Regelzwange  alles  Sammeins  zu  betrachten. 
Das  tat  mit  seinen  viertausend  Bänden  der  das  Leben,  wie  es  kam, 
hinnehmende  lustige  Marschall  Frangois  Baron  de  Bassompierre 
[1579—1676].  Und  ein  Weiser  entdeckte,  daß  nur  der  ein  besinn- 
licher Bücherfreund  werden  könne,  der  den  Abstand  zwischen  Buch 
und  Mensch  überall  richtig  zu  schätzen  verstände. 

Der  Beobachter  der  Menschen  und  ihres  Treibens,  der  Ver- 
fasser der  , Essais',  Michel  de  Montaigne  [1533—1592],  in 
welchem  Werke  er  der  Bibliosophie  eines  der  anmutigsten  und 
geistvollsten  Kapitel  widmete,  das  mehr  noch  eine  Psychologie  des 
Bibliophilen  als  der  Bibliophilie  scheint,  worin  sich  der  Abstand  von 
den  Meditationen  Petrarcas  über  denselben  Gegenstand  zeigt,  hatte 

7-  99 


V^1GnPi\ 


FRANKREICH 

nach  seiner  eigenen  Versicherung  ein  Bändetausend  auf  seinem  Land- 
sitze,  ,,eine  der  schönsten  unter  den  Dorfbüchereien/'  Einzelheiten 
über  den  Bücherschatz  des  Philosophen  sind  nicht  vorhanden,  aber 
eine  [über  ein  Vierteltausend  Titel  nachweisende,  von  Pierre  Villey 
unternommene]  Bibliotheksrekonstruktion  läßt  die  Montaignesamm- 
lung nach  ihrem  Gehalte  immerhin  schätzen.  Die  italienischen  und 
lateinischen  Werke  blieben  weitaus  in  der  Mehrzahl.  Zwar  kannte 
Montaigne  und  verwahrte  in  seiner  Bücherei  auch  schon  Bände 
einer  sich  eben  erst  entfaltenden  französischen  Nationalliteratur. 
Aber  die  Dichtung  und  Geschichtschreibung  in  einer  lebenden 
Sprache,  die  den  gebildeten  Leser  jener  Tage  doch  noch  vor  allem 
anderen  entzückte,  blieb  das  Italienische.  Und  das  Lateinische  war 
das  internationale  Verständigungsmittel  der  Gelehrten,  der  ernsten 
Werke  wissenschaftlicher  Art,  von  deren  Fakultätsgravität  aller- 
dings Montaigne  ohne  Respekt  sprach,  wie  denn  auch  die  Fachge- 
lehrsamkeit in  seinen  Büchereien  meist  fehlte.  Dafür  galt  die 
Humanistenkonfession  auch  diesem  Menschenkenner  und  Weltmann 
moderner  Artung.  Die  Alten  bevorzuge  und  bewundere  er  vor 
den  Neueren,  schrieb  er,  der  festen  inneren  Geschlossenheit  ihrer 
Anschauungen,  ihrer  schriftstellerischen  Haltung  wegen.  Dieser 
Anerkennung  antiker  Kultur  fehlte  jedoch  nicht  eine  Einschränkung. 
Ihm  galten,  anders  als  F.Rabelais,  die  Autoren  der  Griechen  nicht* 
viel,  indessen  er  die  Römer  liebte.  Hiervon  mögen  persönliche  Gründe 
die  eigentliche  Ursache  gewesen  sein,  denn  das  Griechische  hatte  er 
nie  gut  erlernt,  während  schon  der  Knabe  ein  fertiger  Latinist  war. 
Demgemäß  befanden  sich  in  seiner  Bücherei  nur  wenige  Werke  in 
griechischer  Sprache.  Die  bedeutenden  französischen  Büchersamm- 
lungen des  sechzehnten  bis  achtzehnten  Jahrhunderts  sind  besonders 
in  der  noblesse  de  la  rohe  zahlreich  gewesen,  Familienbibliotheken, 
die  das  Ansehen  der  Familie  erhöhten  und  Fachsammlungen,  die 
deren  Mitgliedern  nützten,  in  sich  vereinigend.  Aber  auch  Liebhaber- 
büchereien, weil  die  Anpassung  an  die  Forderungen  gesellschaftlich 
guten  Tones,  die  Anerkennung  schöngeistiger  Bestrebungen  damals 
in  diesen  Kreisen  sehr  verbreitet  waren.  Wozu  noch  kam,  daß,  wie 
die  Ämter  gleichsam  durch  Erbgang  in  der  Familie  blieben,   auch 

100  *  ^^^'  57»  58 


17.  JAHRHUNDERT 

die  Buchereien  sich  gewissermaßen  als  notwendige  Unterstützung 
einer  solchen  traditionell  bestimmten  amtlichen  Stellung  vererbten. 
Unter  diesen  Beamten-Familienbibliotheken  ist  die  berühmteste 
die  Bibliotheca  Thuana  gewesen,  Gelehrten-  und  Liebhaberbücherei 
auf  einem  ihrer  Entwicklungshöhepunkte  zeigend.  Gilt  die  Biblio- 
theca Grolierana  als  die  glänzendste  Liebhaberbücherei,  die  im  sech- 
zehnten Jahrhundert  in  Frankreich  vorhanden  war,  läßt  sich  aus 
gleichen  Gründen  gleicher  Ruhm  der  1573  begründeten,  1789  auf- 
gelösten Bibliotheca  Thuana  für  das  siebzehnte  Jahrhundert  zu- 
messen. Diese  beiden  meistgenannten  französischen  Privatbiblio- 
theken ihrer  Art  sind  beispielgebend  für  die  Entwicklung  des  Ge- 
schmackes in  Bücherdingen  in  ihren  Jahrhunderten,  für  die  erste 
Epoche  der  modernen  französischen  Bibliophilie;  kennzeichnend  für 
die  Ausbildung  einer  künstlerischen  und  wissenschaftlichen  Bewer- 
tung der  Druckwerke  durch  die  Buchfreunde.  Die  Anregungen,  die 
hier  das  Grolier- Vorbild  gegeben  hatte,  blieben  für  die  Auffassung 
und  Auswahl  einer  französischen  Liebhaberbücherei  richtunggebend, 
d.  h.  für  diejenigen  Privatbibliotheken,  die  neben  dem  Gebrauchs- 
nutzen ihrem  Besitzer  noch  andere  Vorteile  bringen  sollten,  von  dem 
Stolz,  den  die  Aufnahme  eines  erlesenen  Bücherschatzes  in  den  Haus- 
ratprunk verlieh  bis  zu  den  feineren  und  feinsten  Genüssen,  die  sich 
aus  solcher  Buchpflege  gewinnen  ließen.  Der  Gegensatz  zwischen  der 
Arbeits-  und  der  Zierbücherei,  gemildert  durch  Ausgleichsversuche, 
die  das  dem  Gelehrten  nützliche  und  das  dem  Liebhaber  angenehme 
vereinen  wollten,  hervorgehoben  durch  die  Bücherwahl,  die  schärfer 
die  Schrifttumsgebiete  nach  den  Gattungen  leichter  und  schwerer 
Lektüre  voneinander  trennte,  wird  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des 
siebzehnten  Jahrhunderts  merkbarer,  als  mit  der  Mode  der  Privat- 
bibliotheken auch  die  Scheidung  der  lateinischen,  wissenschaftlichen 
von  den  französischen  schönwissenschaftlichen  Schriften  begann. 
Für  die  Grolier  und  De  Thou-Bibliotheken  ist  er  in  ihrer  Entstehungs- 
zeit nicht  gegeben  gewesen  und  daraus  erklärt  sich  die  verschieden- 
artige Einschätzung,  die  sie  erfahren  haben.  Entdeckt  sind  sie  als 
Liebhaberbüchereien  erst  im  neunzehnten  Jahrhundert ;  vorher 
waren  sie  in  hohem  Ansehen,  weil  sie  das  Mäzenatentum  vornehmer 

101 


FRANKREICH 

Würdenträger  im  Musenreiche  zeigten,  weiterhin  schätzte  man  sie 
als  die  Äußerungen  eines  besonderen  Bibliophilentemperamentes 
ein  und  ehrte  die  ihnen  entstammenden  Bände  deshalb  folgerichtig 
als  Provenienzexemplare  hohen  Wertes.  Auffassungen,  die  einander 
insoweit  ergänzen,  als  sie  den  Ergebnissen  der  Sammeltätigkeit 
gelten,  die  die  beiden  Büchereien  schuf:  den  sorgfältig  behandelten 
Abzügen,  den  sorgfältig  gewählten  Ausgaben,  kurzum  der  be- 
sonnenen Buchpflege. 

Unter  den  letzten  Valois,  von  Ludwig  XII.  an,  und  den  ersten 
Bourbons,  unter  Heinrich  IV.,  Ludwig  XIII.,  Ludwig  XIV.  ge- 
hörten die  De  Thou  zu  den  großen  Familien  des  Parlamentsadels. 
Der  hervorragendste  ihres  Namens,  Jacques-Auguste  de  Thou, 
Baron  de  Meslay  [1553— 1617],*  als  Geschichtsschreiber  und  Staats- 
mann ausgezeichnet,  ist  der  eigentliche  Begründer  der  seinen  Na- 
men tragenden  Büchersammlung  gewesen.  Von  seinem  [1582  ge- 
storbenen] Vater  Christophe  de  Thou,  premier  president  au 
Parlament  de  Paris,  hatte  sein  jüngster  Sohn  auch  das  Erbe  der 
Bücherliebe  überkommen.  Schon  Christophe  de  Thou,  ein  Freund 
Groliers,  den  dieser  mit  fünf  Bänden  kostbarer  Buchgeschenke  einst 
erfreut  hatte,  war  ein  eifriger  Urkundensammler  gewesen,  in  der 
Absicht,  eine  Geschichte  Frankreichs  zu  schreiben.  Beides,  das 
Sammeln  und  das  Schreiben,  sollte  aber  erst  Jacques-Auguste  so 
verwirklichen,  wie  es  in  der  Absicht  seines  Vaters  gelegen  haben 
mochte.  Ursprünglich  war  er,  gegen  seinen  Willen,  dem  geistlichen 
Stande  bestimmt  worden  und  1573,  zwanzigjährig,  in  das  von  seinem 
Onkel,  Nicolas  de  Thou,  dem  Kanonikus  der  Kirche  Nötre  Dame 
geleitete  Nötre- Dame- Kloster  eingetreten.  Hier  begann  er  seit 
1574  an  seiner  Bücherei  zu  sammeln,  die  er  auf  Reisen  in  Frank- 
reich, Italien  und  den  Niederlanden  vermehrte.  Darüber  heißt  es 
[in  den  ,Memoires']:  ,,A  Venise  il  s'occupa  dans  les  boutiques  des 
libraires,  et  y  trouva  entre  autre  plusieurs  livres  fort  rares  en  France, 
dont  il  enrichit  sa  bibliotheque  qu'il  avoit  deja  commence6  .  .  . 
A  Lyon  il  acheta  bien  des  livres  de  Jean  de  Tournes  et  de  Guil- 
laume  Rouille  .  .  .  A  Anvers  il  alla  chez  Christofle  Plantin."  Als 
sein    Onkel    Bischof    von    Chartres    wurde,    verzichtete    Jacques- 

102  *  Abb.  59 


17.  JAHRHUNDERT 

Auguste  auf  die  Kanonikatspfründe  zugunsten  seines  Neffen. 
Da  aber  die  älteren  Brüder  Jacques  Augustes  frühzeitig  starben, 
entsagte  dieser  1584  dem  geistlichen  Beruf  und  empfing  von 
Heinrich  III.  das  Amt  eines  maitre  des  requetes.  Im  folgenden 
Jahre  verließ  er  mit  seiner  Bücherei  das  Nötre- Dame- Kloster,  um 
dem  Wunsche  seiner  Mutter  gehorchend  in  deren  Pariser  Haus  in 
der  rue  des  Poitevins  überzusiedeln,  das  sie  ihm  1587  hinterließ. 
Hier  stand  nun  und  wuchs,  indessen  die  amtliche  Laufbahn  ihren 
Besitzer  immer  höher  führte,  die  Bibliotheca  Thuana.  Freilich  nicht 
glänzend  aufgestellt  in  einer  prachtvollen  Zimmerflucht,  sondern 
recht  und  schlecht  untergebracht  in  einigen  anscheinend  nicht  einr 
mal  zusammenhängenden  Räumen.  Dafür  war  der  Aufwand,  mit 
dem  die  Bände  dieser  Bibliothek  gehegt  wurden,  ein  ungewöhnlicher 
und  auch  ihr  innerer  Wert  wurde  ebenso  wie  die  Zahl  ihrer  Bücher 
von  den  Zeitgenossen  bewundert.  ,, Belle  et  rare,  plus  dans  la  honte 
des  livres  que  dans  la  belle  reliure"  nannte  sie  1644  Lef^vre'd'Ormes- 
son,  und  im  gleichen  Jahre  schrieb,  ihren  Bestand  erheblich  unter- 
schätzend, der  P.  Jacob  über  sie:  ,,Cette  biblioth^que  poss^de  plus  de 
8000  volumes  des  plus  rares  et  curieux,  qui  ont  et6  recherchez 
dans  l'Europe  avec  une  despense  excessive,  lesquels  sont  relies 
en  maroquin  et  veau  dorez."  Freilich,  den  Einbandprunk  der  Gro- 
liersammlung  konnte  die  Bibliotheca  Thuana  nicht  entfalten,  ihre 
Einbände  waren  gut,  ohne  Liebhaberprachtbände  zu  sein.*  Und 
auch  die  Ausschmückungen  der  bibliographischen  Legende,  J.  A. 
de  Thou  habe  sich  die  neuerscheinenden  Werke  auf  Papier  mit 
seinem  eigenen  Wasserzeichen  drucken  lassen,  übertreiben  das 
berechtigte  Verlangen  des  Gelehrten,  breitrandige  Abzüge  zu  be- 
kommen, um  bequem  auf  ihnen  seine  Randschriften  eintragen  zu 
können.  Dafür  hatte  J.  A.  de  Thou  immer  gesorgt  und  hierin 
eine  gewisse  Verschwendung  gezeigt,  indem  er  die  Großpapiere 
bevorzugte.  Er  wollte  Bücher  auf  gutem  Papier  haben,  die  Vor- 
zugsausgabe als  solche  lockte  ihn  nicht.  Nur  zwei  Pergamentdrucke 
barg  die  Bibliotheca  Thuana.  Daß  der  Abstand  der  Zeiten,  der 
dergleichen  Gewohnheiten  verschiedenartig  beurteilen  läßt  und  das 
als  einen  Aufwand  betrachtet,  was  man  früher  nur  für  die  beste  Er- 

*  Abb.  6o,  6i  103 


FBANKBEICH 

füUung  eines  Buchnutzzweckes  hielt,  auch  für  die  verschiedenartige 
Einschätzung  des  Inhalts  von  Büchersammlungen  gilt,  ist  für  das 
Urteil  über  die  Bibliotheca  Thuana  ebenfalls  nicht  zu  vergessen. 
In  ihren  Jahren  war  sie  eine  mit  den  besten  und  neuesten  Büchern 
versehene  gelehrte  Sammlung,  in  der  die  [heute  meist  verachteten 
und  veralteten]  lateinischen  Schriften  überwogen,  obschon  auch  die 
Bücher  geringeren  Grades,  die  Romane,  die  Kleinliteratur  in  den 
Sammelbänden  und  sonstige,  gut  vertreten  waren.  Damals  bedeu- 
tete es  schon  etwas,  die  im  Auslande  veröffentlichten  Bücher  rasch 
und  vollständig  für  die  Bibliothek  zu  gewinnen  und  weit  weniger 
Wert  legte  man  auf  die  bibliographisch-historischen  Raritäten,  die 
alten  Drucke  als  solche.  Besaß  doch  die  Bibliotheca  Thuana  nur 
wenige  Wiegendrucke  und  unter  ihren  vielen  Ausgaben  griechischer 
und  römischer  Klassiker  nur  vier  Editiones  principes. 

Unterstützt  war  Jacques- Auguste  de  Thou  bei  der  Ordnung 
und  Verwaltung  seiner  Bücherei  vermutlich  von  Bibliothekaren- 
Sekretären,  deren  Namen  unbekannt  sind,  ein  Zeichen,  daß  seine 
eigene  Persönlichkeit  auch  in  seiner  Privatbibliothek  herrschte. 
Am  Ende  seines  Lebens  standen  ihm  die  beiden,  ihm  befreundeten 
und  verwandten,  als  seine  Hausgenossen  mit  ihm  lebenden  Brüder 
Pierre  [1582-1651]*  und  Jacques  [1586-1656]  Dupuy  hilfreich 
zur  Seite,  die  beide  angesehen,  der  ältere  Königlicher  Staatsrat,  der 
jüngere  Titularprior  von  Saint- Sauveur-les-Bray,  waren  und  wohl- 
haben .  genug,  um  20000  ecus  auf  ihre  eigene  Privatbibliothek  ver- 
wenden zu  können.  Auch  nach  ihres  Begründers  Tode  blieb  die 
Bibliotheca  Thuana  unter  ihrer  Leitung,  bis  sie  1645  die  Nach- 
folger von  Nicolas  Rigault  als  Gardes  der  Biblioth^que  du  Roi 
wurden. 

Über  seinen  Bücherschatz,  den  er  in  mehr  als  vierzig  Jahren 
mit  den  größten  Kosten  und  Mühen  zusammengebracht  habe,  hatte 
in  seinem  Testamente  [vom  13.  Juli  1616]  J.  A.  de  Thou  verfügt, 
daß  er  dessen  Erhaltung  als  Ganzes  wünsche,  damit  sie  seiner  Fa- 
milie und  den  Wissenschaften  nütze.  Er  verbiete,  daß  die  Samm- 
lung aufgeteilt,  verkauft  oder  sonstwie  auseinandergerissen  werde. 
Verbunden  mit  dem  numismatischen  Kabinett  solle  sie  im  Gemein- 


104 


♦  Abb.  63 


17.  JAHRHUNDERT 

besitz  derjenigen  seiner  Söhne  verbleiben,  die  im  Gelehrtenstande 
wären,  indessen  ihre  Benutzung  allen  anderen  dazu  befähigten  eben- 
falls verstattet  werden  müsse.  Sein  Freund  Pierre  Dupuy  solle  bis 
zur  Großjährigkeit  der  Söhne  die  Verwaltung  haben.  J.  A.  de  Thou 
hatte  drei  Söhne  hinterlassen,  die  beiden  kinderlos  gebliebenen 
Frangois-Auguste,  der  als  Anhänger  des  Herzogs  von  Orleans  am 
12.  September  1642  in  Lyon  mit  dem  Marquis  des  Cinq-Mars  hin- 
gerichtet wurde,  Achille-Auguste,  conseiller  au  parlament  de  Bre- 
tagne, der  1635  starb  und  den  dem  Vater  gleichnamigen  Jacques- 
Auguste  de  Thou  [1609—1677],*  der  als  Geistlicher  in  Rom  lebte, 
als  ihn  das  Schicksal  seines  ältesten  Bruders  in  die  Heimat  zurück- 
führte. Zum  Familienhaupt  geworden  trat  er  in  das  parlament  de 
Paris  ein  und  sicherte  sich  [durch  das  Versprechen  der  Zahlung  von 
10000  livres  an  seine  Schwester  Louise  de  Pontac  —  2.  Mai  1643] 
den  alleinigen  Besitz  der  Bibliotheca  Thuana,  die  er,  unterstützt 
von  den  Brüdern  Dupuy,  auf  das  Doppelte  vermehrte. 

Die  amtliche  Laufbahn  des  vornehmen  Mannes,  dessen  ersten 
1646  geborenen  Sohn  Louis-Auguste  die  Königin  Regentin  und  der 
Kardinal  Mazarin  aus  der  Taufe  hoben,  war  rasch,  schon  1647  wurde 
er  President  de  la  premiere  chambre  des  enquetes;  1657  ernannte 
ihn  König  Ludwig  XIV.  zum  französischen  Gesandten  im  Haag, 
ein  Amt,  dessen  Aufwände  de  Thous  Vermögen  nicht  gewachsen 
war.  1662  abberufen,  seine  Frau  hatte  inzwischen  voreilig  die  Präsi- 
dentenstelle verkauft,  war  de  Thou  gezwungen,  von  neuem  <iis  ein- 
facher Rat  in  das  Parlament  einzutreten  und  nicht  mehr  imstande, 
seine  Schuldenlast  zu  tilgen:  er  mußte  die  Bibliotheca  Thuana,  das 
Erbgut  der  Familie  und  der  Wissenschaften  1669  zum  Verkauf 
stellen  und,  da  sich  sein  Vermögenszusammenbruch  nicht  aufhalten 
ließ,  sie  der  Genossenschaft  seiner  Gläubigei;  überlassen. 

Die  Verkaufsverhandlungen,  die  1669  mit  abgelehnten  Ange- 
boten an  den  König  und  an  Colbert  begonnen  hatten,*  blieben  er- 
gebnislos, die  Bibliotheca  Thuana  wurde  noch  in  diesem  Jahre  in 
die  Gesamtmasse  der  Schulden  einbezogen.  Dagegen  wendete  sich 
1672  ein  auf  das  Testament  J.  A.  de  Thous  I.  gestützter  Einspruch 
Louis-Augustes  und  der  anderen  Söhne  J.  A.  de  Thous  IL,  der  eines 

*  Abb.  62,  64  105 


FB ANKBEICH 

Formfehlers  dieses  Testamentes  wegen  nichts  nützte  und  1675  ab- 
gewiesen wurde.  Die  Bibliotheca  Thuana,  um  deren  Ordnung  und 
Vermehrung  sich  J.  A.  de  Thou  II.  unter  den  obwaltenden  Um- 
ständen seit  1669  kaum  noch  gekümmert  hatte,  blieb  den  Gläubigern 
überlassen.  1679  wurde  der  Palast  in  der  rue  des  Poitevins  verkauft, 
wo  die  Bücherei  aufgestellt  war  und  hiermit  begann  auch  ihre  Auf- 
lösung. Die  Handschriftensammlung,  bestehend  aus  den  1000  Ur- 
kunden, die  J.  A.  de  Thou  I.  zusammengebracht  hatte  und  den  837 
Manuskriptbänden,  die  der  überlebende  der  beiden  Brüder  Dupuy 
1656  an  J.  A.  de  Thou  II.  vermacht  hatte,  erwarb  für  4500  livres 
der  [1718  verstorbene]  president  k  mortier  Jean-Jacques 
Charron,  Marquis  de  Menars,  der  seinerseits  die  alten 
Handschriften  an  seinen  Schwager  Colbert  weiter  verkaufte  und 
lediglich  die  neuen  für  sich  zurück  behielt.  Aber  auch  die  Druck- 
werke kaufte  der  Marquis  in  ihrer  Mehrzahl  an.  1679  war  das  von 
Quesnel  bearbeitete  Verzeichnis  in  den  Druck  gegeben  worden,  1680 
mit  dem  Buchhändler  Jacques  Villery  und  dessen  Geschäftsge- 
nossen vereinbart  worden,  daß  die  von  ihnen  übernommene  Versteige- 
rung drei  Monate  hindurch  stattfinden  solle.  Wie  es  scheint,  hat 
aber  bereits  am  Ende  des  ersten  Versteigerungstages,  des  5.  April 
1680,  der  Marquis  de  Menars,  nachdem  er,  neben  dem  Bischof  von 
Avranches,  Daniel  Huet  als  der  Hauptkäufer  der  ausgebotenen 
Lote  [nicht  Einzelstücke]  aufgetreten  war,  den  ganzen  Rest  der 
Sammlung  einschließlich  der  Karten  für  20061  livres  erworben. 
Damit  war  die  Bibliotheca  Menarsiana  aus  der  Bibliotheca  Thuana 
entstanden,  die  nach  Huets  Urteil  kaum  ein  Drittel  jener  Summe 
erlöste,  die  J.  A.  de  Thou  auf  die  Einbände  verwendet  hatte.  „Biblio- 
theca Thuana  nunc  Menarsiana,  —  Menarso,  qui  suam  hanc  fecerit, 
ne  venditis  sparsim  voluminibus  evanesceret,  gratiam  acto",  dieses 
in  der  Elegie  Santeuls  verkündete  Lob  tönte  weiter  und  weiter,  der 
Präsident  de  Menars  war  durch  seine  entschlossene  Freigebigkeit 
zum  hervorragendsten  Bibliophilen  in  Paris  geworden.  Saint-Simon 
sah  die  Sachlage  etwas  nüchterner  an,  er  schrieb:  „Maupeou  fut  presi- 
dent ä  mortier  ä  la  place  de  Menars,  frere  de  M°^®-  Colbert,  qui  avait 
fait  sa  fortune,  mort  en  ce  temps-ci  en  ce  beau  Heu  de  Menars-sur- 

106 


17.  JAHRHUNDERT 

Loire,  prös  de  Blois.  C'etoit  une  trfes  belle  figure  d'homme,  et  un 
fort  bon  homme  aussi,  peu  capable,  mais  plein  d'honneur,  de  pro- 
bite,  d'equit6  et  modeste,  prodige  dans  un  president  ä  mortier. 
Le  Cardinal  de  Rohan  acheta  sa  precieuse  biblioth^que,  qui  etoit 
Celle  du  celöbre  M.  de  Thou,  qui  fut  pour  tous  les  deux  un  meuble 
de  fort  grande  montre,  mais  de  tres  peu  d'usage."  Ob  der  Marquis 
de  Menars  vor  1680  eine  nennenswerte  Privatbibliothek  besaß, 
steht  dahin;  jedenfalls  aber  sammelte  er  seitdem,  die  Bibliotheca 
Thuana  vermehrend  und  mit  Vorliebe  ihre  zerstreuten  Bände 
zurückholend,  weiter.  Um  1700  war  er  jedoch  ihrer  überdrüssig 
geworden  und  suchte  für  sie  einen  neuen  Freund,  der  sich  in 
dem  Fürstbischof  von  Straßburg,  Msgr.  Armand-Gaston-Maxi- 
milien  de  Soubise,  dem  späteren  [seit  1712]  Cardinal  de 
Rohan  [1674-1749]  fand,  der  sie  [um  1705]  [für  36600  livres?] 
ankaufte.  Die  Bibliotheca  Thuana-Menarsiana  wanderte  aus  dem 
Hotel  de  Guise  weiter,  erst  in  das  Pariser  Hotel  Soubise  [das  heutige 
Palais  des  archives],  dann  in  das  Hotel  de  Rohan  [die  heutige  Im- 
primerie  Nationale].  Eine  Anzahl  Bände  der  Bibliotheca  Thuana 
hatte  der  Präsident  de  Menars  sich  ausdrücklich  zurückbehalten. 
Mit  ihnen  und  einem  Abzüge  des  Bibeldruckes  von  1462  gründete 
er  die  ansehnliche  neue  Liebhaberbücherei,  die  von  seinen  Erben 
holländischen  Buchhändlern  verkauft  und  1720  im  Haag  ve'rsteigert 
worden  ist.  Die  noch  aus  der  Bibliotheca  Thuana  stammenden,  von 
Menars  mit  2250  livres  bezahlten  Handschriften,  die  Msgr.  de  Soubise 
nicht  erworben  hatte,  verkauften  1720  die  beiden  Töchter  und 
Erbinnen  des  Marquis  de  Menars  für  25000  livres  dem  procureur 
general  Joly  de  Fleury,  der  sie  1754  für  60000  livres  an  die 
Biblioth&que  du  Roi  abtrat.  Damit  kamen  endgültig  die  alten 
Manuskripte,  die  aus  Colberts  Sammlung  1732  hierher  gelangt 
waren,  mit  den  neuen  der  Bibliotheca  Thuana  wieder  an  einem  Ort 
zusammen. 

Der  Kardinal  de  Rohan  vermachte  die  Bibliotheca  Thuana  mit 
seiner  eigenen  Büchersammlung  seinem  Neffen,  dem  Günstling  der 
Marquise  de  Pompadour,  Charles  de  Rohan,  Prince  de  Soubise, 
marechal  de  France  [1715—1777].  Nachdem  dieser  darauf  verzichtet 

107 


FRANKREICH 

hatte,  auf  dem  Schlachtfelde  Sieger  zu  sein,  wollte  er  wenigstens  als 
der  unbesiegliche  französische  Büchersammler  gelten.  Er  verwendete 
ungeheure  Summen,  sich  eine  einzigartige  Bücherei  zu  schaffen;  oft 
kaufte  er  ganze  Bibliotheken,  um  sie  mit  großen  Verlusten  wieder  zu 
veräußern,  nachdem  er  seine  Auswahl  getroffen.  Dabei  entstand  eine 
Liebhaberbücherei,  die  der  des  Herzogs  von  La  Valliere  beinahe 
ebenbürtig  war.  Sie  wurde  1788  aufgelöst,  ein  großer  Teil  ging 
in  die  Sammlung  des  Comte  d'Artois  über.  Daß  gerade  Auguste 
Leclerc  die  Auktion  der  ehemaligen  Bibliotheca  Thuana  leitete,  war 
ein  unglücklicher  Zufall,  denn  dieser  Pariser  Buchhändler  haßte 
schöne  Bücher  und  gewählte  Ausgaben,  für  ihn  hatten  Bücher  nur 
ihres  Inhaltes  wegen  Gebrauchswert,  und  darum  vermied  er  jeden 
Hinweis  darauf,  daß  er  eine  der  gewähltesten  französischen  Lieb- 
haberbücherei zum  Verkauf  bringe,  so  bewußt  oder  unbewußt  viele 
dieser  wertvollen  Bände  dem  nahen  Untergange  preisgebend.  Es 
bedarf  keines  besseren  Beweises  für  die  buchhändlerische  Kläglich- 
keit dieses  Mannes,  als  den,  daß  er  allein  die  Londoner  Ausgabe  des 
Hauptwerkes  J.  A.  de  Thous  von  1733  mit  dem  Zusätze  auszeichnete: 
„et  autres  editions  latines".  Diese  anderen  Ausgaben  der  Thuani 
Historia  waren  die  Bände  der  Ausgaben  von  1605,  1606,  1618  und 
1620  mit  den  Besitzvermerken  ihres  Verfassers,  die  alle  unter  der 
Nummer  6939  zusammengefaßt,  mit  17  Franken  bezahlt  wurden. 
Das  war  das  Ende  der  Bibliotheca  Thuana. 

Der  Buchfreund  und  Büchersammler  war  in  der  Hauptstadt 
Ludwig  XIV.  und  sogar  an  seinem  Hofe  eine  nicht  ungewöhn- 
liche, vielmehr  wohlbekannte  Erscheinung.  Dom  Jacob  zählte  1644 
hundertzehn  Namen  von  Pariser  Büchersammlern  oder  doch  biblio- 
graphischen Kuriositätenliebhabern  auf,  eine  Mazarinade  nannte 
1649  siebenundsiebzig  mit  Namen,  an  weiteren  Zeugnissen  in 
Briefen  nnd  Tagebüchern  fehlt  es  nicht,  sogar  das  Adreßbuch 
de  Blegnys,  das  als  Livre  commode  für  1693  zum  ersten  Male  den 
Gedanken  eines  gesellschaftlichen  Tout  Paris  durch  eine  Liste  be- 
kannter Persönlichkeiten  erläutern  wollte,  kannte  hundertvierund- 
dreißig  ,fameux  curieux*  allein  in  der  Hauptstadt.  Der  Begriff  der 
Bibliophilenbibliothek  mit  ihren   ,livres   choisis*   erhielt   nun  einen 

108 


17.    JAHRHUNDERT 

bestimmteren  Gegensatz  zu  den  fach  wissenschaftlichen,  gelehrten 
Büchersammlungen;  das  Buch  fing  an,  in  der  Gesellschaft  , guter 
Ton'  zu  werden,  Bücherluxus,  Büchermode  blieb  nicht  allein  mehr 
die  reiche  Repräsentationsbibliothek  vornehmer  Würdenträger.  Das 
alte,  auch  das  neue  Buch  gewann  als  Einzelstück  für  die  Sammler 
Geltung,  die  sich  bei  den  Büchertrödlern,  auf  der  Bücherstraße  des 
Seine-Ufers  trafen.  Es  war  die  Zeit,  in  die  sich  Gaspard  de  la  nuit 
zurückträumte,  die  in  den  Äußerungen  eines  eben  erst  entstehenden 
Buchgeschmackes,  der  Eigentümlichkeiten  einer  ästhetisierenden 
und  historisierenden  Bücherliebhaberei  die  Richtung  auf  die  schönen 
Wissenschaften  zu  nahm,  in  der  Bibliophilie  ein  kommendes  Bil- 
dungsideal verkörpernd.  Noch  waren  auf  die  Folianten  und  Quar- 
tauten  der  antiken  Klassiker  die  Büchersammlungen  gegründet,  die 
Rang  haben  sollten,  noch  schlössen  die  Fakultätswissenschaften  fest 
die  Materien  einer  Privatbibliothek  von  Ruf  zusammen.  Aber  schon 
begannen  auch  die  Duodezbändchen,  die  die  Werke  der  Klassiker 
der  Nationalliteratur  enthielten,  ihren  Platz  zu  suchen,  um  ihn  von 
nun  an  immer  weiter  in  den  französischen  Liebhaberbüchereien  aus- 
zudehnen.* 

Die  ,Curiosite*  als  eine  feine  Form  gesellschaftlicher  Lebens- 
gewohnheiten, als  eine  elegante  Mode,  ist  im  Königreich  Ludwigs  XIV 
zu  einer  Ausbildung  des  Sammlergeschmackes  geworden.  Kenner- 
schaft gehörte  zum  feinen  Benehmen.  Man  begnügte  sich  nicht  mit 
dem  Besitz  von  Kostbarkeiten,  Merkwürdigkeiten,  Seltenheiten  zu 
eigenem  Ergötzen.  Man  stellte  sie  auf  und  den  Besuchern  aus, 
plauderte  über  ihre  Werte,  zeigte  sie  unter  dem  Hausrat,  der 
prunkt.  Da  konnte  La  Bruyere  auch  den  leeren  Bibliothekenluxus 
nicht  vergessen,  wenn  er,  in  dem  Abschnitte  seiner  ,Caractöres', 
der  über  die  Mode  handelt,  auf  die  „Tannerie^'  zu  sprechen  kam, 
auf  die  Bibliotheksgalerie  mit  ihrem  Maroquinparfüm,  die  sich  in 
das  Endlose  einer  gemalten  Bibliotheksperspektive  verlor  und  die 
ihr  Besitzer  nur  betrat,  um  sie  unter  den  Merkwürdigkeiten  seines 
Hauses  zu  zeigen.  Der  Abstand  zwischen  der  Bestimmung  einer 
Bücherei  und  dem  Büchersammler,  der  sich  damit  zufrieden  gibt, 
den  Ruhm  ihres  Vorhandenseins  auf  sich  beziehen  zu  dürfen,  ist  seit 

*  Abb.  70, 73, 74  109 


FRANKREICH 

Lucian  nicht  größer  oder  kleiner  geworden.  Aber  ein  Unterschied 
besteht  doch  zwischen  dem  antiken  Büchernarren  und  dem  des 
grand  siede:  dank  der  Einbandkunst  konnte  dieser  ganz  anders  die 
aufgestellten  Bücher  zur  Geltung  bringen  als  jener.  Die  breiten  und 
hohen  Bücherwände,  die  die  Prachtbandreihen  zieren,  sind  die  An- 
griffsfläche seiner  Eitelkeit.  Der  kostspielige  Prachtband  erscheint 
fortan  als  das  Sinnbild  der  Verwechslung  äußerlicher  und  innerer 
Buchwerte,  als  ein  beliebtes  Mittel,  Bibliophilie- Eleganz  und  Bücher- 
weisheit zu  vergleichen.  Aber  sollten  inmitten  des  Aufwandes  ihrer 
Lebensführung  die  glanzgewöhnten  vornehmen  Weltleute  nicht  auch 
etwas  von  ihrem  Reichtum  ihren  Büchern  gönnen?  Und  sollten  die 
feinsinnigen  Buchfreunde  deshalb  den  Schmutz  und  Staub  der 
Bücher  lieben,  um  nicht  mit  jenen  Roturiers  verwechselt  zu  werden, 
die,  weil  sie  sich  nicht  auf  das  Maß  der  Dinge  verstanden,  durch 
Übertreibungen  ihre  Unkenntnis  verrieten?  La  Bruyeres  Spott  traf 
die  Gerechten  mit  den  Ungerechten,  wenn  er  ihn  selbst  nicht  gerade 
auf  die  Ausnahme  von  einer  guten  Regel  hätte  beziehen  wollen,  deren 
Befolgung  die  ersten  Männer  des  Hofes  nicht  verschmähten,  denen 
der  Herzog  von  Orleans  [1608 — 1660]  ein  bewundertes  Beispiel  gab. 
Von  seiner  Mutter  hatte  der  dritte  Sohn  Heinrichs  IV.  die  Liebe  zu 
den  Büchern  ererbt,  der  für  die  eleganten  Pariser  Bibliophilen  in  der 
ersten  Hälfte  des  siebzehnten  Jahrhunderts  tonangebend  wurde. 
Sein  Bibliophilenporträt  zeichnete  Dom  Jacob:  ,,Monseigneur  Jean 
Baptiste  Gaston  de  France,  duc  d'Orleans  et  de  Chartres,  fils  d' Henry 
le  Grand,  frere  de  Loüys  le  Juste,  et  oncle  de  Loüys  XIV.,  lieutenant- 
general  du  royaume  de  France  et  gouverneur  du  Languedoc,  donne 
de  l'estonnement  et  de  Tadmiration  a  toute  l'Europe,  pour  la  par- 
faite  cognoissance  qu'il  a  des  medalles  anciennes:  et  ie  puis  dire  de 
ce  prince  sans  flatterie,  que  ny  Alexandre  Seuere,  empereur  des 
Romains,  ny  Atticus,  grand  amy  de  Ciceron,  ny  le  tres  docte  Varron, 
n'ont  eus  une  cognoissance  des  dites  medalles  comme  luy:  et  sa 
curiosite  ne  se  termine  pas  en  icelies,  mais  encore  dans  la  recherche 
des  bons  liures,  desquels  il  orne  sa  tres  riche  et  splendide  bibliotheque, 
qu'il  a  dresse  depuis  peu  dans  son  hostel  du  Luxembourg,  au  bout 
de  cette  admirable  gallerie,  ou  toute  la  vie  de  la  feüe  reine  Marie 

110 


17.  JAHRHUNDERT 

de  Medicis  a  este  depeinte  par  Texcellent  ouvrier  Rubens.  Or,  cette 
bibliotheque  n'est  pas  seulement  remarquable  pour  rornement  de 
ses  tablettes,  qui  sont  toutes  couuertes  de  velours  verd,  avec  les 
bandes  des  mesme  estoffe,  garnies  de  passemens  d'or,  et  les  crespines 
de  mesme,  pour  toute  la  menuiserie  qui  se  void,  eile  est  embellie 
d'or  et  de  riches  peintures.  Mais  outre  cella  les  liures  sont  de  toutes 
les  meilleurs  editions  qui  sepeuuent  trouuer;  et  quant  ä  leur  relieure, 
eile  est  toute  d'vne  mesme  fa^on,  avec  les  chiffres  de  son  altesse 
reale.  Ce  prince  fait  tous  iours  une  grande  recherche  des  meilleurs 
liures  qui  se  peuuent  trouuer  dans  l'Europe;  donnant  des  memoires 
pour  ce  sujet,  par  la  solicitation  de  M.  Brünier,  son  medecin  et 
bibliothecaire,  qui  travaille  continuellement  a  la  perfection  de  ce 
tresor  des  livres  et  des  medalles."  Auch  in  Blois,  wohin  er  später  sich 
zurückzuziehen  gezwungen  wurde,  vermehrte  der  Herzog  diese  Samm- 
lungen, die  er  Ludwig  XIV.  hinterließ. 

An  der  bescheidensten  Stelle  seiner  Eloge  des  Herzogs  von 
Orleans  gibt  Dom  Jacob  auch  dem  Bibliothekar  dieses  Grand- 
Seigneur  seinen  Platz.  Der  Bibliothekarposten  in  den  großen 
Privatbibliotheken  des  sechzehnten  Jahrhunderts  war  ein  von  den 
Gelehrten  gern  gesuchtes  Amt  gewesen.  Es  verschaffte  ihnen  eine 
bequeme  Benutzung  der  Bücher,  die  damals  nur  Auserwählten  in 
Ausnahmefällen  von  den  wenigen  halböffentlichen  Sammlungen 
zugestanden  wurde,  obschon  die  Benutzungsbestimmungen  dieser 
Sammlungen  einen  sehr  viel  weiter  reichenden  Zutritt  zu  gewähr- 
leisten schienen.  Dazu  kam,  daß  die  bibliothekarische  Tätigkeit  als 
Vertrauensmann  einer  im  öffentlichen  oder  wissenschaftlichen  Leben 
einflußreichen  Persönlichkeit,  die  die  Besitzer  derartiger  umfang- 
reicher Büchereien  meist  waren,  allerlei  Anwartschaften  auf  die 
Förderung  der  eigenen  Laufbahn  bot.  Im  siebzehnten  Jahrhundert 
traten  die  Privatbibliothekare  immer  mehr  aus  ihrer  früheren 
Anonymität  heraus.  Denn  sie  waren  jetzt  die  eigentlichen  Biblio- 
thekenschöpfer, Bibliophilen,  die  im  Auftrage  und  dank  den  Mitteln, 
die  ihnen  zur  Verfügung  gestellt  wurden,  die  großen  Sammlungen 
als  ihr  ureigenes  Werk  zusammenbrachten.  Das  gilt  auch  von  den 
Privatbibliotheken  der  hervorragendsten  Minister  des  Sonnenkönigs. 

111 


FRANKREICH 

Der  Sammeleifer  des  Kardinals  A.  J.  Du  Plessis  de  Richelieu 
[1585—1642]  begnügte  sich  nicht  mit  dem,  was  der  Pariser  Bücher- 
markt zur  Bereicherung  seiner  Bibliothek  darbot.  Sein  Sekretär, 
Michel  le  Masle,  Abbe  des  Roches,  mußte  auch  die  Pariser 
Privatbibliotheken  durchsehen,  um  durch  Kauf  oder  Tausch,  wenn 
es  nicht  anders  ging,  auch  durch  Androhung  von  Zwangsmaßregeln, 
die  Bücherei  des  großen  Staatsmannes  zu  vermehren.  Daneben  hatte 
Richelieu  zwei  ständige  Agenten  für  seine  Bibliothek  in  Italien 
[Jacques  Gaffarel]  und  in  Deutschland  [Jean  Tilleman  Stella]. 
Auch  politische  Situationen  nutzte  er  großzügig  aus:  die  Bibliothek 
von  La  Rochelle  konfiszierte  er  nach  Einnahme  der  Stadt,  um  sie 
seiner  Bücherei  einzuverleiben,  die  von  Louis  XI IL  den  Erben  des 
Herrn  de  Bievres  abgekauften  1000  orientalischen  Handschriften 
verwahrte  Richelieu  in  seiner  Privatsammlung,  und  manches  andere 
Beispiel  ließe  sich  hier  noch  anführen.  Allerdings  entschuldigte  bei 
ihm  der  Zweck  die  Mittel,  denn  nur  der  Tod  verhinderte  ihn  an  der 
Ausführung  seines  großen  Planes,  Frankreich  mit  der  ersten  großen 
öffentlichen  Bibliothek  zu  beschenken.  Von  ihm  erbte  sein  Urneffe 
L.  F.  Armand  de  Wignerot  du  Plessis,  duc  de  Richelieu  [1696—1788] 
die  Bibliothek,  der  sie  nach  seinem  Tode,  dem  Wunsche  des  Be- 
gründers gemäß,  der  Sorbonne  vermachte,  die  allerdings  einen  Teil 
der  von  Richelieu  entliehenen  Bücher  der  Bibliotheque  du  Roi 
herausgeben  mußte. 

Der  Italiener  Kardinal  Jules  Mazarin  [1602—1661]*  ist  der 
geistige  Nachkomme  der  altrömischen  Sammler  großen  Stils,  der 
geistige  Vorfahr  der  amerikanischen  neuester  Zeit  gewesen.  Einmal, 
indem  er  den  Bereich  seiner  Sammlungen  über  alles  ausdehnte,  was 
kostbar  und  wertvoll  schien,  sodann,  weil  er  in  der  Art,  wie  er  seine 
Schatzkammern  füllte,  sich  ihnen  ähnlich  zeigte.  Macht  und  Mittel 
waren  die  Hebel  seiner  Sammlungen,  aber  kaufmännisch  klug  an- 
gewandte Macht  und  Mittel.  Trotz  allen  Aufwandes  dachte  er  über 
seinen  Kunstbesitz  sehr  wirtschaftlich,  nicht  nur  darin,  daß  er  ein 
Meister  des  billigen  Kaufens  war,  daß  ihm  die  diplomatische  In- 
trigue  häufig  einen  hohen  Preis  ersparte.  Vor  allem  deshalb,  weil 
er  sich  mit  geschickter  Vorsicht  darauf  beschränkte,  der  Leiter  der 

112  *  Abb.  76 


17.  JAHRHUNDERT 

MazarinkoUektion  zu  bleiben  und  die  Einzelheiten  den  Sachverständi- 
gen überließ,  denen  er  seine  Sammlungen  anvertraut  hatte.  Der 
Kardinal  war  Kenner  aus  Leidenschaft  und  Sammler  aus  Überlegung, 
aber  in  seinem  Wesen  hatte  immer  der  Geschäftsmann  das  letzte 
Wort.  Darüber  berichten  mancherlei  die  Mazarinaden,  dafür  ist 
nichts  so  bezeichnend  als  der  Abschied  des  Sterbenden  von  seinem  Be- 
sitz, den  Brienne,  sein  Sekretär  [Memoires,  II,  XIV]  geschildert  hat: 
,,Je  me  promenois  dans  les  appartements  neufs  de  son  palais.  J'etois 
dans  la  petite  galerie  ou  Ton  voyoit  une  tapisserie  toute  en  laine  qui 
representoit  Scipion  .  .  .  Le  cardinal  n'en  avoit  pas  de  plus  belle. 
Je  l'entendis  venir  au  bruit  que  faisoient  ses  pantoufles  qu'il  trainoit 
comme  un  homme  fort  languissant  et  qui  sort  d'une  grande  maladie. 
Je  me  cachai  derriere  la  tapisserie,  et  je  Tentendis  qui  disoit:  „II 
faut  quitter  tout  cela!"  .  .  .  ,,Et  encore  cela!  Que  j'ai  eu  de  peine 
ä  acquerir  ces  choses!  Puis-je  les  abandonner  sans  regret?  ...  Je 
ne  les  verrai  plus  oü  je  vais!*'  Je  fis  un  grand  soupir  que  je  ne  pus 
retenir,  et  il  m'entendit.  ,,Qui  est  la?  dit-il,  qui  est  la?"  ,,C'est  moi, 
monseigneur  ..."  —  ,,Approchez,  approchez"  me  dit-il  d'un  ton  fort 
dolent  ...  et  revenant  ä  sa  pensee  .  .  .  „ah!  mon  pauvre  ami,  il  faut 
quitter  tout  cela!  Adieu,  chers  tableaux,  que  j'ai  tant  aimes  et  qui 
m'ont  tant  coüte  .  .  ."  Und  die  mir  so  teuer  waren.  —  Die  Auslegung 
im  doppelten  Sinne,  die  Mazarin  solchen  Worten  gab,  könnten  den 
Sammlerruhm  des  großen  Staatsmannes  verkleinern.  Aber  hat  er  nicht 
auch,  indem  er  sich  bereicherte,  den  Staat  bereichert,  dem  er  Bücher 
und  Kunstwerke  höchsten  Wertes  erhielt,  hat  er  nicht,  auch  damit  ein 
Kulturpolitiker,  beispielgebend  das  Sammlerwesen  zu  beeinflussen  sich 
bemüht,  hat  er  nicht  in  der  Absicht  seine  Bücherei  gefördert,  Riche- 
lieus  Plan  wieder  aufnehmend,  sie  zu  einer  gemeinnützigen  Anstalt 
auszubauen?  Mazarin  besaß  nacheinander  zwei  Büchersammlungen, 
die  auf  Befehl  des  Parlaments  1652  verkaufte  und  eine  neu  begrün- 
dete, die  er  1661  dem  College  Mazarin  hinterließ  und  die  den  Grund- 
stock der  heutigen  Bibliotheque  Mazarine  bildet.  Die  bedeutendere 
erste  war  ganz  das  Werk  seines  gelehrten  Bibliothekars  Naude  ge- 
wesen, des  erfolgreichsten  Bibliothekenorganisators  dieser  Zeit. 
Gabriel  Naude,*  1600  in  Paris  geboren,  worauf  er  in  den  Titeln 

BOOENG    8  *  Abb.  67  113 


FRANKREICH 

seiner  Schriften  stets  großen  Wert  legte,  studierte  in  seiner  Vater- 
stadt Medizin,  unterbrach  jedoch,  von  seiner  großen  Bücherliebe 
getrieben,  kaum  zwanzig  Jahre  alt,  dies  Studium,  um  eine  Zeitlang 
Bibliothekar  des  Präsidenten  de  Mesmes  zu  werden,  und  beendigte 
es  in  Padua.  In  Rom  wurde  er  Bibliothekar  des  Kardinals  Bagni, 
um  dann  in  gleicher  Eigenschaft  dem  Neffen  des  Papstes,  dem  Kardi- 
nal Barberini  zu  dienen.  Den  kaum  Zweiundzwanzigj ährigen  rief 
Kardinal  Richelieu  als  seinen  Bibliothekar  nach  Paris  zurück.  Da 
Richelieu  schon  1642  starb,  betraute  ihn  Mazarin  mit  der  Ausfüh- 
rung des  Planes,  den  Richelieu  nicht  hatte  verwirklichen  können: 
mit  der  Begründung  einer  öffentlichen  Bibliothek.  Oder  vielleicht 
richtiger,  ließ  sich  nach  und  nach  von  Naude  für  eine  solche  Absicht 
gewinnen.  Naude,  der  völlig  freie  Hand  für  die  Verwendung  der 
reichen  ihm  zur  Verfügung  gestellten  Mittel  hatte,  kaufte  zunächst 
als  Grundstock  die  6000  Bände  umfassende  Bücherei  des  1642  ge- 
storbenen Kanonikus  Jean  Des  Cordes,  die  dieser  von  Simeon 
Dubois  erworben  hatte.  Er  vermehrte  sie  in  einem  Jahre  bis  auf 
12000  Bände  und  stellte  sie,  systematisch  geordnet,  in  einem  Saale 
des  Palais  Mazarin  auf,  zu  ihrer  Benutzung  die  Gelehrten  einladend. 
Wenn  auch  diese  Bücherzahl  stattlich  genug  war,  so  konnte  sie 
doch  nicht  dem  der  Bibliotheque  Mazarin  gesetzten  Ziele  genügen. 
Naude  schloß  deshalb  kurzerhand  den  Büchersaal,  um  in  ausgedehn- 
ter Reise  in  ganz  Europa  Bücher  aufzukaufen,  wobei  er  den  Inhalt 
der  Läden  der  Buchhändler  vielfach  im  ganzen  erwarb,  indem  er 
einfach  die  Bücherständer  mit  der  Elle  abmaß.  Da  er  sich  aber  wie 
Mazarin  selbst  aufs  Handeln  verstand  und,  den  Buchhändlern  wenig 
gewogen,  ständig  die  Büchersammler  warnte,  ut  caverent  a  calli- 
ditate  bibliopolarum,  verschaffte  ihm  dies  eigenartige  Verfahren 
einen  großen  Bücherstock  zu  einem  wohlfeilen  Preise.  So  konnte  er 
1647  in  dem  inzwischen  erweiterten  und  verschönerten  Palais  Ma- 
zarin eine  Sammlung  von  45000  Büchern  geordnet  aufstellen,  für 
deren  Benutzung  sein  Reglement  bestimmte:  „Elle  sera  ouverte 
pour  tout  le  monde,  sans  excepter  äme  vivante,  depuis  les  huict  heures 
du  matin  jusques  a  unze,  et  depuis  deux  jusques  ä  cinq  heures  du 
soir;  il  y  aura  des  chaires  pour  ceux  qui  ne  voudront  que  lire,  et  des 

114 


17.  JAHRHUNDERT 

tables  garnies  de  plumes,  encre  et  papier  pour  ceux,  qui  voudront 
escrire;  et  le  bibliothequaire  avec  ses  serviteurs  seront  obligez  de 
donner  aux  estudians  tous  les  livres,  qu'ils  pourront  demander, 
en  teile  langue  ou  science  que  ce  soit,  et  de  les  reprendre  et  remettre 
ä  leurs  places  quand  ils  en  auront  fait,  en  leur  baillant  les  autres 
dont  ils  auront  besoint.**  Als  am  8.  Januar  1649  das  arret  de  pro- 
soription  gegen  Mazarin  erging  und  am  16.  Februar  das  Parlament 
die  Konfiskation  und  den  Verkauf  aller  Güter  des  Kardinals  an- 
ordnete, sah  Naude  seine  wertvollste  Lebensarbeit  gefährdet.  Zwei 
Jahre  konnte  er  die  bibliotheque  Mazarin,  deren  Bibliothekar  er 
geblieben  war,  noch  als  „Hypothek  der  Pariser  Gelehrten  auf  Ma- 
zarins  Vermögen",  wie  eine  Mazarinade  es  nannte,  erhalten.  Nach- 
dem aber  Mazarin  Paris  zum  zweiten  Male  hatte  verlassen  müssen, 
ordnete  ein  neuer  Parlamentsbeschluß  [vom  30.  Dezember  1651 
und  6.  Januar  1652]  ihren  Verkauf  an,  von  deren  Erlös  ,,[sera]  par 
preference  pris  la  somme  de  150000  livres,  laquelle  seroit  donnee  a 
celui  ou  ceux  qui  representeroient  ledit  cardinal  ä  Justice,  mort  ou 
vif,  ou  ä  leurs  heritiers.*'  Weder  Naudes  Widerspruch  noch  eine 
würdige  Antwort,  die  Mazarin  selbst  gab  [„II  sera  beau  de  voir  dans 
l'histoire  que  le  cardinal  Mazarin  ayant  pris  tant  de  soins  pendant 
trente  ans,  pour  enrichir  des  plus  beaux  et  des  plus  rares  livres  du 
monde  une  bibliotheque  qu'il  vouloit  donner  au  public,  le  Parlament 
de  Paris  ait  ordonne,  par  un  arrest,  qu'elle  seroit  vendue,  et  que  les 
deniers  qui  en  proviendroient  seroient  employes  pour  faire  assassiner 
ledit  cardinal"],  konnten  das  Mißgeschick  verhindern.  Trotz  Naudes 
furchtlosen  formellen  Protestes  und  J.  A.  de  Thous  II.  besonnener 
Warnung  wurde  die  erste  Bibliotheque  Mazarin  aufgelöst;  zur  großen 
Freude  der  Pariser  Bibliophilen,  da  der  Verkauf  ohne  Rücksicht  auf  den 
Wert  der  Bücher,  ohne  gedruckte  Kataloge  zu  sehr  billigen  Preisen 
stattfand,  aber  zum  großen  Schmerze  ihres  eigentlichen  Begründers, 
der  sein  geringes  Vermögen  darauf  verwendete,  die  in  ihr  enthaltenen 
3000  medizinischen  Werke  für  sich  zu  erwerben.  Naude  ging  nun 
als  Bibliothekar  der  Königin  von  Schweden  nach  Stockholm,  von 
wo  ihn  der  wieder  zur  Macht  gelangte  Mazarin  nach  Paris  zurück- 
rief,   um  eine  neue  Bibliotheque  Mazarin  zu  begründen.    Er  starb 

8-  115 


FR ANKBEICH 

jedoch  auf  der  Reise  am  29.  Juli  1653  in  Abbeville,  ohne  den  Kardi- 
nal wieder  zu  sehen,  der  für  seine  neue  Büchersammlung  die  8000 
Bände  starke  Bibliothek  seines  ersten  und  besten  Bibliothekars  zur 
dauernden  Erinnerung  an  dessen  Dienste  erwarb. 

Jean  Baptiste  Colbert  de  Torcy  [1619-1683],*  der 
Leiter  der  Politik  Ludwigs  XIV.  in  ihrer  glänzendsten  Periode, 
ein  Zentralisator  sondergleichen,  ist  als  Büchersammler  selbst  un- 
ermüdlich gewesen,  obschon  er  in  seiner  Jugend  zu  gelehrten  Studien 
keine  Zeit  gehabt  hat  und  sogar  das  Lateinische  erst  ziemlich  spät 
beim  abbe  Gallois,  dem  Gründer  des  ,  Journal  des  Savants\  erlernte. 
Zum  Lesen  freilich  kam  er  nicht,  das  blieb  eine  Hoffnung  des  be- 
schäftigten Bibliophilen.  Dafür  verstand  er  es,  fast  mehr  noch  als 
Richelieu  und  Mazarin,  die  anderen  iür  sich  mitsammeln  zu  lassen. 
Die  diplomatischen  Agenten  Frankreichs  im  Auslande,  die  fran- 
zösischen geistlichen  Kongregationen  mußten  durch  Büchergeschenke 
sich  ein  geneigtes  Ohr  verschaffen.  Wer  nicht  Bücher  zu  schenken 
hatte,  schickte  wenigstens  wie  die  Konsuln  in  der  Levante  Maro- 
quinfelle, die  damals  in  Europa  noch  nicht  hergestellt  wurden.  Der 
Bibliothekar  des  Ministers,  Etienne  Baluze,  verwaltete  die  Samm- 
lung seines  Patrons  mit  großem  Geschick  und  hielt  die  Fäden  der 
Organisation,  die  ihm  die  in  den  verschiedenen  Ländern  erschienenen 
neuen  Bücher  rasch  verschaffte,  straff  in  seinen  Händen.  Alte  ver- 
griffene Bücher  zu  kaufen,  war  damals  umständlicher  als  heute,  die 
Bibliotheken  großen  Stils  pflegten  deshalb  gern  wertvolle  Biblio- 
theken als  Ganzes  in  ihren  Besitz  zu  bringen,  um  in  zahlreichen 
Dubletten  genügende  Tauschmittel  zu  gewinnen,  wie  sie  auch  die 
fehlenden  Bibliographien  durch  den  Austausch  ihrer  Kataloge  zu 
ersetzen  versuchten.  So  kaufte  Colbert  u.  a.  die  Bibliothek  des 
gelehrten  Andre  Duchesne  [1584—1640],  später  die  Sammlungen 
Chandelier  [1674],  Claude  Hardy  [1675],  die  Handschriften  aus 
dem  Besitze  Ballesdens'  [1676].  Unter  den  Nachkommen  des  Mi- 
nisters war  der  Erzbischof  von  Ronen,  Jacques  Nicolas  Colbert 
[1654—1707],  der  Colberts  Privatbibliothek  1690  geerbt  und  be- 
deutend vermehrt  hatte,  ebenfalls  ein  passionierter  Bibliophile. 
Aber  schon  dessen  Erbe,  C.  L.  Cte.  de  Seignelay  löste  fünfundvierzig 

116  *  Ahb.  72 


17.  JAHRHUNDERT 

Jahre  nach  dem  Tode  ihres  Begründers  die  Bibliotheca  Colbertiana 
auf.  Die  15000  Bände  Manuskripte,  darunter  die  8000  Ergebnisse 
der  von  Colbert  angeordneten  historischen  Untersuchungen  [nun- 
mehr Fonds  der  Bibliotheque  nationale,  die  als  Cinqcents  (sc.  vo- 
lumes)  und  Cent  soixante-douze  bekannt  sind],  kaufte  Ludwig  XV., 
der  100000  ecus  bezahlte,  für  die  Bibliotheque  du  Roi,  während  die 
50000  Bände  Druckwerke  1728  versteigert  wurden. 

Als  maitre  de  la  Bibliotheque  du  Roi,  in  welchem  Amte  er  seinem 
Bruder  folgte,  als  dieser  1666  Bischoff  von  LuQon  wurde,  reorganisierte 
Colbert  auch  die  große  Königliche  Büchersammlung.  Unter  [Karl  IX. 
und  seinem  Bruder]  Heinrich  III.  war  diese  aus  Fontainebleau,  in 
dessen  Abgeschiedenheit  die  Stürme  erregter  Zeiten  an  ihr  vorüber- 
gegangen waren,  nach  Paris  zurückgebracht  worden.  Hier  blieb  sie 
in  den  Kämpfen  der  Liga  nicht  unversehrt;  zumal  auch  die  Auf- 
sichtsstrenge versagte  oder  der  erforderlichen  Zwangsmittel  ent- 
behrte, so  daß  die  nicht  ausreichend  bewachte  Sammlung  zur  be- 
quemen Beute  heimlicher  Plünderer  werden  konnte.  Dazu 
schmälerten  sie  die  Umzüge.  Als  die  Jesuiten  aus  Paris  vertrieben 
waren,  hatte  Heinrich  IV.  seine  Bücher  in  deren  College  de  Clermont 
schaffen  lassen,  das  schon  1604  dem  wieder  zurückgerufenen  Orden 
überlassen  werden  mußte.  Casaubonus,  dem  der  König  nach  J.  A. 
de  Thous  Tode  die  Oberaufsicht  über  seinen  Bücherschatz  verliehen 
hatte,  versuchte  die  17000  Bände  zunächst  im  Couvent  des  cor- 
deliers  unterzubringen.  Die  Mönche,  in  der  Benutzung  ihres  Hauses 
behindert,  boten  als  Ersatz  ein  ihnen  gehörendes  Haus  in  der  rue 
de  la  Harpe  an,  in  das  die  Bibliothek  während  der  Regierungszeit 
Ludwigs  XII.  [1601—1645]  übersiedelte.  Den  Umzug  leitete  der 
damalige  grand  maitre  Jeröme  Bignon,  unterstützt  von  den  Brüdern 
Pierre  und  Jacques  Dupuy.  Die  Beziehungen  der  Könige  zu  ihrer 
Hauptbücherei  waren  damals  nur  noch  lose.  Einerseits  waren  die 
Bourbonen  weit  weniger  Bücherfreunde  als  die  Valois,  andererseits 
hatten  sie  in  ihren  kleineren  Privatbibliotheken  in  ihren  Schlössern 
und  in  der  Bibliotheque  du  Cabinet  du  Louvre  eine  besondere  Schau- 
sammlung. Dazu  kam,  daß  seit  dem  Anfange  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts eine  straffere  Verwaltung   eingeführt,   die  bis  dahin  trotz 

117 


FRANKREICH 

mancher  Ordonnanzen  nur  mangelhaft  durchgeführte  Abgabe  aller 
im  Königreiche  gedruckten  Bücher  in  einem  Abzüge  an  die  Biblio- 
theque  du  Roi  in  Verbindung  mit  der  Zensur  strenger  gehandhabt 
wurde,  so  daß  der  amtliche  Charakter  der  Bibliothek  mehr  hervor- 
trat als  der  eines  königlichen  persönlichen  Besitzes.  Der  sich  jetzt 
rasch  ausdehnenden,  selbständige  Geltung  gewinnenden  Biblio- 
th^que  royale  gab  dann  Colbert  den  für  ihre  Ausgestaltung  erforder- 
lichen Raum,  indem  er  sie  aus  der  rue  de  la  Harpe  in  zwei  seinem 
Ministerhotel  benachbarte  Gebäude  der  rue  Vivienne  bringen  ließ, 
in  denen  ebenfalls  die  Akademie  einen  ihr  angemessenen  Platz  fand. 
Damit  war  auch  äußerlich  die  Bibliotheque  royale,  die  1666  rund 
35000  Bände  enthielt,  als  ein  Mittelpunkt  des  nationalen  geistigen 
Lebens  gekennzeichnet,  der  sie  fortan  bleiben  sollte.* 

Die  Bewegung  der  Büchersammlungen  im  Bücherumlaufe  war 
meistenteils  im  Paris  des  siebzehnten  Jahrhunderts  schon  recht 
schnell,  ein  Menschenleben  überdauerten  nicht  allzu  viele  Privat- 
bibliotheken. Der  abbe  de  Sainte-Colombe  Mathurin  Mangot,  der 
sich  1658  das  Leben  nahm,  gehörte  zu  den  glücklichsten  Sammlern 
seiner  Zeit.  Über  ihn  vermerkte  der  P.  Jacob:  ,,L'abbe  Mangot  a 
une  grande  cognoissance  des  bons  livres  qu'il  a  recherches  pour 
orner  sa  bibliotheque,  qui  a  pour  le  present  [1644]  environ  six  mille 
volumes  bien  choisis  et  des  meilleures  impressions."  Und  auch  die 
,Rymaille  des  Bibliotieres  de  Paris'  stellte  ihn  an  eine  erste  Stelle: 
,, Mangot,  Thou,  l'Aisne  et  Gomin/Fournissent  le  Zoar-Rabin." 
Trotzdem  konnte  1677  MaroUes  [in  seiner  ,Description  rimee  de 
Paris']  verkünden:  „La  d'Estampes  n'est  plus  en  ses  jours  si  nom- 
breuse/  Et  Ton  ne  parle  plus  de  la  Mangotte  heureuse."  Das  bedeutete 
indessen  kein  Abnehmen  der  Bücherliebhaberei,  wohl  aber  eine 
Änderung  der  Sammelrichtungen  und  Sammelverfahren,  die  auch 
die  äußere  Gestaltung  der  Büchereien  veränderte.  Die  bibliotheque- 
galerie  der  Vornehmen,  in  der  nun  der  Prachtwerkprunk  des  sieb- 
zehnten Jahrhunderts  mit  den  Bandreihen  kostspieliger  Kupfer- 
stichwerke sich  entfaltete,  in  der  die  Wappen  der  Würdenträger 
auf  den  teueren  Ziegeniederbänden  funkelten,  eine  Augenweide  des 
Besitzers  und  seiner  Besucher,  trennte  sich  von  der  bescheideneren 

118  *  Abb.  113 


17.  JAHRHUNDERT 

bibliotheque  de  travail  des  Gelehrten,  die  durch  Ordnung  und  plan- 
mäßige Anlage  zu  einer  Auseinandersetzung  mit  der  unübersehbar 
werdenden  Bücherzahl  wurde,  trennte  sich  von  dem  cabinet  des 
Amateur,  der,  in  Buchdingen  einen  empfindlichen  Geschmack  ge- 
winnend, Befreiung  von  der  Bücherlast  derart  fand,  daß  er  keine 
große  Sammlung,  keine  Vollständigkeit  mehr  sich  wünschte,  sondern 
seinen  Aufwand  in  der  Auswahl  suchte.  Er  ist  jetzt  der  eigentliche 
Kenner  geworden,  ihm  gehörte  recht  eigentlich  das  Sammlerstück; 
sei  es,  daß  er  die  alten  Ausgaben  bibliographisch  nach  ihren  Unter- 
schieden wertete,  sei  es,  daß  er  die  neuen  mit  aller  Sorgfalt  sich  aus- 
zustatten verstand,  wobei  ihn  die  Buchbinder  durch  ihre  Kunst- 
fertigkeit unterstützten.  Es  war  ja  die  Zeit  einer  vom  Nationalstolz 
anerkannten  Literaturblüte.  Und  wenn  man  auch  damals  die  „edition 
originale"  der  „grands  ecrivains**  als  solche  nicht  in  die  Büchereien  auf- 
nahm —  dazu  gehörte  eine  retrospektive  Bibliographie  —  so  kaufte 
man  doch  die  modernen  französischen  Werke,  die  etwas  galten,  ließ 
es  sich  gefallen,  daß  die  Corneille,  Moliere,  Racine  schon  bei  Leb- 
zeiten ihre  „Oeuvres**  den  Privatbibliotheken  erreichbar  werden 
ließen.  Im  achtzehnten  Jahrhundert  kam  dann  die  elegante  Buch- 
mode der  ,,livres  ä  figures*',  eine  Form  der  Liebhaberausgabe,  die 
die  ganze  Weltliteratur  nach  französischem  Geschmack  anspruch- 
vollsten Buchfreunden  darbot,  die  einen  Höhepunkt  des  schönen 
Buches  erreichte,  rasch  emporsteigend  und  rasch  verfallend,  weil 
die  Vervielfachung  der  ,,editions  de  luxe'*  das  Buchbild  zum  Überdruß 
werden  ließ,  eine  Veräußerlichung  der  echten  Buchwerte  der  Illu- 
stration herbeiführte. 

Das  Beispiel  der  von  einem  französischen  Bibliophilen  und 
Großwürdenträger  des  siebzehnten  Jahrhunderts  errichteten  biblio- 
theque-galerie  ist  die  Bibliotheca  Seguieriana.  Der  Kanzler  Pierre 
Seguier,  comtedeGien,  duc  de  Villemor  [1588— 1672],*  der  achtund- 
dreißig Jahre  hindurch  das  wichtigste  Ministerium  des  alten  Frank- 
reich verwaltet  hat,  der  einer  der  gelehrtesten  Juristen  seiner  Zeit  war, 
von  umfassender  allgemeiner  Bildung,  wie  die  zahlreichen  ihm  ge- 
widmeten Werke  beweisen,  die  ihn  als  Mäzenas  feiern,  der  Richelieu 


*  Abb.  7 1 


119 


FRANKREICH 

im  Protektorate  der  Akademie  folgte,  mit  diesem  und  Mazarin  eng 
befreundet  war,  fügte  seinen  historischen  Ehrentiteln  noch  den 
hinzu,  die  reichhaltigste  Privatbibliothek  gesammelt  zu  haben,  die 
man  bis  dahin  in  Frankreich  kannte.  Seit  der  Begründung  der 
Academie  frangaise  [1634]  zu  ihren  Mitgliedern  gehörend,  wurde  seine 
Bücherei  der  Festsaal  der  Akademiker,  soweit  sie  tätigen  Anteil  an 
den  Arbeiten  der  Akademie  nahmen.  Nach  Richelieus  Tode  fanden 
die  Sitzungen  der  Akademie  in  Seguiers  Palast  statt.  Für  den  Aus- 
bau seiner  Büchersammlung,  die  alles  den  Künsten  und  Wissen- 
schaften Nützliche  beherbergen  sollte,  wußte  der  Kanzler  nicht  allein 
seine  höfischen  Beziehungen  und  seinen  gelehrten  Briefwechsel  zu 
nutzen;  besondere  Beauftragte  von  ihm  bereisten  auf  der  Bücher- 
suche dauernd  Europa.  Sogar  einen  eigenen  Levantedienst  hatte  er 
organisiert,  und  die  nach  dem  Morgenlande  gehenden  Kaufleute, 
besonders  häufig  jüdische  Händler  aus  Marseille,  erfreuten  sich 
seines  Schutzes  und  seiner  Kommissionen;  der  P.  Athanasius  ver- 
schaffte ihm  griechische  Handschriften  aus  dem  Orient.  Eine 
Kontrolle  aller  für  den  Kanzler  wichtigen  bibliophilen  Ereignisse 
übte  sein  amtlicher  Briefwechsel,  besonders  mit  den  intendants  de 
province.  Das  Ergebnis  einer  solchen  einheitlichen,  mit  allen  Hilfs- 
mitteln jener  Zeit  —  der  Kanzler  pflegte  gern  zu  scherzen:  Si  Ton 
veut  me  seduire,  on  n'a  qu'ä  m'offrir  de  livres  —  geförderten  Sam- 
melarbeit, die  in  einer  allen  Gelehrten  geöffneten  Bücherei  nutzbar 
gemacht  wurde,  entsprach  dem  Werte  dieser  Arbeit:  4000  Hand- 
schriften, hauptsächlich  orientalische  und  griechische,  neben  rund 
20000  Druckwerken.  Die  Aufstellung  der  Bücherei  im  Palast  der 
Rue  Bouloi,  der  Salon  Seguier,  wie  er  der  Akademie  vor  ihrer  Über- 
siedlung in  den  Louvre  diente  und  wie  ihn  die  Königin  Christina  von 
Schweden  bei  ihrem  Besuche  sah,  entsprach  dem  Werte  der  herr- 
lichen Sammlung.  Die  Büchergalerie,  deren  Dekorationen  Dorigny 
in  einem  Kupferwerke  veröffentlicht  hat,  verband  zwei  prachtvolle 
Gartenanlagen.  Die  Decken  waren  mit  Mosaiken  auf  goldenem 
Grunde  nach  Entwürfen  von  Vouet  geschmückt.  In  ihrem  Ober- 
geschoß waren  12000  Bände  aufgestellt,  die  übrigen  befanden  sich 
in  den  anstoßenden  Räumen;  eine  geräumige  Halle  enthielt  das  diplo- 

120 


17.  JAHRHUNDERT 

malische  Archiv.  Eine  große  Porzellansammlung  war,  nach  der 
1684  erschienenen  Beschreibung,  über  den  Bücherständern  an  den 
Wänden  verteilt  und  in  kreuzförmig  angeordneten  Pyramiden  auf 
dem  Fußboden  aufgestellt,  so  daß  der  ganze  Raum  mit  seinen  von 
Chinaporzellan  umsäumten  Bücherreihen  den  schönsten  Anblick 
bot.  In  einer  Damen-Bibliothek,  halb  Bücherraum,  halb  Grotte, 
wurden  die  Quartanten  von  einer  Vasen-Palissade  geschützt,  die  in 
prächtige  Türme  auslief;  die  Oktavbände  umkränzten  Teetassen  der 
verschiedensten  Art  und  die  Foliantenreihen  liefen  in  große  Ge- 
fäße aus  Chinaporzellan  aus,  die  aufeinandergetürmt  ein  Wunder- 
werk der  Porzellanarchitektur  schienen.  Nach  des  Kanzlers  Tode 
kam  seine  Bibliothek  durch  Erbgang  in  den  Besitz  seines  Urenkels 
Henri-Charles  de  Cambout,  duc  de  Coislin  [1664—1732],  Fürst- 
bischofs von  Metz.  Dieser  war  abbe  de  Saint-Germain-des-Pres  und 
ließ  sie  in  diese  Abtei  bringen,  der  er  sie  vermacht  hatte,  als  in  einen 
der  bequemsten  und  sichersten  Plätze  der  Republik  der  Wissen- 
schaften. Eine  Feuersbrunst  vernichtete  1793  viele  Druckwerke, 
manches  mag  in  der  Revolutionszeit  verloren  gegangen  sein,  der 
Handschriftenstamm  aber  ging  mit  den  übrigen  Druckwerken  1794 
in  den  Besitz  der  Bibliotheque  nationale  in  Paris  über. 

Ohne  den  Ehrgeiz  einer  reichen  Schausammlung  war  Peiresc,  von 
dessen  Bücherei  man  wissen  wollte,  daß  sie  die  größte  Pariser  Privat- 
bibliothek ihrer  Tage  gewesen  sei,  eine  Annahme,  die  bei  ihrer  Auf- 
lösung indessen  nicht  bestätigt  worden  ist.  Dom  Jacob  weiß  von 
Peirescs  Sammeleifer  zu  berichten,  daß  „aucun  navire  n'entrait  dans  un 
port  franQais  sans  amener  pour  son  cabinet  quelque  rarete  d'histoire 
naturelle,  des  marbres  antiques,  des  manuscrits  coptes,  arabes, 
hebreux,  chinois,  grecs,  des  fragments  trouves  dans  les  fouilles  de 
l'Asie  et  duPeloponnese."  Es  war  der  Eifer  eines  Gelehrten,  der  über 
große  Mittel  verfügte.  Nicolas-Claude  Fabri  de  Peiresc  [1580 
—  1637],*  conseiller  au  Parlament  de  Provence,  schon  in  früher 
Jugend  wegen  seiner  Gelehrsamkeit  berühmt,  dann  auf  einer  großen 
europäischen  Reise  persönliche  Beziehungen  mit  den  bekanntesten 
seiner  Zeitgenossen  anknüpfend,  Beziehungen,  die  er  durch  einen 
ausgedehnten    und    weitreichenden    Briefwechsel    erhielt     und    er- 

*  Abb.  68,  69  121 


FRANKREICH 

weiterte,  blieb  mehr  Anreger  als  Ausführer.  Mitarbeiter  an 
wissenschaftlichen  Werken  der  verschiedensten  Art,  hat  er  selbst, 
ein  Fanatiker  der  Wahrheit,  kein  Buch  geschrieben,  aber  in  seinen 
Briefen  den  Kern  zahlreicher  Bücher,  die  andere  schreiben  sollten, 
gesät.  Und  neben  dieser  internationalen  Wirksamkeit  ging  die 
nationale.  Seine  Amtspflichten  ließen  ihm  noch  Zeit,  ein  Archiv 
und  Museum  zur  Geschichte  der  Provence  zu  begründen,  eine  große 
Handbücherei  anzulegen.  Seine  Bibliothek  entbehrte  auch  nicht 
eines  gewissen  äußeren  Prunkes,  und  für  die  Herstellung  ihrer  ein- 
fachen, mit  seinem  Besitzvermerke  gezierten,  aber  vornehmen  Ein- 
bände in  rotem  Ziegenleder  unterhielt  er  ständig  einen,  zeitweise 
mehrere  Buchbinder  in  seinem  Hause.  Dazu  kamen  die  von  ihm 
angestellten  Schreiber  in  der  Vaticana  und  im  Escorial,  seine  Agen- 
ten in  den  europäischen  Ländern  und  im  Orient  —  er  hatte  in  Smyrna 
einen  von  ihm  besoldeten  Angestellten  zur  Beschaffung  von  Büchern 
—  so  daß  sich  wohl  sagen  läßt,  daß  diese  von  einem  Gelehrten  unter- 
haltene Privatbibliothek  allein  in  dem  Aufwände  für  ihre  biblio- 
thekarische Verwaltung  sehr  erhebliche  Ausgaben  bedingte,  die  erst 
die  Ausgestaltung  des  buchhändlerischen  Verkehrs  zu  vermindern 
mochte;  Summen,  die  bei  den  Vergleichen  der  Buchpreise  der  guten 
alten  Zeit  meist  vergessen  zu  werden  pflegen,  da  sie  in  den  Buch- 
preisen selbst  nicht  enthalten  sind.  Peiresc  war  nicht  nur  ein  eifriger 
Büchersammler,  sondern  auch  ein  eifriger  Bücherleser,  der  die 
Ränder  seiner  Bücher  mit  handschriftlichen  Bemerkungen  füllte, 
wie  er  auch  die  libri  cum  notis  manuscriptis  clarissimorum  virorum 
besonders  suchte.  Mit  seltener  Freigebigkeit  hat  er  Bücher  aus  seiner 
Sammlung  verschenkt  oder  auf  Nimmerwiedersehen  verliehen,  be- 
sonders gern  solche,  die  er  durch  neue  Ankäufe  rasch  ersetzen  konnte; 
trotzdem  hinterließ  er  eine  noch  recht  stattliche  Bücherei,  die  zehn 
Jahre  nach  seinem  Tode  von  den  Erben  nach  Paris  gebracht  und  dort 
zum  Verkaufe  gestellt  wurden,  mit  Ausnahme  von  100  Bänden,  die 
er  seinem  Freunde  Gassendi  vermacht  hatte. 

Das  Besorgen  der  Bücher,  mehr  der  neuen  noch  als  der  alten, 
war  im  siebzehnten  Jahrhundert  für  die  Gelehrten  eine  eigene  und 
zeitraubende  Arbeit.    Die  Besichtigungen  und  Verzeichnisse  anderer 

122 


17.  JAHRHUNDERT 

Bibliotheken  mußten  ebenso  wie  der  Briefwechsel  erst  einmal  fest- 
stellen, welche  wichtigen  Veröffentlichungen  anzuschaffen  waren; 
jeder  Auftrag  eines  Bücherkaufes  außerhalb  des  eigenen  Wohnortes 
wurde  zu  einem  eigenen  kleinen  kostspieligen  Unternehmen.  Die 
bibliographischen  Details,  die  An-  und  Rückfragen,  die  sich  so  häufig 
in  den  Gelehrtenbriefen  dieses  Jahrhunderts  wiederfinden,  bekunden, 
wie  aufhaltend  dergleichen  unvermeidliche  Besorgungen  waren, 
zumal  bei  einiger  notwendiger  Sparsamkeit.  Auch  die  bescheideneren 
bibliotheques  de  travail  hatten  ihren  Sammlern  erhebliche  Kosten 
und  Mühen  verursacht.  Da  durfte  man  sich  im  glücklichen  Besitze 
wohl  der  Mühewaltung  erfreuen  und  konnte  ein  Bibliosoph  werden 
gleich  Guy  Patin,  der  einmal  einem  Freunde  schrieb:  Mit  meinen 
Büchern  und  ein  wenig  Zeit  fühle  ich  mich  glücklicher  als  Mazarin 
mit  seinem  Golde  und  seiner  Unrast.  Si  panem  et  aquam  habuero, 
de  felicitate  cum  ipso  Jove  certare  paratus  sum.  Aber  gesund  muß 
man  sein  und  etwas  Muße  haben,  damit  es  sich  studieren  läßt  und 
überlegen,  wieviel  Geduld  Gott  mit  den  Menschen  hat  und  dem  Wirr- 
war der  Welt  von  heutzutage  zusehen  zu  können,  der  närrischer  ist, 
als  er  jemals  war.  Guy  Patin  [1602—1672],*  Arzt  wie  seine  biblio- 
philen Freunde  Naude  und  Camille  Falconet  —  er  war  Professor 
der  Medizin  am  Pariser  College  Royal,  dessen  medizinische  Biblio- 
thek der  Arzt  Karls  VII.,  Jacques  de  Pars,  durch  Vermächtnis  seiner 
Handschriftensammlung  begründete  —  hatte  gegen  Ende  des  Jahres 
1650  eine  gewählte  Büchersammlung  von  10000  Bänden  zusammen- 
gebracht, als  er,  um  sie  in  würdiger  Weise  aufzustellen,  im  De- 
zember dieses  Jahres  ein  geräumiges  Haus  an  der  place  du  Chevalier- 
du-Guet  erwarb.  Wie  er  hier  seinen  Bücherschatz  ,,quae  est  lumen 
oculorum  et  laborum  solatium"  unterbrachte,  hat  er  selbst  in  seinen 
zahlreichen  Briefen,  in  denen  er  fast  ohne  Unterlaß  Nachrichten 
über  seine  Bücher  gibt,  beschrieben.  Sein  ,,estude"  war  ein  großer 
hellerleuchteter  luftiger  Saal,  der  in  Verbindung  mit  einem  kleineren 
Räume  stand.  In  der  großen  Bücherei  hatte  Guy  Patin,  obwohl  selbst 
wenig  fromm,  eine  Kreuzigung  über  dem  Kamin  angebracht,  das 
Geschenk  eines  von  ihm  glücklich  operierten  Malers ;  rechts  und  links 
davon  hingen  sein  eigenes  Bildnis  und  das  seiner  Frau,  in  den  Ecken 

*  Abb.  79  123 


FRANKBEICH 

die  Porträts  von  Erasmus  und  Scaliger.  An  einem  sehr  großen 
Balken,  der  den  Saal  in  seiner  ganzen  Breite  teilte  und  die  Decke 
trug,  waren  24  Gemälde  befestigt.  Eine  Ausstattung,  die  von  dem 
Salon-Bibliotheque  der  französischen  Büchersammler  des  zwanzig- 
sten Jahrhunderts  merklich  unterschieden  ist.  In  Patins  Bibliothek 
fanden  sich  neben  einer  großen  Zahl  medizinischer  Werke  auch 
zahlreiche  schönwissenschaftliche  Bücher  der  klassischen  und  mo- 
dernen Literaturen,  mit  neueren  Schriften  bedachte  seine  „biblio- 
manie**  [er  gebraucht  diesen  Ausdruck  in  einem  Briefe  vom  1.  Mai 
1654]  auch  gerne  die  Freunde,  weshalb  er  z.  B.  von  d'Aubignes 
Tragiques  fünf  Exemplare  erwarb.  Nur  eine  ,,passion  malheureuse" 
machten  ihm  manche  seiner  Zeitgenossen  zum  Vorwurfe:  er  sammelte 
mit  Eifer  die  „livres  licencieux",  ein  Eifer,  den  sein  Sohn  Charles 
[geboren  1633,  gestorben  als  Professor  der  Medizin  in  Padua]  an- 
scheinend geerbt  hat  und  der  diesem,  nach  Bayles  Bericht,  ver- 
hängnisvoll werden  sollte,  als  er  einen  Auftrag  Colberts,  einige  Li- 
belle in  Holland  aufzukaufen  und  zu  vernichten,  so  ausführte,  daß 
er  eine  Anzahl  Exemplare  nach  Paris  mitbrachte,  weshalb  er  aus 
seinem  Vaterlande  fliehen  mußte. 

Betrachteten  die  Gelehrten  das  Arbeitsmittel  ihrer  Büchereien, 
damit  es  sich  brauchbar  erhielt,  auf  seine  Ergänzung  zur  Vollständig- 
keit in  ihren  Fächern  hin  —  woraus  dann  die  Entwicklung  von  Spezial- 
bibliotheken  sich  ergab,  die  in  ihrer  Art,  obschon  den  allgemein 
angelegten  Sammlungen  sonst  unterlegen,  diese  in  einem  Fache 
wenigstens  zu  übertreffen  vermochten  —  so  lockte  den  nicht  von  einem 
wissenschaftlichen  Zwange  geleiteten  Amateur,  der  zu  eigenem  Er- 
götzen und  Nutzen  sich  der  Bücherlust  hingab,  nicht  mehr  die 
Quantität.  Um  so  mehr  suchte  er  die  hohe  Zahl,  auf  die  er  verzichten 
mußte,  durch  die  Qualität  zu  ersetzen.  Nicht  die  Ansammlung  einer 
möglichst  universalen  Bibliothek,  sondern  die  Auslese  einer  ge- 
schmackssicheren Auswahl  von  Kabinettstücken  war  das  Ziel. 
Bibliophilentemperamente,  die  einen  modernen  Bibliophilentyp  ent- 
stehen ließen,  zu  dessen  frühesten  Vertretern  Henri-Louis  Habert 
de  Montmor  [1600—1679],*  maitre  des  requetes  und  Akademie- 
mitgliedy   gehörte,   der  die  in  seinen  Besitz   gelangte  Bücherei  des 

124  *  Abb.  75 


17.  JAHRHUNDERT 

[übrigens  nicht  mit  ihm  verwandten]  Pariser  Kanonikus  Isaac 
Habert  zum  Grundstock  einer  Sammlung  werden  ließ,  bei  der  er  auf 
Einband  und  Erscheinung  eines  jeden  Bandes  nicht  geringen  Wert 
legte. 

Das  Bedürfnis  einer  besonnenen  Buchpflege  zeichnete  auch 
jenen  Helie  du  Fresnoy  [1614 — 1698]*  aus,  dessen  Besitzer- 
zeichen die  Bücher,  die  einst  ihm  gehörten,  zu  einer  Abstammung 
anerkannten  hohen  Ranges  macht.  Man  weiß  freilich  nicht  allzu- 
viel über  sein  Leben  und  seine  Liebhaberbücherei.  Weit  weniger 
als  seine,  auch  von  Madame  de  Sevigne  beklatschte,  schöne  Gattin 
ist  er  in  der  Gesellschaft  von  Paris  hervorgetreten  und  die  Bücher 
werden  ihm  ebenso  die  Erholung  von  der  amtlichen  Arbeit  —  er 
war  ein  erster  Ministerialbeamter  und  Schatzmeister  des  Ordens 
vom  Heiligen  Ludwig  —  gewesen  sein  wie  ein  Trost  für  kleinere  Miß- 
verständnisse in  seiner  Ehe,  die  ihm  nicht  erspart  geblieben  zu  sein 
scheinen.  Jedenfalls  aber  ist  auch  er  jenen  Kennern  einzureihen, 
deren  Bücherschrank  im  Gegensatz  zu  den  mondänen  Privatbiblio- 
theken seine  Türen  nur  einem  allseitig  erprobten  Buche  öffnete. 
Jenen  Kennern,  die  im  siebzehnten  Jahrhundert  der  französischen 
Liebhaberausgabe  des  achtzehnten  Jahrhunderts  die  Wege  wiesen, 
indem  sie  Bücher  um  sich  zu  haben  wünschten,  die  in  schlicht- 
vornehmen, schönen  Einbänden  die  Hand  ihrer  Leser  zierten.  Jener 
Kenner,  die  einige  Gelehrsamkeit  und  einige  Koketterie  miteinander 
verbanden,  wenn  sie  ihre  nicht  ausgedehnten,  jedoch  ausgesuchten 
Bibliotheken  sich  einrichteten  und  die  nicht  so  sehr  Sammler  im 
strengen  Wortsinne  gewesen  sind  als  einfach  gebildete,  geschmack- 
volle Buchfreunde  und  Bücherleser.  Du  Fresnoy  war  ein  in  seinem 
Berufe  sehr  beschäftigter  und  ein  sehr  vermögender  Mann.  Als  er 
sich  um  1650  seine  Bücherei  aufstellte,  die  französischen  und  la- 
teinischen Werke  bevorzugend,  ließ  er  ihnen  rote  Ziegeniederbände 
geben,  die  sein  Namenschiffre  und  sein  Wappen  trugen.  Vielleicht 
ist  das  nicht  ohne  Absicht  geschehen,  vielleicht  wollte  er  damit  eine 
ungewisse  Verwandtschaft  zu  der  altangesehenen  Familie  de  Fresnoy 
betonen.  Jedenfalls  machte  er  nicht  viel  Aufhebens  von  seinen 
Büchern,  deren  elegante  Korrektheit  ihm,  seiner  Lebensführung  ent- 

*  Abb.  77  125 


FRANKREICH 

sprechend,   zur  Selbstverständlichkeit  wurde.     Darin  hatte  er  eine 
gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  Baron  de  Longepierre. 

Einer  bekannten  Familie  der  Bourgogne  entstammend,  wurde 
Hilaire-Bernard  de  Requeleyne  [seit  1680]  Baron  de  Longe- 
pierre [1659—1721]  im  Jesuitenkolleg  seiner  Geburtsstadt  Dijon, 
wo  sein  Vater  als  Conseiller  du  Roi,  Maltre  ordinaire  en  la  Chambre 
des  Comptes  lebte,  erzogen.  Frühreif  zeigte  er  eine  besondere  Vor- 
liebe für  die  griechischen  Klassiker,  die  er  schon  als  Vierzehnjähriger 
las,  was  ihm  eine  ehrenvolle  Erwähnung  in  Baillets  Abhandlung: 
„Des  enfants  devenus  cel6bres  par  leurs  etudes  ou  par  leurs  ecrits^* 
[Paris:  1688]  verschafft  hat.  Wenig  geneigt  dem  lauten  Gesell- 
schaftstreiben beendete  das  Wunderkind  in  Paris  seine  gelehrten 
Studien,  sich,  ein  Bücherwurm,  in  die  Haut  eines  pedantischen, 
doch  auch  gut  unterrichteten,  Poeten  einspinnend.  Denn  sein  Vater 
hatte  ihm  als  Gegenmittel  gegen  das  Übermaß  der  gelehrten  Kost 
das  Versemachen  angewöhnt.  So  übertrug  denn  der  junge  Edelmann 
die  griechischen  Erotiker  in  gereimte  Prosa  oder  in  prosaische  Reime, 
obschon  er,  wenn  er  sich  am  Hofe  zeigte,  damals  selbst  nichts  von 
der  behenden  Leichtigkeit  seiner  Favoritautoren  hatte.  Und  bewies 
das  auch  mit  den  zehn  eigenen  Idyllen,  die  den  halben  Band  seiner 
Bion-Moschus-Ubersetzung  ausfüllen,  ersten  Versuchen,  denen  er  bald 
eine  zweite  Idyllenreihe  folgen  ließ,  über  sein  von  ihm  sehr  ernsthaft 
aufgefaßtes  Dilettantentum  ist  der  Baron  de  Longepierre  nicht  hinaus- 
gekommen; er  hatte  zwar  die  Feinfühligkeit,  indessen  nicht  die  Re- 
produktionsfähigkeit eines  Artisten,  wie  wir  heute  vielleicht  sagen 
würden,  gleichwohl  jedoch  im  hohen  Maße  den  Ehrgeiz  der  Originali- 
tät. Daß  seine  Gaben  und  ihre  gelehrte  Nutzung  ausreichten.  An- 
sehen als  bei  esprit  zu  gewinnen,  erweist  sein  naher  Umgang  mit 
Racine,  dem  ihn  wohl  die  gemeinsame  Vorliebe  für  die  Griechen 
näher  brachte,  die  sie  im  Streite  der  Alten  und  der  Neuen  die  Partei 
der  Alten  nehmen  ließ,  die  Longepierre  in  seinem  ,  Discours  sur  les 
anciens'  verteidigte.  Auch  die  oft  enthusiastisch  geäußerte  und  ge- 
druckte Bewunderung  des  Dichterlings  wird  dem  Dichter  nicht 
gerade  fatal  gewesen  sein.  Von  dem  guten  Abbe  Baillet  aufgefordert, 
für  dessen  ,,Jugemens  des  Scavans"  Corneille   und  Racine  zu  ver- 

126 


17.  JAHRHUNDEBT 

gleichen,  schrieb  der  eifrige  Besucher  des  Theatre  frangois  für  den 
neunten  Band  dieser  kritischen  Zeitschrift  [Paris:  1686]  die  Ab- 
handlung, der  die  Anhänger  Corneilles  mit  dem  Einwände  begegneten, 
der  Silbenstecher  anakreontischer  Liedlein  ermangele  allzu  sehr  des 
poetischen  Gefühls,  um  Poesie  beurteilen  zu  können.  Eine  längst 
vergessene  Polemik,  an  die  wieder  zu  erinnern  trotzdem  nicht  über- 
flüssig war,  weil  sie  erkennen  läßt,  daß  der  bibliophile  lettre  auch 
in  den  Kreisen  der  hervorragenden  Pariser  Schriftsteller  eine  be- 
achtete und  bekannte  Erscheinung  gewesen  ist,  und  durch  solche 
Beziehungen  ausgezeichnet  vielleicht  der  einzige  gegenwärtig  noch 
berühmte  Buchfreund  und  Büchersammler  dieser  Glanzzeit  fran- 
zösischen Schrifttums.  Zwei  Jahre  später  [Paris:  1688]  ließ  Longe- 
pierre seine  Übertragung  von  fünfzehn  Idyllen  des  Theokrit  als  en 
regard  -  Ausgabe  erscheinen,  damit  andeutend,  daß  er  auf  diese 
seinem  Lieblingsdichter  gewidmete  Arbeit,  deren  Schwierigkeiten 
geziert  die  Vorrede  hervorhebt,  besonderen  Wert  lege.  Wie  es  scheint, 
machte  Longepierre  sich  einige  Hoffnungen  darauf,  durch  seine  lite- 
rarischen Schäferspiele  in  die  Akademie  zu  kommen.  Keineswegs 
allzu  eingebildete  Hoffnungen,  da  er  in  ihr  einflußreiche  Freunde 
hatte.  Aber  er  ist  damals  und  auch  später  nicht  in  sie  berufen 
worden.  Dafür  wurde  er  1687  zum  Prinzenerzieher  gewählt,  wozu 
ihn  Gelehrsamkeit,  Lebenswandel  und  Stand  sehr  befähigten.  Er 
wurde  dem  Gouverneur  des  Grafen  von  Toulouse  beigeordnet,  in 
eine  Hofmannsstellung  gebracht,  mußte  nun  immer  seinem  Schüler 
zur  Seite  stehen  und  blieb  damit  auch  bei  Hoffesten,  auf  Reisen,  ja 
sogar  während  der  Feldzüge  in  der  nahen  Umgebung  des  Sonnen- 
königs. Eine  Intrigue  ließ  ihn  sein  Amt  verlieren.  ,Ce  Longepierre 
homme  de  peu  et  bei  esprit  de  profession*  [schrieb  der  ihm  miß- 
wollende Duc  de  Saint  Simon]  hatte  gegen  den  Wunsch  des  Königs 
die  Heiratsabsichten  des  Grafen  unterstützt.  Er  trat  jetzt  in  den 
Dienst  des  Hauses  Orleans,  versuchte  sich  ohne  Erfolg  als  Bühnen- 
dichter, wurde  1718  vom  Regenten  zum  gentilhomme  ordinaire 
und  secretaire  des  commandements  ernannt  und  blieb  bis  zu  seinem 
Tode  ein  ergebener  und  geschickter  Beistand  der  Familie  Orleans. 
Die  Beschäftigungen  des  Hofmannes  ließen  den  Gelehrten  nicht  allzu 

127 


FRANKREICH 

viele  ruhige  Muße,  sich  seinen  Büchern  zu  widmen.  Ohne  Sammler 
schlechthin  zu  sein,  denn  er  erwarb  meist  gut  ausgestattete  neue 
Bücher,  ließ  er  sie  sorgfältig  einbinden  und  mit  seinem  Bandzeichen, 
demToison  d'or,  verzieren.*  Seit  dem  Anfange  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts verheiratet,  im  Faubourg  Saint- Honore  wohnend,  hatte  er 
hier  [1703]  seine  Bibliothek  aufgestellt,  deren  Bild  Baron  Roger 
Portalis  nach  den  Heiratsurkunden  über  die  Vermögensauseinander- 
setzung zwischen  den  Ehegatten  wiederherzustellen  versuchte.  Man 
trat  aus  einem  Vorzimmer,  das  sechs  Gobelins  und  zwölf  gestickte 
Sessel,  eine  kunstfertige  Standuhr  und  bronzierte  Gipsbüsten  sowie 
Porzellanvasen  für  die  Blumen  schmückten,  in  das  grand  cabinet  des 
eleganten  Mannes  im  roten  Damastanzuge  mit  den  feinen  Spitzen- 
verbrämungen, den  sein  Porträt  zeigt.  Auch  in  diesem  Räume 
waren  vier  Gobelins  an  den  Wänden  angebracht,  dazu  Bildnisse 
und  Gemälde.  Hier  stand  der  Ebenholzschreibtisch  mit  Bronze- 
beschlägen. Auf  den  zwölf  ,,tablettes  garnies  de  drap  vert  ä  cloux 
d'or",  „avec  des  rideaux  d'etoffe  de  la  meme  couleur"  befanden  sich 
die  zwölfhundert  Bücher,  deren  Wert  man  auf  sieben  bis  achttausend 
livres  schätzte.  Sessel  mit  Stickereibezügen,  hohe  Spiegel,  hollän- 
dische Porzellane  vervollständigten  das  Ameublement.  Der  Maler 
seines  Bildnisses,  Fr.  de  Troy,  hatte  ihn  ausdrücklich  vor  die  Bücher- 
wand gestellt  und  ihm  ein  Buch  in  die  Hand  gegeben.  Das  war  eher 
eine  Huldigung  für  den  Dichter  und  Gelehrten  als  für  den  Sammler. 
Immerhin,  sie  konnte  auch  auf  dessen  Stolz  deuten,  eine  erlesene 
Liebhaberbücherei  sein  eigen  zu  nennen.  Longepierre  vermachte 
seine  Bücher  dem  Erzbischof  von  Paris,  Kardinal  Louis- Antoine  de 
Noailles  [1651—1729],  dem  und  dessen  Familie  er  freundschaftlich 
verbunden  war.  Dessen  Bibliothek  erbte  der  Marschall  Adrien- 
Maurice  de  Noailles  [1678—1766].  So  in  die  Noailles-Sammlungen 
gekommen  und  mit  diesen  vermischt,  sind  auch  die  Longepierrebände 
zerstreut  worden,  ohne  daß  sich  ein  Katalog  der  Longepierre-Biblio- 
thek erhalten  hätte.  Ihr  genauer  Inhalt  ist,  da  kein  Verzeichnis 
vorhanden  ist,  unbekannt.  Doch  läßt  sich  sagen,  daß  Longepierre 
die  antiken  Klassiker  in  den  guten  und  schönen  Ausgaben  besaß, 
die  damals  eben  in  Frankreich  und  Holland  erschienen;  dazu  die 

128  *  ^^  78 


18.  JAHRHUNDERT 

Werke  der  ihm  genehmen  französischen  Dichter  seiner  Zeit,  die 
meist  zu  seinen  Freunden  oder  Bekannten  gehört  haben  und  schließ- 
lich auch  noch  mancherlei  Tagesliteratur  über  die  religiösen  Kontro- 
versen. Ebenso  fehlten  ihm  die  Klassiker  der  Theologie  nicht.  Da- 
gegen scheint  er  das  Kupferstichpracht  werk  nicht  geschätzt  zn  haben. 
Die  alten  Druckwerke  als  solche,  die  Erzeugnisse  des  Wiegen- 
druckzeitalters, begann  man  erst  im  achtzehnten  Jahrhundert  zu 
beachten  und  zu  sammeln.  Dem  kam  die  Bibliographie  der  Inku- 
nabeln zu  Hilfe,  deren  grundlegendes  Werk  die  1719—1741  ver- 
öffentlichten fünf  Bände  der  , Annales  Typographici*  Michael 
Maittaires*  wurden,  um  das  sich  die  Ergänzungen  und  Verbesse- 
rungen der  verschiedensten  Verfasser  stellten,  bis  endlich  G.  W. 
Panzers  , Annales  Typographici*,  die  1793 — 1803  zu  Nürnberg  in 
elf  Bänden  erschienen  waren,  die  Arbeiten  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts auf  diesem  Gebiete  beschlossen,  die  mehr  oder  minder  noch 
unvollkommene  Versuche  geblieben  sind.  Der  Ausgangspunkt  einer 
wissenschaftlichen  Inkunabelnforschung  wurde  erst  Ludwig  Hains 
jRepertorium  Typographicum',  dessen  vier,  in  Stuttgart  1826 — 
1838  herausgekommenen,  Bände  der  Forschung  neue  Wege  und 
Ziele  wiesen.  War  allgemein  an  die  Stelle  der  Editio  princeps  die 
Inkunabel  getreten  und  in  ihrem  Gefolge  überhaupt  das  alte  und 
seltene  Buch,  so  verbanden  sich  damit  dennoch  keine  richtigen 
Schätzungen  von  dessen  vollen  bibliographischen  und  buchgeschicht- 
lichen Werten.  Sogar  die  schon  sehr  viel  besser  unterrichteten 
englischen  Sammler  am  Anfange  des  neunzehnten  Jahrhunderts, 
die  ihren  Inkunabelnsport  sich  Geld,  Mühen  und  Zeit  genug  kosten 
ließen,  entfernten  noch  die  alten,  gut  erhaltenen  Einbände,  um  sie 
durch  moderne,  aber  prunkvolle  Bibliothekbände  ersetzen  zu  lassen. 
Das  war  im  Frankreich  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  in  dem  der 
Wappenband  zum  guten  Ton  vornehmer  Privatbibliotheken  ge- 
hörte, ganz  und  gar  üblich.  Einer  der  ersten  französischen  Biblio- 
philen, der  methodisch  die  Monumenta  typographica  sammelte, 
ist  der  Bischof  von  Toulouse,  später  von  Sens,  Kardinal  Etienne- 
Charles  Lomenie  de  Brienne  [gestorben  1794]  gewesen,  der  sich 
allerdings  schon  bei  Lebzeiten  von  seiner  Sammlung  trennen  mufite. 

BOOENO    9  *  Abb.  284  129 


FRANKREICH 

Am  Anfang  des  achtzehnten  Jahrhunderts  gehörten  im  gesell- 
schaftlichen Leben  von  Paris  die  großen  Sammler,  die  Crozat  und 
Gaigni^res,  zu  den  in  der  feinen  Mode  tonangebenden  Vertretern  des 
Wehst a dt luxus.  Die  Comtesse  de  Verrue  kam  nach  Kosmopolis, 
um  jährlich  100000  livres  für  ihr  Kabinett  auszugeben,  der  Regent 
selbst  stellte  sich  mit  seiner  Galerie  im  Palais  Royal  an  die  Spitze 
der  Kunstwerkliebhaber.  Auch  das  Buch,  soweit  es  ein  Gegenstand 
der  Prachtentfaltung  werden  kann,  änderte  sein  Aussehen:  die  ge- 
waltigen Kupferstichwerke,  die  unter  Ludwig  XIV.  und  Ludwig  XV. 
bändereichen  Foliantenprunk  den  Hofberichten  dienstbar  machten, 
verzierlichen  sich,  es  entstand  jene  Vignettenleichtigkeit  und  Leicht- 
fertigkeit, die  bald  zur  kurzen  Blüte  des  Pariser  Rokokobuches  sich 
entfaltete.  Die  Buchgönner  wurden  zahlreich,  sogar  der  Herzog 
von  Orleans  verschmähte  es  nicht,  mit  den  Buchkünstlern  in  Wett- 
bewerb zu  treten.  Aber  auch  die  Vorboten  einer  neuen  Welt- 
anschauung wurden  zahlreicher,  die  Vorläufer  einer  geistigen  Be- 
wegung, die  das  Jahrhundert  in  politischen  Wirren  ausgehen  lassen 
sollte.  Zmnächst  waren  es  jedoch  die  ökonomischen  Störungen,  die 
Sammler  und  Sammlungen  von  Grund  aus  veränderten,  weil  die 
raschen  Vermögensveränderungen  einer  schweren  Wirtschaftskrise 
die  Beruhigung  eines  ,erwirb  es  um  es  zu  besitzen'  vereitelten.  Samm- 
lungen bildeten  sich  ebenso  rasch  wie  sie  sich  auflösten;  die  Ver- 
steigerungen vervielfachten  sich,  das  Sammeln  wurde  zum  Speku- 
lieren. Der  amateur-marchand  und  der  brocanteur  bereicherten 
nicht  allein  das  Wörterbuch  mit  den  Namen  der  neu  kennzeichnend 
für  den  Kunstmarkt  werdenden  Erscheinungen;  Handel  und  Lieb- 
haberei verwuchsen  in  einem  Geschäftszweige,  der  für  die  Bewohner 
Europas  seinen  Mittelpunkt  in  Paris  hatte.  Das  französische  Buch 
gelangte  in  dem  Maße  zur  Vorherrschaft,  in  dem  auch  französische 
Sitten  und  französische  Sprache  den  Vorrang  gewannen,  in  dem  der 
Export  französischer  Ideen  zunahm.  Auf  Frankreich  oder  vielmehr 
auf  Paris,  wohin  sich  auch  die  französische  Provinz  mit  ihrem  Ge- 
danken- und  Geldreichtum  zurückzog,  übte  die  äußere  Gestaltung 
der  Börse  für  alle  der  Lebensgenußverfeinerung  erwachsenden  Lieb- 
habereien einen  Einfluß,  der  tiefer  und  weiter  reichte   als  bis  zu  den 

130 


18.  JAHRHUNDERT 

Einrichtungen  einer  Großstadt,  den  An-  und  Verkauf  von  Lieb- 
haberwerten zu  vermitteln.  Der  Sammlersinn  veränderte  sich,  man 
wünschte  sich  das  elegante,  das  flüchtige,  das  reizende,  das  den 
Augenblick  erhöhende  und  fesselnde,  das,  im  ursprünglichen  Wort- 
sinne, galante.  Man  wünschte  den  Kostspieligkeiten  nicht  noch  den 
Stolz  auf  hohe  Werte  zuzumessen.  Und  während  die  Fremden 
Bildhauerarbeiten  und  Gemälde  nach  Hause  trugen,  vergnügte  man 
sich  mit  dem  bric-ä-brac,  brachte  dem  Porzellan  die  gleiche  Ver- 
ehrung entgegen,  wie  die  Holländer  sie  für  die  Tulpen  hatten.  In 
diesem  Capricenwirrwar  hatten  die  nicht  allzu  vielen  Kunstver- 
ständigen, die  der  Tageslaune  nicht  Untertan  wurden.  Mühe,  sich 
ihren  sicheren  Geschmack  zu  wahren.  Daß  dabei  nicht  wenige 
Bibliophilen  sich  selbst  treu  blieben,  daß  die  Bibliothekenmode  trotz 
alledem  wenigstens  einen  eigenen  Stil  behauptete  und  bisweilen 
mustergültig  weiterbildete,  ist  unter  diesen  Umständen  für  die 
Einschätzung  der  Bibliophilie  als  Kulturelement  und  Kulturträger 
nicht  unwesentlich. 

Wer  im  achtzehnten  Jahrhundert  in  Paris  eine  Büchersammlung 
von  Rang  gründen  wollte,  mußte  reich  sein.  Es  genügten  nicht  mehr 
Begeisterung,  Bildung  und  Geschmack.  Die  Buchbinderrechnungen 
und  die  Bücherpreise  waren  gestiegen,  die  alten  Bücher  ihrem  Werte 
nach  mehr  gekannt  und  geschätzt,  die  neuen  wurden  in  kostspieligen, 
sich  an  die  Liebhaber  wendenden  Vorzugsausgaben  veröffentlicht. 
Dazu  kam,  daß  eine  derartige  Sammlung  nicht  allein  die  anerkannten 
bibliographischen  Merkwürdigkeiten  beherbergen,  ein  Museum  lite- 
rarischer Altertümer  sein  mußte.  Sie  bedurfte  zu  ihrer  Abrundung 
auch  noch  einer  nicht  geringen  Bücherzahl,  die  allein  schon  die 
Ausgabenreihen  der  Klassiker,  die  man  vollständig  haben  sollte,  in 
die  Höhe  trieben.  Um  den  Grundstock  und  dessen  Vermehrungen 
zu  schaffen,  gehörte,  wofern  man  nicht  ein  langes  Leben  darüber 
verlieren  wollte,  das  Bücherkaufen  in  Masse.  Um  ganze  Büchereien 
zu  erwerben  und  sie  nach  getroffener  Auswahl  zu  veräussern,  wenn 
auch  mit  starken  Verlusten,  um  in  den  Versteigerungen  die  vielen 
Wettbewerber  überbieten  zu  können,  gehörte  vor  allem  Geld.  Das 
brachten  auch  die  vornehmen  Fremden  nach  Paris  und  sie  wurden 

9-  131 


FRANKREICH 

ebenfalls  zu  den  in  Frankreich  nach  französischer  Weise  sammeln- 
den  Buchfreunden.     Mancher   von   ihnen   hatte   seinen   dauernden 
Wohnsitz  in  der  französischen  Hauptstadt  oder  war  seiner  amtlichen 
Stellung  wegen  in  Paris  seßhaft.    Das  gilt  auch  für  jenen  deutschen 
Sammler,  der  eigentlich  der  erste  der  drei  großen  sächsischen  Bücher- 
sammler des  achtzehnten  Jahrhunderts  ist.    Da  aber  Karl  Hein- 
rich [seit  1711]  Graf  von  Hoym  [1694—1736]*  seine  Bücherei  in 
Paris  und  nach  Pariser  Vorbildern  schuf,  da  sie  in  Paris  aufgestellt 
blieb  und  in  Paris  versteigert  worden  ist,  dürfen  ihn  wohl  eher  die 
Annalen  der  französischen  Bibliophilie  den  ihren  nennen  als  die  deut- 
schen.   Von  1714  bis  1717  hatte  Graf  Hoym  schon  in  Paris  gelebt, 
als  er  1720  zum  sächsischen  Gesandten  am  französischen  Hofe  er- 
nannt wurde,  um  1729  gegen  seinen  Wunsch  nach  Dresden  zurück- 
berufen zu  werden.     Dem  Grafen  Brühl  verfeindet,  vermochte  er 
es  nicht,  sich  gegen  dessen  Kabalen  zu  behaupten.    Ein  Kampf,  der 
seine  letzten  Lebensjahre  ausfüllte  und  an  dessen  für  ihn  schlimme 
Wendung  er  durch  eigene  Verfehlungen  nicht  schuldlos  gewesen  sein 
mochte.    Gefangenschaft  auf  dem  Sonnenstein  wechselte  mit  einer 
nur  kurzen  Rehabilitation,  am  21.  April  1736  endete  der  einund- 
vierzigj ährige  durch  Selbstmord.    Mit  einem  Aufwände  von  etwa 
100000  livres  und  in  etwa  zehn  Jahren  hatte  Graf  Hoym  die  Samm- 
lung geschaffen,  die  in  seiner  Pariser  Wohnung  in  der  rue  Cassette 
schon  zwei  Räume  füllte;  die  ihn,  nachdem  er  Paris  hatte  verlassen 
müssen,  dort  verpackt  erwartete  und  die  er  durch  neue  Ankäufe, 
für  die  er  Aufträge  aus  Deutschland  gab,  ständig  vermehrte,  in  der 
Hoffnung,  sie  bald  in  Paris  wiederzusehen.   Er  kam  nicht  mehr  dazu. 
Und  ebensowenig  konnte  Graf  Hoym  den  kurz  vor  seinem  Tode  ge- 
faßten Plan,  die  Sammlung  nach  Deutschland  bringen  zu  lassen,  ver- 
wirklichen.   Sie  ist  vom  12.  Mai  bis  2.  August  1738  in  Paris  ver- 
steigert worden.    Der  Erlös  der  59  Auktionstage  betrug  nur  85000 
livres,  etwa  30000  livres  weniger,  als  die  Sammlung  dem  Grafen 
Hoym    selbst    gekostet    hatte.     Damals    erfreute    sich   die    Hoym- 
Provenienz  noch  nicht  der  hohen  Wertschätzung,  die  sie,  der  schönen 
und  sorgsamen  Einbände,  der  erlesenen  Exemplare  wegen,  sich  seit 
dem    neunzehnten   Jahrhundert   erworben   hat.     Wozu   noch   kam, 

132  *Ahb.  189, 190 


18.  JAHRHUNDERT 

daß  die  Bibliothek  Hoym  letzten  Endes  doch  nur  eine  noch  ent- 
stehende Privatbibliothek  großen  Stils  gewesen  ist,  noch  nicht  die- 
jenige Abrundung  und  Ausgeglichenheit  erreicht  hatte,  die  bereits 
andere  berühmte  Büchereien  in  Paris  auszeichneten.  Unter  den 
Erwerbungen,  die  Graf  Hoym  in  seiner  glücklichen  Pariser  Zeit 
machen  konnte,  waren  besonders  wertvoll  seine  Ankäufe  auf  den 
Auktionen  der  Bibliotheca  Fayana  [1725]  und  der  Bibliotheca  Col- 
bertiana  [1728]  gewesen.  Charles  Jeröme  Cisternay  du  Fay 
[1662—1723],  Kapitän  in  der  Garde  des  Königs,  sammelte  seltene 
Bücher  jeder  Art,  er  war  der  erste  französische  Bibliophile,  der  eine 
Kollektion  der  alten  Ritterromane  zusammenbrachte.  Daß  ihm 
seine  Auslese  mit  Geschmack  und  Glück  gelungen  war,  bewiesen  die 
hohen  Preise,  die  auf  seiner  Versteigerung  gezahlt  wurden. 

Der  Anfang  der  berühmtesten  französischen  Liebhaberbücherei  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  verknüpfte  sich  mit  dem  Ende  der  Hoym- 
schen  auf  deren  Auktion.  Wenn  Bücherkaufen  und  Büchersammeln 
gleichbedeutend  wären,  dann  dürfte  Louis-Cesar  de  la  Baume- 
le-Blanc,  Duc  de  la  Valliere  [1708— 1780],*  den  sein  freilich  sehr 
grämlicher  Bibliothekar,  der  Abbe  Rive,  für  einen  Dummkopf  erklärte, 
der  weder  Gelehrsamkeit  noch  Geschmack  habe,  der  ausgezeichnetste 
Büchersammler  des  achtzehnten  Jahrhunderts  heißen.  Ob  dieser 
Grandseigneur  ein  Bibliophile  war,  den  der  Ehrgeiz,  führend  in  einer 
Mode  zu  glänzen,  trieb,  die  Laune  einer  Sammellust,  die  sich  ein  großer 
Herr  wie  andere  Launen  befriedigen  durfte  oder  aber  ein  Buchfreund, 
den  herzliche  Teilnahme  für  seine  Bücher  mit  ihnen  verband,  das 
alles  sind  Fragen,  deren  Beantwortung  die  Geschichte  seiner  Biblio- 
thek gibt.  Aber  die  Großzügigkeit  und  Hartnäckigkeit,  mit  der  er 
seinem  Ziele  zustrebte,  die  bedeutendste  französische  Privatbiblio- 
thek sich  zu  verschaffen,  die  Art  seines  Sammeins,  die  große  Mittel 
verschwendete,  weil  sie  Zeit  sparen  wollte,  machen  ihn  zum  ersten 
Beispiel  jener  Büchersammler,  die  späterhin  ihre  hauptsächlichen 
Vertreter  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  finden  sollte. 
Aufkaufen  und  Ausscheiden,  die  Bibliothek  in  den  Mittelpunkt 
finanzieller  Transaktionen  stellen,  darin  bestand  das  neue  Samm- 
lungsverfahren, das  ihm  seine  Erfolge  finden  ließ.    Wenn  er  dabei 

*  Abb.  82  133 


j. 


FRANKREICH 

in  einem  rein  geschäftlichen  Sinne  nicht  auf  seine  Kosten  kam, 
mehr  ausgab,  als  er  einnahm,  so  lag  das  durchaus  nicht  an  seinem 
Verfahren  selbst,  sondern  daran,  daß  ihm,  dem  französischen  Herzog 
und  Hofmann  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  die  Gedanken  eines 
Geschäftsmannes  fremd  waren,  der  auch  einen  Bücherschatz  als 
eine  Kapitalsanlage  betrachtet,  mit  der  keinerlei  Verschwendung  zu 
treiben  ist.  Der  Herzog  de  la  ValliÄre  gehörte  noch  zu  einer  Zeit, 
deren  Liebhaber  nicht  rechneten,  bevor  sie  sich  ihrer  Leidenschaft 
überließen. 

Jedenfalls  aber  ist  die  Geschichte  der  Liebhaberbücherei,  die 
seinen  Namen  trug,  zum  großen  Teile  die  Geschichte  der  französi- 
schen Bücherliebhaberei  im  achtzehnten  Jahrhundert.  Und  auch 
in  ihrer  Anordnung  und  Aufstellung  vereinte  sie  die  beiden  Formen 
in  sich,  die  noch  heute  die  Sammlungen  französischer  Bibliophilen 
unterscheiden:  aus  den  Cimelien  seiner  Bibliothek,  die  ihrem  Plane 
nach  einen  universellen  Charakter  haben  sollte,  hatte  der  Herzog 
ein  besonderes  Kabinett  bilden  lassen.  Als  die  Bücherschätze  des 
Grafen  Hoym  unter  den  Hammer  kamen,  begann,  dreißigjährig, 
La  Vallifere  mit  der  Begründung  seiner  Sammlung,  um  sie  in  den  Ver- 
steigerungen der  folgenden  Jahre  mit  ungeheurem  Kostenaufwande 
zu  vermehren.  Er  ist  der  unüberwindliche  Sieger  auf  den  ventes 
Bellanger  [1740],  Mar6chal  Duc  d'Estrees  [1740];  Lancelot 
[1741];  von  der  Harley  auction  [London  1743]  führt  er  zahlreiche 
Beutestücke  nach  Frankreich.  Auf  der  Versteigerung  der  Bücherei 
des  gelehrtesten  französischen  Sammlers  seiner  Zeit,  des  Abb^  de 
Rothelin  aus  dem  Hausender  Orleans  Longueville  und  Dunois  [1746] 
weiß  er  seinen  Platz  als  erster  Bibliophile  Frankreichs  zu  behaupten. 
Zehn  Jahre  später,  inzwischen  waren  die  ventes  Gluck  de  Saint- 
Port,  der  die  Bücherei  des  Bernard  de  la  Monnoye  erworben 
hatte  [1749]  und  als  Liebhaber  der  Mme.  de  Verrue  in  der  Aus- 
legung der  Bibliophilen-Freundschaft  sehr  weit  gegangen  war,  des 
kunstsachverständigen  Experten  Gersaint  [1750],  Secousse  [1755, 
hier  kaufte  La  Valli^re  für  2500  livres  530  Mappen  mit  mehreren 
tausend  Flugschriften  zur  französischen  Geschichte],  die  haupt- 
sächlichsten Quellen  für  die  Vermehrung  der  Bibliothek  des  Herzogs 

134 


18.  JAHRHUNDERT 

gewesen,  erschien  der  ,,Catalogue  des  Livres  du  Cabinet  de  Mr.  G. 
avec  une  table  des  auteurs  et  des  ^clairissemens  sur  la  raret6  des 
livres  et  sur  le  choix  des  editions.  Paris,  G.  Fr.  Debure:  1757**,  der 
die  erste  Bibliothek  Girardot  de  Prefonds  verzeichnete. 

Paul  Girardot  de  Prefond  hat  zwei  Büchersammluniren 
besessen.  Die  ebenerwähnte  erste,  die  er  auf  Anraten  seines  Arztes, 
Hyacinthe  Baron,  der  selbst  ein  begeisterter  Bücherliebhaber  war, 
zu  sammeln  begann,  um  seine  Melancholie  zu  heilen,  die  ihn,  den  an 
rege  Tätigkeit  gewöhnten  Holzhändler,  befiel,  als  er  sich  von  den  Ge- 
schäften zurückzog.  Nach  der  Versteigerung  dieser  ersten  Bücherei 
begründete  er  eine  zweite,  die  an  geschmackvoller  Auswahl  die  erste 
fast  noch  übertraf,  so  daß  Charles  Nodiers  begeistertes  Lob  [Un 
volume  qui  porte  ä  la  garde  dans  un  m^daillon  fort  gracieux  orne 
EX  MUSAEO  PAOLI  GIRARDOT  DE  PREFOND  n'a  presque 
plus  de  valeur  fixe."]  wohl  begründet  war.  Den  größeren  Teil  dieser 
zweiten  Bücherei,  darunter  die  kostbar  ausgestatteten  Reihen  der 
editiones  in  usum  Delphini  und  cum  notis  variorum  aus  Gascq 
dela  Landes  Besitz,  verkaufte  er  1769  für  50000  Fr.  an  den  Grafen 
Mac  Carthy.  Neben  seinen  zahlreichen  Käufen  a\if  der  vente  Gi- 
rardot de  Prefond  erwarb  der  Duc  de  la  Valliöre  1759  die  ganze  Biblio- 
thek Guyon  de  laSardi^re  und  fast  zu  gleicher  Zeit  für  35000  Lire 
die  in  dreißig  Jahren  zusammengebrachte,  3000  Bände  zählende, 
Bibliothek  des  britischen  Konsuls  in  Livorno,  Jackson,  mit  215 
wertvollen  Handschriften  und  vielen  Beständen  aus  den  Bibliotheken 
Joe  Smiths  und  des  Marchese  Capponi.  Aber  erst  Ende  des  Jahres 
1768  bekamen  die  planlos  von  überallher  zusammengetragenen  und 
allzuoft,  namentlich  von  den  bibliophilen  Freunden  des  Herzogs, 
Gaignat  und  Randon  de  Boisset,  geplünderten  Schätze,  die  außerdem 
noch  durch  den  Verkauf  einer  großen  Sammlung  naturwissenschaft- 
licher Prachtwerke  an  die  Bibliotheque  du  Roi  und  durch  eine 
Dublettenversteigerung,  unter  deren  5633  Nummern  kaum  die 
Hälfte  Dubletten  zu  kläglichen  Preisen  um  wertvolle  und  unersetz- 
liche Stücke  gemindert  worden  waren,  einen  Bibliothekar,  den  Abbe 
von  Sainte-Genevieve,  Jean- Joseph  Rive  [1730—1791],  der  zu- 
sammen mit  dem  Ratgeber  des   Herzogs,   Mercier  de  Saint-Leger, 

135 


FRANKREICH 

als  der  eigentliche  Schöpfer  der  Bibliotheque  La  Valliere  zu  rühmen 
ist.  Der  aber  auch  von  da  an  ihr  eigentlicher  Herr  blieb.  Die  Sam- 
meltätigkeit des  Besitzers  beschränkte  sich  darauf,  die  Rechnungen 
zu  bezahlen.  Nach  dem  Tode  des  Herzogs,  für  seine  Dienste  wenig 
entlohnt,  folgte  e^  1786  einem  Rufe  nach  Aix,  um  die  Leitung  der 
Büchersammlung  zu  übernehmen,  die  der  Marquis  de  Mejanes  den 
Etats  de  Provence  hinterlassen  hatte.  Kurze  Zeit  vor  der  Berufung 
des  Abb6  Rive  als  Bibliothekar  des  Herzogs  war  Jean  Louis 
Geignat,  ehemals  receveur-general  des  consignations,  aus  Gram 
um  den  Verlust  dieses  Amtes,  um  das  ihn  eine  Intrigue  der  Duchesse 
de  Mazarin,  die  er  auf  einer  Porzellanversteigerung  überbot,  gebracht 
hatte,  gestorben:  einer  der  begeistertsten  französischen  Sammler  des 
achtzehnten  Jahrhunderts,  der  außer  einer  großen  Kunstsammlung 
eine  der  schönsten  Liebhaberbüchereien  seiner  Zeit  besaß,  für  die 
er  279381  livres  aufgewendet  hatte,  während  ihr  Verkauf  nur 
227597  livres  brachte.  Auf  der  vente  Gaignat,  die  am  10.  April  1769 
begann  und  28  Tage  dauerte,  kaufte  der  Abbe  Rive  für  La  ValliÄre 
die  Hauptschätze  [darunter  manches  von  Gaignat  dem  Herzog  ent- 
liehene Stück]  und  bezahlte  sie  mit  rund  90000  livres,  wie  er  auch 
1770  in  der  von  De  Bure  geleiteten  Versteigerung  der  Bücherei  des 
Duc  de  Brancas-Lauraguais  zahlreiche  Erwerbungen  machte.  1772 
ging  die  853  [rund  900  mit  den  Doppelstücken]  zählende  Bibliothek 
Bonnemet  sehr  billig  en  bloc  [für  14598  livres]  ein  paar  Tage  vor 
ihrer  Versteigerung  in  den  Besitz  du  ValliÄres  über  und  bildete  den 
bedeutendsten  Teil  der  modernen  Bücher  in  der  Sammlung  des 
Herzogs. 

Bonnemet,  ein  reichgewordener,  1770  gestorbener,  Seiden- 
händler aus  der  rue  Saint- Denys,  hatte  kaum  ein  Bändetausend  zu- 
sammengebracht. Obwohl  wenig  gebildet,  er  pflegte  zu  behaupten, 
daß  er  nur  6ditions  princesses  erwerbe,  wußte  er  doch  die  schönsten 
der  damals  erschienenen  6ditions  de  luxe  auszuwählen,  die  er,  ein 
Vorbild  des  heutigen  amateur  moderniste,  aus  losen  Bogen  zusam- 
menstellte und  von  Derome  le  jeune  prachtvoll  binden  ließ.  Im 
übrigen  duldete  er  ein  Betreten  seiner  Bücherei  nur,  wenn  ihre 
Reinigung  nötig  war  und  hielt  streng  darauf,  daß  seine  Dienstboten 

136 


18.  JAHRHUNDERT 

Handschuhe  trugen,  wenn  sie  seine  Bücher  anfaßten.  Im  Januar 
1773  war  eine  neue  Guillaume  De  Bure  fils  aine  anvertraute,  2812 
Nummern  ausbietende  Dublettenversteigerung  nötig  geworden  und 
vom  Abbe  Rive  hauptsächlich  aus  den  Beständen  der  Sammlungen 
Bonnemet,  Guyon  de  Sardiere,  de  Bombarde  bestritten  worden. 
In  dieser  letztgenannten,  von  La  Valliere  gegen  1760  en  bloc  er- 
worbenen Bücherei  befanden  sich  auch  die  Überreste  der  Familien- 
bibliothek der  Urfe,  die  auf  dem  Schlosse  La  Bastie  insbesondere  von 
Claude  d'Urfe  vermehrt  worden  war.  Indessen  brachte  diese  Du- 
blettenversteigerung keine  sehr  hohen  Preise,  woran  der  sie  leitende 
Buchhändler  die  Hauptschuld  trug.  In  den  Jahren  1772  bis  1775 
fanden  wenige  bemerkenswerte  Versteigerungen  statt,  die  Biblio- 
theken Mancini,  Boullongne,  de  Yarenne  de  Beost, 
Dejan,  Floncel,  de  la  Condamine,  Delaleu,  Pont-de- 
Vesle,  u.  a.  boten  keine  allzu  reiche  Beute,  und  auf  der  Askew- 
auction  [London  1775]  fand  La  Valliöre  in  den  reichen  englischen 
Bibliophilen  ebenbürtige  Gegner.  Auch  bis  zum  Tode  des  Herzogs 
bot  sich  nur  wenig  Gelegenheit,  seine  inzwischen  sehr  vollständig 
gewordene  Bibliothek  zu  ergänzen.  Bemerkenswerten  Zuwachs 
brachten  ihr  nur  die  Versteigerungen  des  ,Cabinet*  des  Duc  de 
Saint-Aignan  [1776],  der  Bibliotheken  Randon  de  Boisset 
[1777],  Crebillon  fils  [1778],  Präsident  de  Brosses  [1778],  des 
Buchhändlers  Chardin  Filheul  [1779],  Mac  Carthy  [1779,  Du- 
blettenauktion, veranlaßt  durch  den  Erwerb  der  zweiten  Bibliothek 
Girardot  de  Prefonds].  Inzwischen  hatte  auch  eine  dritte  Dubletten- 
versteigerung der  Bibliothek  La  Valliere  stattgefunden.  Bücherei- 
erwerbungen und  Büchereiversteigerungen  verschafften  dem  Herzog 
nicht  die  einzigen  Gelegenheiten  zur  Vermehrung  seiner  Bücher- 
sehätze.  Sein  hoher  Rang,  der  ihm  sogar  den  Tauschverkehr  mit  der 
Biblioth^que  du  Roi  ermöglichte,  gab  ihm  die  Möglichkeit,  ein  be- 
gehrtes Buch  unter  Umständen  auch  mit  Gewalt  an  sich  zu  bringen. 
Zumal  aus  den  Bibliotheken  der  geistlichen  Orden  hat  er  manches 
Stück  zur  Besichtigung  eingefordert,  das  er  nicht  wieder  zurück 
gab,  dann  allerdings  als  Grandseigneur  ihnen  auch  eine  hohe  Ent- 
schädigungssumme bietend.    Durch  ein  ähnliches  Machtmittel  kam 

137 


FRANKREICH 

der  einzigartige  Band  aus  der  1763  versteigerten  Bibliothek  des 
Generalpächters  La  Riche  dela  Popeliniere  [gestorben  1762]  in 
seinen  Besitz,  das  Exemplar  der  ,Tableaux  des  Moeurs  du  Temps^ 
mit  den  eigenartigen  Miniaturen.  Der  Herzog  hatte  eine  lettre  de 
cachet  vom  Könige  erwirkt,  das  Exemplar  konfiszieren  und  ver- 
nichten zu  lassen,  begnadigte  es  aber  dann  vom  Feuertode  zur  Haft 
in  seiner  eigeaen  Sammlung.  Noch  kurze  Zeit  vor  seinem  Tode 
scheint  sich  der  Duc  de  la  Valliere  mit  dem  Gedanken  getragen  zu 
haben,  seine  Bibliothek  als  Ganzes  zu  erhalten.  Doch  wurde  diese 
Absicht  nicht  verwirklicht,  seine  Gattin  und  seine  Tochter,  die 
Duchesse  de  Chätillon,  brachten  sie  zum  öffentlichen  Verkaufe, 
nachdem  sie  noch  manche  wertvollen  Werke  den  Bibliotheken, 
denen  sie  der  Herzog  entlehnt  hatte,  zurückgegeben  hatten.  Die 
Versteigerung  des  Kabinetts  der  Bücherei  La  Valliere  führte  die 
berühmtesten  Büchersammler  Europas  oder  ihre  Agenten  in  Paris 
zusammen:  sie  begann  am  12.  Januar  1784  und  dauerte  bis  zum 
5.  Mai  1784;  in  81  Tagen  wurden  5668  Nummern  für  464677  livres 
8  sols  verkauft.  Den  größten  Ertrag  brachte  der  1.  März,  20762 
livres,  12  sols;  an  diesem  Tage  kaufte  die  Duchesse  de  Chätillon  die 
,Guirlande  de  Julie*  für  14510  livres  zurück.  Gegen  Ende  des 
Jahres  1784  erschien  der  zweite  Teil  des  diesmal  von  Jean-Luc  Nyon, 
l'alne,  redigierten  Auktionskatalogs,  der  26537  Nummern  enthielt. 
Indessen  kam  es  nicht  zur  Versteigerung.  Der  Marquis  de  Paulmy 
erwarb  den  Inhalt  des  Kataloges  en  bloc  und  machte  ihn  so  zum 
Grundstock  der  heutigen  Biblioth^que  de  TArsenal. 

Der  Gouverneur  des  seit  1758  von  ihm  bewohnten  Arsenals,  Marc 
Antoine-Rene  de  Voyer  d'Argenson,  Marquis  de  Paulmy 
[1722—1787]  hat  in  den  mit  A.  G.  Constant  d'Orville  herausgegebenen 
69  Bänden  seiner  ,Melanges  tires  d'une  grande  bibliothöque*  [Paris: 
1779—1788]  einen  Auszug  jener  50000  Bände  begonnen,  die  ihn  seine 
sich  gegen  die  mächtigeren  Mitbewerber  behauptende  Bibliophilie- 
passionin  einem  Menschenalter  zusammentragen  ließ;  eine  Arbeit,  die 
unmöglich  gewesen  sein  würde,  wenn  nicht  auch  er  durch  Aufkäufe 
schon  ausgewählten  Sammlergutes  seine  Bücherwände  hätte  er- 
richten können.    Eine  Auswahl  vor  allem  der  Bibliotheken  Bour- 

138 


18.  JAHRHUNDERT 

gogne  [1748],  Secousse  [1755],  Prince  d'Isenghein  [1756], 
Guyon  de  Sardi^re  [1760],  seines  Onkels  d'Aguesseau 
[1766],  Gaignat  [1769],  Conrart  [1769],  Barbazan  [1771], 
Picart  [1780],  Roger  de  Gaigneres  [1780],  Boucot  [1780], 
Esmonin  de  Dampierre  [1780],  Lacurne  de  Sainte-Palaye 
[1780],  Baron  d'Heiss  [1781],  J.  B.  Paulin  d'Aguesseau  [1785] 
sowie  derjenigen  einiger  Abteien,  insbesondere  der  der  Zölestiner- 
mönche  in  Colombier  und  der  Augustinermönche  in  Lyon  verband 
sich  mit  den  Erwerbungen,  die  er  ständig  bei  den  Buchhändlern,  bei 
den  Büchersammlern,  bei  den  Versteigerungen  machte,  unterstützt 
von  seinen  Uterarischen  Agenten  und  Bibliothekaren.  Der  Betrieb 
dieser,  seit  1767  der  allgemeinen  wissenschaftlichen  Benutzung  er- 
schlossenen Büchersammlung  näherte  sich  immer  mehr  dem  einer 
öffentlichen  und  der  Marquis,  um  sie  nach  seinem  Tode  zu  erhalten, 
verkaufte  sie  1785  für  412000  hvres  an  den  Comte  d'Artois,  den 
späteren  König  Karl  X.  [1757—1836].  Das  war  kein  zu  hoher  Preis  für 
ihre  60000  Druckwerke  [in  52657  Bänden],  ihre  2412  Handschriften, 
ihre  592  Kupfe'rstichmappen,  ihre  allein  schon  auf  15000  livres  ge- 
schätzte Münzsammlung.  Allzu  viel  Zeit  blieb  dem  neuen  Besitzer 
dieses  Bücherschatzes  nicht,  ihn  noch  zu  vermehren.  Die  Bastillen- 
stürmer  des  14.  Juli  1789  zogen  auch  vor  das  Arsenal,  um  die  Bücher 
dieses  verhaßtesten  Mitgliedes  des  königlichen  Hauses  zu  vernichten, 
die  allein  die  Geistesgegenwart  des  Bibliothekars  Saugrain  rettete. 
Am  2.  September  1792  wurde  die  Arsenalbibliothek  als  achtes  D6pöt 
national  litt^raire  de  Paris  erklärt,  am  28.  April  1797  zum  Eigentum 
des  Volkes,  am  20.  Mai  1798  zur  dreimal  wöchentlich  geöffneten 
öffentlichen  Sammlung,  der  das  [indessen  erst  1840  geordnete] 
Archiv  der  Bastille,  soweit  es  gerettet  werden  konnte,  übergeben 
wurde.  Am  25.  April  1816  bekam  der  comte  d'Artois  „ci-devant 
^migri''  seine  inzwischen  beträchtlich  vermehrte  Büchersammlung 
zurück,  die  nun  am  16.  September  1824  eine  Biblioth^que  Royale 
wurde  und  seitdem  ihrer  alten  Bestände  wegen,  die  das  Vermächt- 
nis Prosper  Enfantins  [1796—1864]  mit  der  bedeutendsten  Saint- 
Simonistischen  Privatbibliothek  vermehrte,  zu  den  wichtigsten 
Bibliotheken  von  Paris  gehört.  Manches  auch  der  Nationalbibliothek 

139 


FRANKREICH 

fehlende  Buch  ist  allein  in  der  Arsenalbibliothek  aufzufinden,  in 
deren  Räumen  sich  die  Bibliophilen  immer  wieder  trafen  und  unter 
deren  Bibliothekaren  so  viele  bekannte  Buchfreunde  des  neunzehnten 
Jahrhunderts    gewesen    sind:     Charles    Nodier,    Le    Roux    de 
Lincy,  de  Montaiglon,  L.  Paris,  Paul  Lacroix,  Maria   de 
Heredia  u.  a.    So  ist  die  Arsenalbibliothek,  die  Schöpfung  eines  der 
hervorragendsten    französischen    Büchersammler    des    achtzehnten 
Jahrhunderts,   die   einzige   größere   Privatbibliothek   dieser  Epoche 
geblieben,  die  die  Revolutionsstürme  überdauerte,  die  letzte  der  in 
der  Absicht,  sie  zu  einer  Bibliotheksstiftung  als  Ehrendenkmal  seines 
Namens  auszugestalten,  von  einem  grandseigneur  des  ancien  regime 
errichteten  Bücherburgen.    Die  gleiche  Absicht  hatte  auch  noch  der 
genialste    Mann    der    französischen    Revolution    gehabt,    Honore 
Gabriel  Riquetti  Comte  de  Mirabeau  [1749—1791],  der  Les- 
sings  Meinung   teilte,    daß   es   kein  unnützes   Buch   gäbe,   weil   ein 
schlechtes  Buch  wenigstens  noch  durch  seine  Fehler  Gutes  wirken 
könne.     Mit   dem   ihai   eigenen   leidenschaftlichen   plötzlichen   Un- 
gestüm war  er  ans  Werk  gegangen,  dessen  Ausführung  sein  früher 
Tod  verhindert  hat.    Er  hinterließ  eine  in  zwei  Jahren  entstandene, 
sehr  ansehnliche  Privatbibliothek,  deren  Versteigerungsverzeichnis 
vom  Jahre  1791  ein  Bedauern  erweckt,  daß  nicht  er  zum  Napoleon 
des  von  den  Revolutionsstürmen  erzeugten  Bibliothekenchaos  ge- 
worden ist.    Allerdings  lassen  sich  die  Beziehungen  zwischen  Biblio- 
philie  und  Revolution  nicht  lediglich  in  der  gewaltsamen  Büchereien- 
zerstörung,  in   der  Änderung   des   Büchersammelwesens   aus  wirt- 
schaftlichen Ursachen  auffinden.  Weit  wichtiger  erscheint  der  geistige 
Auflösungsprozeß,   dessen  destruktive  Tendenzen  am  deutlichsten 
in  der  Abkehr  vom  alten  Buche  sich  zeigten,  weil  es  Vergangenheit 
sei.     Im  achtzehnten  Jahrhundert  hat  in   Frankreich  die  ästheti- 
sierende  Bibliophilie  sich  rasch  gewandelt.    Anfangs  eine  Eleganz, 
die  historisierend  modern  war,  weiterhin  ein  das  Buch  der  Gegenwart 
in  der  Form  der  Liebhaberausgabe  fördernder  Luxus,   schließlich 
das  Verlangen,  von  dem  Ballast  retrospektiver  Bibliotheken  ganz 
und  gar  frei  zu  werden.    Es  gab  schon  Bücherliebhaber,  denen  nicht 
die  Sammlung  selbst,  sondern  deren  rühmliche  Versteigerung  das 

140 


18.  JAHRHUNDERT 

Ziel  war.  Eine  Auffassung  der  Bibliophilie,  die  ganz  gewiß  nicht  der 
Büchereienprunksucht  vorzuziehen  wäre,  die  Buch  und  Bücherei 
nicht  zum  Spekulationsobjekt  herabwürdigte,  sondern,  obschon 
vielleicht  nur  der  Eitelkeit  wegen,  gerade  ihre  hervorragendsten 
Vertreter  die»  freilich  meist  mehr  spielerisch  sich  äußernde  Verwirk- 
lichung dieses  Zweckgedankens  erstreben  ließ,  bleibende  Bücher- 
sammlungen zu  schaffen.  — 

Der  Führer,  den  Voltaire  in  seiner  Reise  zum  Tempel  des  Ge- 
schmackes wählte,  war  der  Abbä  de  Rothelin: 

eher  Rothelin,  vous  fütes  du  voyage 
Vous  que  le  goüt  ne  cessa  d'inspirer, 
Vous  dont  l'esprit  si  delicat,  si  sage, 
Vous  dont  l'exemple  a  daigne  me  montrer 
Par  quels  chemins  on  peut,  sans  s'6garer, 
Chercher  ce  goüt,  ce  Dieu  que  dans  cet  äge, 
Maints  beaux  esprits  se  fönt  gloire  d'ignorer. 

Er  hätte  keinen  besseren  finden  können  als  Charles  d'Orleans, 
Marquis  de  Rothelin,  abb6  de  Cormeilles  [1691—1744],*  dessen 
Bibliophilensalon  in  seinem  Landhause  bei  Paris  in  der  ersten  Hälfte 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  den  Kennern  und  Liebhabern  geöffnet 
war;  den  Lehrmeister  des  Grafen  Hoym,  den  ausgezeichneten  Numis- 
matiker und  liebenswürdigen  Menschen.  Der  Kardinal  Polignac, 
mit  dem  er  1724  in  Rom  gewesen  war,  hatte  ihm  die  Herausgabe 
seines  Anti-Lucretius  anvertraut;  man  schätzte  seinen  Geist  ebenso 
wie  seine  Gelehrsamkeit  und  seinen  Geschmack,  der  auch  dem 
schweren  Bücherwissen  anmutige  Leichtigkeit  zu  geben  wußte.  Von 
den  Fächern  der  Theologie  hatte  sich  seine  Büchersammlung  über 
die  der  Altertumskunde  und  Geschichte  ausgedehnt.  Den  Ansprüchen 
des  Gelehrten  an  seine  Bücher,  die  der  Abb6  de  Rothelin  stellte,  ver- 
band er  die  des  Liebhabers  an  ihr  Äußeres.  Seine  Bände  waren  vor- 
trefflich geleimt  und  gewaschen,  dazu  regliert;  er  vertraute  sie  den 
besten  Buchbindern  an  und  ließ  sie  mit  seinem  Wappen  zieren. 
Wäre  nicht  der  ernste,  fachwissenschaftliche  Ton  in  seiner  Bücherei 
der  vorherrschende  gewesen,  dann  würde  sie  unter  den  Kabinetten 

*  Abb.  8o  141 


FRANKREICH 

der  modernen  Sammler  unbestritten  an  erster  Stelle  gestanden  haben. 
Ihre  Versteigerung,  schon  für  den  April  1746  angesetzt,  fand  erst 
im  März  1747  statt;  das  nach  dem  eigenen  Kataloge  Rothelins  von 
Gabriel  Martin  redigierte  Verzeichnis  zählte  5036  Nummern,  dar- 
unter die  Reihe  der  grands  et  petits  voyages,  die  dem  Abbe  3000 
livres  gekostet  hatte  und  für  nur  813  livres  verkauft  wurde. 

Das  „exemplaire  le  plus  bei  connu'^  war  den  Sammlern  neuer 
Bücher  eher  erreichbar  als  denen  der  alten  Drucke,  für  die  eine  auf- 
kommende Elzevieromanie  dergleichen  Unterscheidungen  ebenfalls 
schon  zu  bedingen  begann.  Da  der  Amateur,  wenn  er  die  einfachen 
recht  und  schlecht  hergestellten  Verlegereinbände  in  Kalbleder  ver- 
schmähte, seine  Abzüge  in  rohen  Bogen  erhielt,  die  noch  zu  leimen 
waren,  da  die  Beschaffung  der  feinen  Ziegenleder  Kosten  und  Um- 
stände machte,  war  die  Herrichtung  eines  neuen  Buches  zum 
„exemplaire  d'amateur''  immerhin  eine  Sammleraufgabe  für  sich. 
Vorbildlich  widmete  sich  ihr  der  garde  de  sceaux  Nicolas  Berryer 
[gestorben  1762].  Er  kaufte  von  manchen  neuen  Werken  mehrere  Ab- 
züge, um  deren  beste  Bogen  auszusuchen,  er  vertauschte  die  Exem- 
plare von  alten  Werken  immer  von  neuem  gegen  bessere,  kurz,  er 
trieb  diese  Art  von  Bibliothekenluxus  soweit,  als  man  sie  nur  treiben 
konnte;  freilich  mit  feinem  Geschmack  und  nicht  wie  einige  seiner 
bekannter  gewordenen  Nachahmer  dabei  zum  bloßen  Schaubuch- 
sammler werdend.  Seine  Bücherei  gelangte  nach  seinem  Tode  in 
die  seines  Schwiegersohnes,  Chretien-Frangois  de  La  Moignon 
[gestorben  1789]  und  damit  in  eine  der  besten  Familienbibliotheken 
Frankreichs,  die  im  siebzehnten  Jahrhundert  von  dem  Pariser  Parla- 
mentspräsidenten Guillaume  de  La  Moignon  und  dessen  Bibliothekar, 
dem  gelehrten  Baillet,  gegründet,  von  seinem  Sohn  Chretien-FranQois 
erheblich  ausgestaltet  worden  war,  so  daß  er  in  ihr  schon  [1709] 
an  Chretien-FranQois  1550  Handschriften  hinterließ.  Dieser  ließ 
eine  einheitliche  Ordnung  seines  Bücherschatzes,  den  auch  er  reich- 
lich vermehrte,  vornehmen  und,  in  fünfzehn  Abzügen,  ein  von  L.  F. 
de  la  Tour  bearbeitetes  Verzeichnis  drucken.  Doch  sollte  ihn  die 
Bücherei  nicht  allzulange  überdauern,  sie  wurde  mit  Ausnahme 
der  französischen  juristischen  Werke  an  den  Londoner  Buchhändler 

142 


18.  JAHRHUNDERT 

Mr.  Payne  verkauft,  der  sie  nach  England  überführen  und  versteigern 
ließ,  während  der  Rest  der  Sammlung,  von  der  Th.  Fr.  Dibdin  mit 
Recht  urteilte,  sie  wäre  eine  der  bedeutendsten  Privatbibliotheken 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  gewesen,  1797  in  Paris  zerstreut  wurde. 
Ebenso  wie  die  Amateure  in  ihren  Kabinetten  einzelne  Aus- 
gabenreihen bevorzugten,  wie  die  [Kabinette  als  deren  Auslese 
sich  in  den  großen  Privatbibliotheken  zu  kleinen  Schatzkammern 
umbildeten,  so  entstanden  auch  in  eben  diesen  Privatbibliotheken, 
je  nachdem  sie  auf  dem  einen  oder  dem  anderen  Sammlungs- 
gebiete stärker  waren  oder  die  Vorliebe  ihrer  Besitzer  ihnen  solche 
Wege  wies,  Sondersammlungen,  derentwegen  sie  noch  einen  eigenen 
Ruf  erhielten.  Im  geselligen  Paris  des  siebzehnten  und  acht- 
zehnten Jahrhundert  verband  sich  leicht  ein  Literatur  -  Mäzenat 
mit  dem  des  Theaters,  zumal  da  auch  das  Dilettieren  in  den 
Bühnenkünsten,  das  Salontheater,  zu  den  bei  der  Hofgesellschaft 
beliebtesten  Unterhaltungen  gehörte.  Ihr  verdankte  auch  die  unter 
dem  Namen  des  Duc  de  La  Vallifire  veröffentlichte,  von  dem  Abbe 
Mercier  Saint-Leger,  Marin,  Capperonnier  und  dem  Abbe  Boudot 
bearbeitete  ,Bibliothäque  du  Theätre-Frangois*  [Dresde  (Paris) : 
1768]  ihre  Entstehung,  deren  drei  Bände  eine  Übersicht  der  fran- 
zösischen dramatischen  Literatur  versuchten,  die  in  der  Bücher- 
sammlung des  Herzogs  einen  sehr  ausgedehnten  Raum  erhalten 
hatte.  Recht  eigentlich  eine  Bibliotheca  dramatica  war  auch  die 
dazu  reichhaltig  mit  Romanen  versehene  Bücherei  der  Jeanne 
Antoinette  Poisson,  Marquise  de  Pompadour  [1721 — 1764].* 
Das  lag  nicht  nur  daran,  daß  die  Favoritin  des  Königs  für  die  Be- 
gründung ihrer  eigenen  Bibliothek  die  des  Verfassers  der  ,Recherches 
sur  le  Theätre  en  France^,  de  Beauchamps,  angekauft  hatte.  Denn 
die  Bände  ihrer  Sammlung  sollten  sie  nicht  allein  unterhalten,  son- 
dern ihr  Anregungen  geben,  die  königliche  Phantasie  mit  immer 
neuen  Vergnügungen  zu  beschäftigen.  Diese  meist  aus  französischen 
und  italienischen  Werken  bestehende  rechte  Rokokobibliothek  einer 
geistreichen  Frau,  deren  Bandwappen  mit  den  drei  Türmen  das  einer 
wirklichen  Bücherfreundin  war,  ist  also  keineswegs  nur  ein  Schmuck- 
stück der  Appartements  der  Marquise  gewesen,  sondern  eine  Festung. 

*  Abb.  83  143 


FRANKREICH 

von  der  aus  sie  ihre  von  überallher  angegriffene  Stellung  zu  ver- 
teidigen wußte,  Ihr  Bruder  und  Haupterbe,  der  Marquis  de  Marigny, 
konnte  allerdings  mit  der  Nummer  18  des  Inventars,  unter  der  es 
heißt:  ,Ma  bibliotheque  y  compris  nombre  de  manuscrits  12500 
francs*  nichts  anfangen.  Er  brauchte  immer  Geld  und  ließ  die  Bücher 
sogleich  versteigern. 

Die  Auktionssensationen  zu  genießen,  als  etwas,  das  den 
Augenblick  erheiterte,  ein  echtes  Rokokogefühl  erzeugte,  und 
das  der  Badauderie  die  Gelegenheit  gab,  sich  mit  der  Beschäfti- 
gung eines  gesellschaftlichen  Müßigganges  zu  erfreuen:  dieses  Ver- 
langen hat  den  französischen,  insbesondere  aber  den  Pariser  Ver- 
steigerungen seit  dem  achtzehnten  Jahrhundert  eine  Eigenart  ge- 
geben, die  sie  von  den  Bücherschlachten  jenseits  des  Kanals  und  des 
Atlantischen  Ozeans,  in  denen  die  geschäftsmäßige  Kühle  vorwaltet, 
noch  immer  unterscheidet.  Der  Bücherklatsch,  das  gefällige  Gerücht 
umgaben  ebenso  die  Vorbereitungen  einer  Auktion  von  Rang,  wie 
sie  lange  nach  der  Vente  in  Kataloganekdoten  und  Provenienz- 
exemplarnotizen noch  nachwirkten;  eine  Buchgeschichte  aus  per- 
sönlichen Erlebnissen  von  Vorbesitzern  zusammenwebten.  Ist  da  und 
dort  in  der  Bibliophilietradition  Englands  die  Katalogreferenz  eine 
sachliche  Verweisung  auf  gedruckte  oder  geschriebene  Preislisten, 
so  ist  sie  in  derjenigen  Frankreichs  ein  heiteres  Blättern  in  Memoiren, 
die  aus  einem  nicht  gerade  belangreichen  Geschehnis,  aus  einem 
lachenden  Witzwort  einen  Erinnerungsreichtum  zu  machen  wußten. 
Die  Beschreibung,  die  ein  einsichtiger  Mann  von  den  Auktionen,  die 
um  1780  in  Paris  stattfanden,  gegeben  hat,  sie  paßt  auch  heutzutage 
auf  die  Stimmungsreize,  die  die  Atmosphäre  eines  Versteigerungs- 
saales bilden,  vortrefflich.  [Reflexions  sur  la  peinture  et  la  gravure, 
accompagnees  d'une  courte  dissertation  sur  le  commerse  de  la 
curiositÄ  et  les  ventes  en  general,  par  C.  F.  JouUain  fils  aine.  Metz: 
1786]:  „L'homme  que  la  simple  curiosite  attire  ä  une  vente,  est 
toujours  surpris  de  voir  succeder  en  un  instant  sur  un  meme  objet, 
la  chaleur  a  l'indifference,  la  lenteur  des  encheres  sol  ä  sol  la  marche 
rapide  des  pistoles,  des  centaines  de  livres.  II  se  platt  a  contempler 
sur  le  visage   de  Tamateur  cette  ind^cision  qui  accompagne  visi- 

144 


18.  JAHRHUNDERT 

blement  son  goüt  le  plus  decide,  le  desir  qu'il  auroit  que  Ton  pro- 
longeät  Tintervalle  des  encheres.  II  sourit  de  la  figure  composee 
du  marchand  qui  feint  a  chaque  instant  d'abandonner  un  objet 
qu'il  brüle  d'avoir  en  sa  possession,  et  qui  n'agit  ainsi  que  pour 
presser  de  plus  en  plus  l'amateur  ä  se  determiner;  conduite  d'autant 
plus  adroite  qu'il  sait  que  par  un  pareil  moyen,  ou  il  lui  fera  sauter 
le  fosse,  ou  il  Ten  emp^chera  enti^rement.  Le  z^le  de  l'huissier- 
priseur  n'echappe  point  k  son  oeil  observateur;  car  celui-ci  le  re- 
doublant  k  proportion  de  la  somme  attachee  ä  l'article,  a  grand  soin 
de  reveiller  l'engourdissement  de  l'amateur  par  les  repetitions  con- 
tinuelles  de  ces  mots:  „dites  vous;  dit-on?  M.  dit-il?  Personne  ne 
dit  mot?  je  vais  adjuger;  vous  ne  dites  mot,  M.,  je  vais  adjuger,  etc.", 
Sans  cependant  aller  aussi  vite  qu'il  parait  le  promettre,  esperant 
toujours  que  la  valeur  augmentera,  ainsi  que  son  b^n^fice,  et,  par 
contre-eoup,  celui  de  la  bourse  commune.  Enfin,  dans  une  vente 
publique,  tout  est  6galement  susceptible  d'interesser;  depuis  l'offi- 
cier  en  exercice  qui  adjuge,  jusqu'ä  celui  qui  ne  vient  que  pour  se 
chauffer  ou  dormir,  tout  sert  de  le$on  aussi  utile  qu'agr^able.*' 

Das  achtzehnte  Jahrhundert  ist,  besonders  in  Frankreich,  durch 
das  Bestreben,  Allgemeinbildung  zu  gewinnen,  ausgezeichnet,  der 
Charakter  der  Enzyklopädien,  der  Bayleschen  [um  1700],  der  d'Alem- 
bert-Diderotschen  [um  175|0]  und  der  Agasse-Panckouckeschen 
[gegen  1800]  prägte  sich  auch  in  dem  der  Privatbibliotheken  aus. 
Dadurch  aber  bekamen  die  Fachbüchereien  etwas  vom  Wesen  der 
Liebhaberbfichereien,  die  Berufsbücher  hatten  in  ihnen  kaum  noch 
das  Übergewicht,  wofern  sie  nicht  schon  gelehrte  Sondersamm- 
lungen wurden.  Die  Bibliothekenmode  gehörte  zur  literarischen 
Mode,  zum  guten  Ton,  die  Anzahl  mittlerer  Privatbibliotheken  in 
Paris  und  in  den  Provinzen  war  nicht  gering.  Eine  bibliographische 
Statistik,  die  Daniel  Moret  [1910]  versuchte,  wobei  er  500  zwischen 
1750  und  1780  veröffentlichte  Kataloge  französischer  Privatbiblio- 
theken zugrunde  legte,  von  denen  330  unter  1000  Bänden,  424  unter 
2000  Bänden,  etwa  140  zwischen  2000  und  3000  Bänden,  etwa 
30  über  3000  Bände  zählten,  zeigte  zunächst  eine  gewisse  Gleich- 
mäßigkeit aller  dieser  Büchersammlungen,  eine  Art  gesellschaftlicher 

BOGENG    10  145 


FRA  NKREICH 

Übereinstimmung  ihrer  Bücherwahl.  Ihre  Besitzer,  unter  denen 
62  Angehörige  des  hohen  und  34  Angehörige  des  niederen  Adels, 
45  Geistliche,  29  höhere  Verwaltungsbeamte,  8  Notare,  43  Rechts- 
anwälte, 14  Ärzte  und  Apotheker,  16  Universitätslehrer,  2  Offiziere, 
2  Baumeister,  74  mittlere  Beamte,  1  Kaufmann,  1  Maler,  63  ohne 
Berufsangabe  und  106  nicht  zu  ermittelnden  Namens  und  Standes 
waren,  repräsentierten  nicht  den  Beruf  ihrer  Sammler,  sondern 
deren  Bildung.  Die  Juristen,  Mediziner,  Theologen  besetzten  die 
Fächer  ihrer  Wissenschaften  mit  den  notwendigsten  gelehrten  Schrif- 
ten; eine  Sparsamkeit,  für  die  sie  sich  schadlos  hielten  durch  die  Be- 
vorzugung jener  Bücher,  die  die  modernen  Gedanken  vertraten. 
Ein  Wandel  in  der  Zusammensetzung  der  Büchersammlungen,  der 
sie,  denen  des  sechzehnten  und  ziebzehnten  Jahrhunderts  verglichen, 
in  einer  inneren  Auflösung  zeigt.  Es  fehlte  ihnen  der  feste,  methodisch 
gesicherte  Mittelpunkt,  nach  dem  sich  ein  Bibliothekensystem  richten 
konnte.  Man  hatte  viel  mehr  Büchereien  als  damals,  weit  weniger 
geschlossene  Sammlungen  als  früher.^ 

Abwehr  oder  Anerkennung  der  revolutionierenden  Ideen  unter- 
scheiden die  500  Bibliotheken  durch  ihre  Auswahl.  Doch  sind  die 
Zahlen  zufälliger,  weil  sie  sich  auf  Privatbibliotheken  recht  ver- 
schiedenen Umfanges  und  Wertes  beziehen.  Der  Bayle  war  noch 
das  Hauptwerk,  ihn  besaßen  288  Bibliotheken  [in  299  Exemplaren]. 
An  Beliebtheit  stand  ihm  nur  der  Buff on  nach,  den  202  Bibliotheken 
hatten.  Seine  Zoologie  war  also  neben  dem  freidenkerischen  Diction- 
naire  das  eigentliche  französische  Bibliothekswerk  dieser  Epoche, 
da  die  eben  erscheinende  große  Enzyklopädie,  die  in  82  Biblio- 
theken zu  finden  war,  vielen  zu  teuer  gewesen  sein  wird.  Verhältnis- 
mäßig wenig  war  Voltaire  beliebt.  Die  , Henriade'  fand  sich  [mit 
249  Exemplaren]  in  181  Bibliotheken  vertreten.  Ausgaben  seiner 
jOeuvres*  waren  in  171  Bibliotheken  [mit  207  Exemplaren]  vor- 
handen. Selbst  die  bekanntesten  geschichtswissenschaftlichen  Bücher 
Voltaires  fehlten  den  meisten  dieser  Privatbibliotheken.  [Siecle  de 
Louis  XIV.*  in  167  Bibliotheken,  Histoire  de  Charles  XII.*  in  150 
Bibliotheken.]  Die  verbotenen,  aber  in  einer  stattlichen  Auflagen- 
und  Nachdruckreihe   verbreiteten    ,Lettres  philosophiques*    hatten 

146  *  Abb.  85,  86 


18.  JAHRHUNDERT 

sich  41  Bibliotheken  verschafft.  Ähnliche  Verhältnisse  zeigten  sich 
für  Rousseau.  Sein  epochemachendes  literarisches  Auftreten  fand 
in  den  Privatbibliotheken  nur  einen  schwachen  Wiederhall.  Den 
,Discours  sur  les  Arts  et  les  Sciences'  hatten  15  erworben,  den  ,  Discours 
sur  r  Inigalite'  76,  die  ,Nouvelle  Heloise*  165,  Ausgaben  der  , Oeuvres* 
33.  Der  , Emile'  fehlte  in  den  Katalogen  als  verbotenes  Werk  zu- 
nächst und  wurde  er  angeführt,  so  geschah  das  in  der  hierfür  üb- 
lichen Weise,  indem  man  auf  seinen  Titel  durch  eine  punktierte 
Zeile  verwies,  die  zwischen  die  Titel  ihn  bekämpfender  Schriften 
gestellt  wurde.  Indessen  ist  der  , Emile*  auch  von  1773  an  [bis  1778] 
nur  achtmal  vorhanden  gewesen  und  der  ,Contrat  social*  nur  ein- 
mal in  einem  Kataloge  des  Jahres  1778.  Den  ,  Discours  sur  Tecono- 
mie  politique*  hatten  fünf  Bibliotheken  erworben.  Ebenso  sind  die 
anderen  , Modernen*  nur  wenig  berücksichtigt.  Doch  auch  die  Mode- 
romane sind  nicht  gerade  häufig  angekauft  worden,  indessen  die 
Vorliebe  für  die  ältere  Literatur,  selbst  für  die  Bearbeitungen  der 
Bücher  des  fünfzehnten  und  sechzehnten  Jahrhunderts  erkennen 
läßt,  daß  immerhin  das  Festhalten  an  einer  guten  literarischen 
Tradition  den  Besitzern  dieser  Büchersammlungen  wichtig  erschien, 
die  auch  die  Zeitschriften  und  Zeitungen  sorgfältig  aufbewahrten, 
so  daß  in  den  500  Bibliotheken  50000  Zeitschriftenbände  gezählt 
werden  konnten,  darunter  Desfontaines  ,Tournaux*  in  110  Biblio- 
theken [mit  durchschnittlich  39  Bänden]  und  der  ,Mercure  de 
France*  in  45  Bibliotheken  [mit  durchschnittlich  344  Bänden]. 
Der  Abkehr  von  der  Berufsstrenge  und  Fachgelehrsamkeit,  die 
diese  Zahlen  einer  allerdings  nicht  endgültigen  bibliographischen 
Statistik  zeigen,  entsprach  die  Änderung  des  Buchgeschmackes, 
dessen  Repräsentant  das  typische  Rokokobuch,  das  livre  ä  figures 
wurde.  Es  machte  das  Buch  zum  Hausgerät  der  vornehmen  Welt 
und  aller  derer,  die  vornehm  sein  wollten.  Aber  die  Formen  einer 
Liebhaberausgabe,  die  es  wählte,  die  Ausstattungskunstfertigkeiten, 
die  es  in  seinen  Dienst  stellte  und  unter  denen  der  Prachtband  nicht  die 
geringste  Rolle  spielte,  blieben  doch  von  den  Bemühungen  um  eine 
Buchkunstentwicklung  noch  weit  entfernt.  Erst  die  Buchpflege,  die 
einige  Sammler  den  neuartigen  Werken  zuwendeten,   gaben  nicht 

10*  147 


FRANKREICH 

allein  einer  solchen  Entwicklung  ihre  Richtung,  sie  bestimmten  auch 
die  Bibliophilien-Gewohnheiten,  die  seitdem  die  herrschenden  blieben 
für  diejenigen  Büchersammler,  die  auch  die  Bücher  ihrer  Zeit  nicht 
verschmähten,  die  sie  sogar  zum  Hauptgegenstande  ihrer  Sammel- 
tätigkeit zu  machen  wünschten.  Nachdem  schon  einige  Vorläufer  — 
ein  Repräsentant  der  Übergangszeit  ist  etwa  Claude  Gros  de  Boze 
[1680-1753]*  —  die  bezeichnenderweise  denjenigen  Kreisen  entstamm- 
ten, in  denen  Gelehrsamkeitsprätentionen  geschmacklos  gewesen  sein 
würden,  das  Beispiel  derartiger  Liebhaberbüchereien  gegeben  hatten, 
mehrten  sich  die  neuartigen  Sammlungen.  Künstler  und  Schriftsteller, 
denen  antiquarisch-historische  Neigungen  ferner  lagen,  mußten  finden, 
daß  diese  Bibliotheken  neuen  Stils  ihre  eigenen  Arbeiten  förderten; 
die  buchgewerblichen  Unternehmungen  wandten  sich  in  erster  Linie 
an  die  Buchbildfreunde.  Es  war  eine  Auseinandersetzung  zwischen 
der  früheren  und  der  kommenden  Bibliophilie,  die,  vor  der  Revo- 
lution einsetzend  und  sie  überdauernd,  seitdem  sich  zu  behaupten 
wußte,  obschon  sie  in  der  ersten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahr* 
hunderts  infolge  der  buchgewerblichen  Umwälzungen  und  der 
Wiederaufnahme  der  historischen  Traditionen  nicht  die  ausschlag- 
gebende Bibliophilenmode  blieb.  Immerhin  aber  bedeutete  sie  die- 
jenige Bewegung,  die  die  Liebhaberbücherei  im  neuzeitlichen  Sinne 
schuf,  in  der  die  Dichtung  die  Gelehrsamkeit  ersetzte,  in  der  an  die 
Stelle  der  Fachwissenschaften  die  schönen  Wissenschaften  traten, 
Philosophie  und  Poesie,  die  in  ihrer  Art  dem  Bibliotheksideal  der 
Humanisten  zwar  mehr  entsprach  als  etwa  eine  philologische  Privat- 
bibliothek, die  jedoch  einen  allein  ihnen  bevorzugten  Platz  den 
antiken  Klassikern  nicht  mehr  zugestand. 

Der  antiquarisch-historischen  Bibliophilie  und  Bibliotheken- 
Repräsentation  stellt  der  Brief,  den  Merard  de  Saint-Just  1785 
dem  Comte  Auguste  Nadaillan  schrieb,  die  Bücherlust  der  Modernen 
gegenüber:  ,, —  —  —  Comte,  n'ayons  point  la  Bibliomanie,  mais 
aimons  les  livres.  Que  ce  goüt  se  fortifie  avec  Tage;  non  pas  au 
point  de  faire  desirer  de  r^unir  indistinctement  et  les  ouvrages  qu'on 
peut  lire,  soit  pour  son  Instruction,  soit  pour  son  amusement,  et  ceux 
qui  ne  sont  point  ä  notre  usage  ou  qui,  n'ayant  ainsi  que  les  vieux  manu- 

148  •Abb.  87 


18.  JAHRHUNDERT 

scrits,  d*autre  merite  que  de  coüter  fort  eher,  par  la  difficulte  de 
se  les  procurer  ne  devraient  etre  que  dans  la  bibliotheque  du  Roi, 
comme  simple  objet  de  curiosite,  et  servant  ä  l'histoire  de  la  biblio- 
graphie.  Que  contiennent-ils?  Rien  qui  ne  soit  mieux  exprime, 
mieux  presente,  mieux  developpe  par  les  auteurs  modernes,  qui  ont 
trait^  des  memes  objets." 

„Ne  rirait-on  pas  aujourd'hui  d*un  Prince  qui  ne  garnirait  ses 
arsenaux  que  d'armures  portees  jadis  par  les  Gaston,  les  Bayard 
et  tous  les  preux  Chevaliers,  avant  qu'on  eüt  invent6  la  poudre 
ä  canon;  qui  n'armerait  ses  troupes  que  de  vieilles  et  massives  es- 
copettes,  dont  on  garde  encore  quelques-unes  dans  des  cabinets  de 
curieux  de  choses  antiques;  que  de  ces  longues  flamberges,  especes 
d'epees  qui,  depuis  quatre  cents  ans,  rouillees  dans  leur  fourreaux, 
loin  d'etre  d'un  usage  utile  dans  une  bataille,  ne  seraient  qu'un 
poids  fort  incommode  pour  l'offieier  et  pour  le  soldat?  Je  com- 
pare,  en  quelque  sorte,  celui  qui  fait  emplette  de  livres  qu'il  n'ouvrira 
jamais,  a  Tavare  enfouissant  son  tresor.  Tun  et  Tautre  ont  des  richesse 
en  pure  perte.** 

„Sur  ses  bouquins  dores,  acquis  de  toutes  parts, 
Le  sot  antiquares  promene  ses  regards: 
Ah!    c'est  pour  lui  vraiment  une  relique  sainte! 
S'il  y  porte  la  main,  c'est  toujours  avec  crainte; 
Et  Ton  ne  peut  assurer  que  des  livres  si  beaux, 
Ne  sont  dans  son  logis  que  comme  des  tableaux: 
Loin  que  ce  riebe  fonds  serve  ä  son  avantage, 
II  n'en  connut  jamais  le  precieux  usage.*' 

[Horace,  satyre  1'®  du  1«'  livre,  vers  70.] 

,,Combien  d'hommes  de  la  Cour,  de  gens  dans  la  haute  finance, 
meme  dans  le  haut  clerge  et  dans  la  haute  magistrature,  qui,  ä  40 
ou  50  ans,  n'entendent  plus  que  tr^s-peu,  ou  point  du  tout,  le  grec 
et  le  latin;  quoiqu'ils  aient  pass6  six,  sept,  ou  dix-huit  ann6es  dans 
les  Colleges  et  les  seminaires?  Que  ces  personnes-lä  se  gardent  donc 
bien  d'acheter  jamais: 

Thesaurus  Graecac  linguae,  ab  Henrico  Stephane,  constructus.    Excu- 
debat  idem,  Henricus  Stephanus,  1572.  5  vol.  in-folio,  eharta  magna. 

149 


FRANKBEICH 

Homeri  Uias  et  Odyssea,  graece,  studio  Demetrii  Chalcondilae.    Floren- 

tiae,  1488,  Merlius,  editio  princeps. 
Hesiodi  Ascroei  quae  supersunt,  cum  notis  Variorum:    Edidit  Thomas 

Robinson,  gr.  et  lat.  Oxonii,  h  theatro  Scheldoniano ;  1737,  in-fol. 
Euripidis  tragoediae  17,  gr.  Venetis,  apud  Aldum,  1503,  2  vol.  in-8^ 
Aristophanis  Comoediae  undecim,  gr.  et  lat.  ex  recensione,  et  cum  notis 

Ludolphi    Kusteri.     Amstelodami,    Fritsch,    1710,    in-folio,    charta 

magna. 
Demosthenis  Selectae  Orationes,  gr.  et  lat.  ex  recensione  et  cum  notis 

Ricardi  Mounteney.     Cantabrigiae,   Typis  Academicis,   1731,  in-8®, 

Charta  magna. 
Virgilii  opera.    Birmingham,  Baskerville,  1757,  1  vol.  in-4^,  grand  papier. 
Horatii  carmina.    Londres,  Pine,  1733,  2  vol.  in-4^,  grand  papier. 
Senecae  Tragoediae.    Delphis,  Beman,  1728,  1  vol.  in-4^,  grand  papier. 
Terentii   Comoediae.     Hagae-comitum,   Johnsonius,    1726,   3  vol.   in-4®, 

grand  papier. 
Ciceronis  opera.    Paris,  Coignard,  1740,  9  vol.  in-4^,  grand  papier. 
etc. 

,,I1  semble  en  verite,  qu'on  sc  fasse  un  honneur  de  ne  composer 
sa  biblioth^que  que  de  livres  ecrits  en  langues  etrangeres.  On 
i  magine  obtenir  par-la  la  reputation  d'erudits.  On  aurait  honte, 
on  apprehenderait  de  n'etre  pris  que  pour  un  hemme  tres-superficiel, 
en  n'offrant  k  la  curiosite  des  amateurs,  que  des  ouvrages  frangais, 
de  ces  ouvrages  classiques  reconnus  bons  par  tout  le  monde.  Mais 
au  contraire,  on  croit  se  donner  un  grand  relief,  et  passer  pour 
savant,  lorsqu'on  peut  etaler  une  ou  deux  pieces  meublees,  garnies 
du  haut  en  bas  d'in-folio,  d'in-quatro,  d'in-octavo,  grecs,  arabes, 
coptes,  syriaques,  etc. 

Dans  sa  biblioth^que,  il  va  bientöt  se  rendre. 
Suivez-le,  et  vous  verrez  les  airs  qu'il  ose  prendre, 
Et  comme  il  s'applaudit  d'avoir,  ä  si  grands  frais, 
Rassemble  tant  d'auteurs  dont  pas  un  n'est  frangais. 

[Horace,  Ep.  2de  du  2<io  liv.  v.  92.] 

„Tel,  nourri  k  Caen,  ou  ä  Toulouse,  ou  k  Marseille,  ou  k  Stras- 
bourg ne  veut  que  des  livres  anglais.  Jamais  Pascal,  Racine,  Massil- 
lon,    Vertot,    Montesquieu   ni   Voltaire   n'entreront   dans   sa  biblio- 

150 


18.  JAHRHUNDERT 

theque;  parce  qu41s  ont  eu,  eux,  nes  en  France,  la  maladresse,  le 
ridicule  de  ne  pas  se  servir,  pour  vendre  leurs  id6es,  de  Tidiome 
qu'on  parle  a  Londres.  Ce  tres-bizarre  amateur  se  persuade  qu'on 
Testime  an  grand  philosophe,  parce  que  Neuwton  et  Locke  etaient 
de  grands  philosophes.  Tel  autre  borne  ses  desirs  a  rassembler  dix 
mille  volumes  Italiens,  et  se  fait,  ä  ce  sujet,  une  teile  illusion,  qu'il 
reve  le  jour  comme  la  nuit,  que  tous  les  lettres  d' Italic,  depuis  Turin 
jusques  ä  Naples,  ne  parlent,  ne  s'occupent  que  de  Timportant 
Service  qu'il  rend  en  France  ä  la  gloire  du  Tasse,  de  1' Arioste,  et  gene- 
ralement  de  tous  les  auteurs  de  cette  belle  partie  de  l'Europe,  qui 
a  ete  le  berceau  de  la  Littirature,  des  Arts  et  des  Sciences,  ä  la  Re- 
naissance des  Lettres.  Ces  deux  Stres  singuliers,  et  tous  ceux  qui 
leur  ressemblent,  ont  Timbecille  vanite  de  pretendre  ä  la  conside* 
ration;  et  cependant  la  plupart  de  ces  Messieurs  qui  se  disent  en 
etat  de  traduire  Milton,  l'Arioste,  le  Camoens  ou  Gessner,  savent  ä 
peine  parier  leur  langue,  et  sont  incapables  d'en  ecrire,  un  peu  cor- 
rectement,  deux  phrases  de  suite» 

„Ouvrez,  feuilletez,  nou  pas  un,  mais  trois,  quatre,  cinq  cata- 
logues  des  plus  recher ches;  vous  y  trouverez  ä  coup  sür,  tous  les 
auteurs  qui  ont  rapporte,  en  grec  ou  en  latin,  les  evenements  arriv^s 
dans  leur  pays.  Pour  une  histoire  generale  de  France,  n'  y  comptez; 
ä  moins  que  ce  ne  soit  de  Thou,  par  la  raison  seule  qu'il  a  ecrit  en 
latin,  et  qu'il  se  vend  un  prix  considerable.  Comment  faire  quelque 
cas  de  Velly  et  de  Villaret,  que  nous  avons  tous  vus,  et  de  M.  Gar- 
nier, leur  continuateur,  qui  vit  encore?  Comment  se  resoudre  ä 
mettre  sur  un  rayon  de  bibliotheque  des  volumes  d'histoire,  n'ayant 
pas  au  moins  deux  mille  ans  d'antiquite?  Comme  il  est  des  chapitres 
et  des  ordres  militaires  dans  lesquels  on  ne  peut  pas  etre  regu,  si 
Ton  ne  prouve  deux,  trois,  quatre,  cinq,  ou  six  si^cles  de  noblesse, 
de  meme  certains  amateurs  s'embarrassent  peu  que  les  livres  soient 
bons,  pourvu  qu'ils  soient  anciens  ou  rares,  exigent,  pour  en  faire 
emplette,  qu'on  les  convainque  que  ces  livres  uniques,  ou  presqu' 
uniques,  ou  extremement  chers,  ou  des  commencements  de 
l'Imprimerie,  ne  peuvent  vraiment  appartenir  qu'  k  des  curieux 
distingues;  titre  auquel  il  se  reconnaissent  visiblement:     et  voili 

151 


FRANKREICH 

mes  nigauds  qui,  pareils  au  corbeau  de  la  Fable,  et  alleches  par 
Tappas  d'une  foUe  louange,  payent,  au  poids  de  Tor,  des  rames  de 
vilain  papier,  gätees  encore  par  des  macules  noires,  mais  super- 
bement  reli^es  pour  l'ordinaire,  et  qu'il  faudrait  plutöt  porter  chez 
r^picier,  que  de  les  ranger,  que  de  les  accumuler,  dans  une  biblio- 
theque. 

,,Ne  comprenant  point  les  originaux,  qu'on  se  contente  donc 
de  lire  Homere,  Hesiode,  Euripide,  Aristophane,  Demosth^nes,  Vir- 
gile,  Horace,  Seneque,  T6rence,  Cir6ron,  Tacite  etc.,  dans  les  moins 
infidelles  traductions  qu'on  nous  en  a  donnees.  II  vaut  mieux 
faire  Taveu  de  son  ignorance,  que  de  vouloir  en  imposer  par  un  faste 
scientifique :  et  pour  un  plaisir  froid,  factice  et  imaginaire,  se  priver 
d'auteurs  qui  ont  ecrit  en  langue  frangaise. 

„Si  Ton  veut  s'en  tenir  aux  livres  qui  fönt  penser,  il  ne  faudra 
pas  des  vaisseaiix  immenses  pour  les  contenir/* 

„Croyez-moi;  que  la  coUection  de  vos  livres  soit  peu  nombreuse, 
mais  faite  avec  goüt.  En  entrant  dans  le  Museum  d'Antiquar&s,  je 
ne  puis  m'  empecher  de  lui  adresser  mentalement  ces  vers: 

Ldrsque  tu  me  conduis  dans  ta  biblioth&que, 
Pleine  du  haut  en  bas,  dont  au  moins  la  moitie 
Est  en  langue  latine,  et  Tautre  en  langue  grecque. 

Riebe  ignorant,  que  tu  me  fais  piti6! 

Va;  du  savoir  tu  n'as  que  Tombre. 
Des  livres  de  Damis  je  fais  bien  plus  de  cas: 

Ils  sont  pourtant  en  petit  nombre: 
Mais  j'en  aime  le  choix  et  ne  les  compte  pas. 

[Non  numerandi,  sed  ponderandi.] 

„Mon  eher  ami,  il  nous  manqiue  un  catalogue  —  je  m'occupe 
d'en  faire  un  pour  Thomme  du  monde,  qui  ne  sait  ni  le  gree,  ni 
le  latin,  ni  aueune  langue  6trang^re  —  qui  indique  les  plus  belles 
editions,  non  les  plus  anciennes,  moins  soignees,  plus  fautives  que 
les  nouvelles. 

A  quoi  bon  acquerir  quatre  mille  articles,  plus  ou  moins,  qu*on 
entasse  dans  une  biblioth^que,  avec  la  certitude   de  n'en  jamais 

152 


18.  JAHRHUNDERT 

faire  usage?  Par  quoi  les  compilations,  magnifiquement  inutiles, 
sont-elles  recommandables?  Parce  que  tous  les  volumes  qui  les 
composent  sont  d'une  grande  rarete;  parce  qu'on  ne  les  rassemble 
qu'ä  gros  frais.  Aussi  ne  servent-ils  qu'ä  prouver  seulement  la  for- 
tune  mal  employee  d'un  particulier,  plus  curieux  de  richesses  ima- 
ginaires,  que  d'avoir  des  livres  pour  s'instruire,  ou  pour  s'amuser: 
semblable  ä  ces  antiques  gentilshommes  qui  deployent,  affichent 
avec  orgueil  les  titres  de  leur  noblesse,  et  qui  ne  sauraient  prouver, 
pour  leur  compte,  un  seul  acte  de  grandeur  d'äme. 

„Lorsqu'on  a  arrete  en  soi  de  former  une  bibliotheque,  il  fau- 
drait  se  dire:  Imitons  l'abeille:  que  la  coUection  que  je  vais  rassem- 
bler  soit  un  parterre  de  fleurs,  sur  lequel  je  puisse,  a  mon  gre,  pro- 
mener  mon  imagination  et  en  tirer  un  miel  delicieux  qui  me  nour- 
risse  Tesprit,  fortifie  mon  äme  et  me  rejouisse  le  coeur.  La  oonver- 
sation  des  morts  nous  rend  plus  aimables  ä  ceux  avec  qui  nous 
vivons.  Instruisons-nous,  non  ä  la  mani&re  des  p^dants;  mais  afin 
de  n'etre  jamais  a  charge  ni  ä  nous-meme,  ni  aux  autres.  On  nouj 
recherche;  ou  d6sire  notre  societ6;  ou  se  soumettra  sans  peine  ä  nos 
decisions,  lorsqu'on  aura  remarque,  et  cette  remarque  n'echappe  ä 
personne,  que  sans  faire  parade  de  savoir,  sans  en  paraitre  plus 
orgueilleux,  ni  moins  honnetes,  nous  raisonnons  bien;  et  qu'on  ne 
sort  jamais  d'avec  nous,  sans  avoir  ete  dans  le  cas  d'apprendre 
quelque  chose  d'interessant  et  de  nouveau. 

,,Pardonnez-moi  de  me  citer;  tous  mes  livres  sont  des  plus 
belles  impressions,  comme  vous  ne  l'ignorez  pas,  mais  n'imaginez 
point  que  le  desir  pueril  d'etaler  aux  yeux  un  luxe  niais,  ait  deter- 
min^  ma  depense.  C'est  en  moi  un  goüt  r^flechi  et  louable.  Inde- 
pendamment  de  la  satisfaction  premiere  plus  grande,  plus  vraie 
que  j'eprouve,  en  admirant  des  productions  du  genie;  ma  vue  est 
bien  moins  fatigu^e,  en  se  reposant  sur  un  papier  et  des  types  amis 
de  Toeil.  En  outre  je  täche,  autant  que  mes  facultes  me  le  per- 
mettent,  de  conserver  aux  imprimeurs  ä  venir  des  modeles  qu'ils 
doivent  sans  cesse  tenter  de  surpasser.  Le  progres  de  tous  les  arts 
utiles,  et  surtout  d'un  art  aussi  n6cessaire  que  celuici  doit  Stre  un 
des   principaux   objets   des   occupations    et   des   amusements   d'un 

153 


FBANKREICH 

homme  ä  qui  les  Sciences  ou  la  Litterature  ne  sont  pas  tout-ä-fait 
6trangeres. 

,,Comme  vous  le  pensez  bien,  je  n'ai  en  vue  personne,  en  d6s- 
approuvant  les  Rechercheurs  de  vieux  bouquins.  Je  serais  bien 
fache  d'offenser  qui  que  ce  füt,  ni  directement,  ni  indirectement. 
II  faut  toujours  laisser  chacun  maitre  de  son  goüt  bon  ou  mauvais. 
le  consens,  et  de  bon  coeur,  qu'on  bläme  le  mien,  s'il  parait  futile 
et  roturier  aux  Luculus  bibliomanes. 

Je  ne  veux  point  aux  autres  refuser 

La  liberte  dont  je  pretends  user. 

[Veniam  petimus  damusque  vicissim.    Hör.] 

„le  vous  avertis,  mon  ami,  que  le  luxe  des  reliures  est  fort 
dispendieux.  Loin  d'exciter  personne  de  s'y  livrer,  je  conseille  au 
contraire  aux  amateurs  de  se  contenter  de  faire  brocher  seulement 
avec  un  dos  de  maroquin,  en  se  servant  pour  cela  de  De  Rome  le 
jeune,  le  plus  eher,  mais  aussi  le  plus  adroit  de  tous  les  ouvriers  de 
sa  profession."  —   —   — 

Die  Gesamtzahl  der  Bände,  die  sich  vor  dem  Bastillensturm  in 
französischen  Privatbibliotheken  befanden,  ist  auf  dreizehn  Millionen 
geschätzt  worden,  von  denen  etwa  zehn  Millionen  in  einem  Jahrfünft 
ihren  Aufbewahrungsort  in  Büchersammlungen  wechselten  oder  ganz 
und  gar  zerstreut  worden  sind,  in  den  Verwirrungen  einer  Zeit,  in 
der  die  Bücher  auf  der  Straße  lagen,  ohne  daß  man  Lust  hatte,  sie 
aufzuheben.  In  diese  Büchermassenumschichtung  kam  erst  einige 
Ordnung,  als  in  Paris  und  in  den  Provinzen  die  Bibliothekenkonfis- 
kationen geregelter  wurden,  die  Bestände  in  Bücherspeichern  ,zur 
Verfügung  des  Volkes*  gehalten  wurden.  Aber  die  Besitzergreifung 
der  kirchlichen  Anstalts-  und  Klosterbibliotheken  führte  auch  sehr 
beträchtliche  Büchermassen  den  großen  öffentlichen  Sammlungen 
zu.  Allein  die  etwa  80  in  Paris  bestehenden  geistlichen  Bibliotheken 
enthielten  über  eine  halbe  Million  Druckwerke  und  Handschriften. 
25  von  ihnen,  die  den  Frauenorden  gehörten,  hatten  weniger  als 
1000  Bände,  17  mehr  als  1000,  11  mehr  als  2000,  5,  darunter  Port- 
Royal,  mehr  als  3000,  1  mehr  als  4000,  3  mehr  als  5000,  2,  darunter 
die  der  Missions  Etrang^res,  mehr  als  7000,  5,  darunter  die  der  Nötre- 

154 


18.  JAHRHÜNDEBT 

Dame,  mehr  als  8000,  2  mehr  als  9000,  2,  die  von  Grand  Picpus  und 
die  der  Karthäusermönche,  mehr  als  10000,  1,  die  der  Cölestiner- 
mönche,  mehr  als  13000,  1,  die  der  Jacobins  Saint- Dominique,  mehr 
als  14000,  1,  die  der  Barnabitermönche,  mehr  als  15000,  3,  die  der 
Carmes  dechaux,  der  Grands-Augustins  und  der  Minimes  de  la  place 
Royale,  mehr  als  18000,  1,  die  des  CoUege-Egalite,  mehr  als  20000, 
und  2,  die  von  Saint-Sulpice  und  die  der  Sorbonne  mehr  als  28000. 
Eine  Statistik,  die  erweist,  daß  die  Auflösung  und  Zusammenfassung 
dieser  Bibliotheken  entscheidenden  Einfluß  auf  die  Entwicklung  des 
öffentlichen  Büchersammelwesens  gewinnen  konnte.  Besonders  die 
Bibliotheque  Nationale  erwies  sich  als  e^n  vortrefflicher  Zentralisator. 
Die  drei  oder  vier  Millionen  Bände,  die  noch  in  den  Depots  lagerten, 
wurden  mit  Rücksicht  auf  ihre  Bedürfnisse  verwertet,  die  neu  ent- 
stehenden Verwaltungsbehörden  fanden  hier  die  Bestände  für  neue 
Amtsbibliotheken.  Was  übrig  blieb,  wurde  in  einer  Anzahl  Depots- 
auktionen, deren  letzte  1816  stattfand,  dem  Schicksal  alten  Papieres 
überlassen.  Die  ebenfalls  in  den  Depots  befindlichen  konfiszierten 
Privatbibliotheken  der  Emigrierten  wurden,  soweit  sie  noch  vor- 
handen, in  den  Jahren  1798  bis  1814  denen,  die  die  Restitution  aus- 
drücklich forderten,  zurückgegeben.  Trotz  alledem  standen  von 
1792  bis  1815  die  Preise  des  Altbüchermarktes  in  Paris  am  tiefsten, 
unablässig  folgten  sich  die  planlosen,  schlechtgeleiteten  Versteige- 
rungen. Eine  solche  UberfüUung  des  Büchermarktes  konnten  unter 
den  unsicheren  Zeitumständen  Bücherliebhaberei  und  Bücher- 
sammelwesen  nicht  ausgleichen.  Zwar  waren  die  billigen  guten 
Bücher  im  Überfluß  vorhanden,  aber  sie  hatten  keinen  hohen  Lieb- 
haberwert; die  Kontinentalsperre  und  die  Kriege  Napoleons  ver- 
hinderten dazu  die  Ausfuhr.  Die  Buchhändler  wurden  zu  unfrei- 
willigen Büchersammlern.  Mit  Napoleons  Sturz  begann  dann  der 
Abfluß  der  angehäuften  Bücherschätze  ihrer  Lager  nach  England, 
und  in  Frankreich  besann  man  sich  wieder  auf  die  Annehmlichkeiten 
des  Lebens ;  die  Bibliophilie  erstarkte  von  neuem  und  mit  ihr  wuchsen 
die  Bibliotheken.*" 

Als  Napoleon  den  Thron  der  Yalois  und  Bourbons  bestiegen 
hatte,  schien  es  ihm  nötig  und  zweckmäßig,  die  alten  höfischen  Tra- 

*  Abb.  87  155 


FRANKREICH 

ditionen  zu  beleben,  auch  für  die  Büchersammlungen  des  kaiser- 
lichen Hauses.  Daß  der  Kaiser  als  Bibliophile  indessen  selbst  seine 
eigenen  Wege  ging,  zeigte  er,  als  er  im  Jahre  1808  seinem  Bibliothekar 
Barbier  den  Befehl  gab,  eine  Reisebibliothek  von  1000  Bänden  für 
ihn  drucken  zu  lassen;  ein  Befehl,  den  er  dann  mit  Rücksicht  auf  den 
ihm  gemachten  hohen  Kostenanschlag  widerrief.  Erst  1798  hatte  der 
General  Bonaparte  die  Mittel,  eine  eigene  Bibliothek  begründen  zu 
können,  die  Bände  aus  jener  Zeit  trugen  auf  dem  Rücken  ein  ver- 
schlungenes B(onaparte)  P(agerie).  Der  erste  Konsul  richtete  sich 
dann  im  Schlosse  Malmaison  eine  Privatbibliothek  von  ungefähr 
7000  Bänden  ein,  deren  Bibliothekar  auch  die  anderen  napoleonischen 
Privatbibliotheken  in  den  Tuilerien,  in  Grand  Trianon,  Compiegne, 
Rambouillet,  St.  Cloud,  Fontainebleau  sowie  die  der  Kaiserinnen,  die 
zuzusammen  etwa  100000  Bände  umfaßt  haben  dürften,  verwaltete.* 
Aus  ihnen  gingen  von  Napoleon  befohlene  Bücher  in  die  Hand- 
bibliotheken, die  ihm  auf  seinen  Feldzügen  folgten.  In  den  letzten 
Jahren  seines  Lebens  auf  Elba  und  St.  Helena  waren  die  Bibliotheken 
Napoleons  weniger  glänzend,  wurden  aber  um  so  eifriger  benutzt. 
Nach  Elba  sandte  Barbier  die  Novitäten,  die  nach  Napoleons  Rück- 
kehr mitgenommen  und  in  der  Tuilerienbibliothek  aufgestellt 
wurden;  nach  St.  Helena  hatten  Napoleon  ungefähr  600  Bände 
aus  der  Trianonbibliothek  begleitet.  Ständige  Büchersendungen  aus 
Europa  ergänzten  diesen  Grundstock,  die  einzelnen  Exemplare 
trugen  als  Ex  libris  den  Stempel:  Napoleon  from  E.  V.  Holland  by 
Lord  Bathursts  permission.  Eine  Anzahl  Bände  dieser  letzten 
Napoleonischen  Bibliothek,  die  verloren  und  zerstört  worden  ist, 
brachte  Napoleon  IIL  in  die  Bibliothfeque  du  Louvre. 

Die  ansehnlichste  Bibliotheksgründung  selbständiger  Art,  die, 
in  der  Epoche  des  ersten  Kaiserreiches  entstanden,  den  Glanz  des 
zweiten  vermehren  half,  ist  mit  ihm  vernichtet  worden:  die  Biblio- 
thÄque  du  Louvre.  In  der  Nacht  vom  23.  zum  24.  Mai  1871  haben 
die  Brandstifter  der  Kommune,  nachdem  sie  die  Tuilerien  und  das 
Palais  Royal  angezündet  hatten,  auch  aus  den  100000  Bänden  in 
den  Büchersälen  des  alten  Königsschlosses  eine  Brandstätte  gemacht, 
von  deren  einstiger  Pracht  nun  nur  die  wenigen  Cimelien  zeugen, 

156  *  Abb.  92 


19.  JAHRHUNDERT 

die,  obschon  der  Bücherei  des  Louvre  zugehörend,  an  anderer  Stelle 
aufbewahrt  waren.  Der  Bibliograph  Antoine  Alexandre  Bar- 
bier [1765—1825]*  ist  der  Schöpfer  der  Louvrebibliothek  gewesen, 
deren  Entstehungsgeschichte  die  Entwicklung  des  französischen 
öffentlichen  Büchersammelwesens  von  der  Revolution  zur  Restau- 
ration erkennen  läßt.  1794  war  der  ehemalige  Geistliche  nach  Paris 
gekommen,  wo  er  eine  Anstellung  als  Bibliothekar  fand;  seit  1798 
zunächst,  indem  er  mit  Hubert  Pascal  Ameilhon  als  Mitglied  der 
Section  de  bibliographie  die  Ordnung  und  Verwertung  der  depo- 
nierten konfiszierten  Büchersammlungen  leitete.  Dabei  bildete  er 
die  Bibliotheque  du  Directoire,  die  nach  dem  18.  Brumaire 
unter  den  Konsuln  geteilt  und  in  ihrem  Überreste  zum  Grundstock 
der  Bibliotheque  du  Conseil  d'Etat  wurde,  deren  Katalog 
Barbier  1803  in  zwei  Bänden  herausgab.  1807  ließ  der  Kaiser  diese 
Büchersammlung  nach  Fontainebleau  überführen  und  ernannte 
Barbier  zu  seinem  Bibliothekar.  Als  dann  nach  Napoleons  Sturz 
Barbiers  bibliothekarische  Vertrauensstellung  bei  dem  Kaiser  vor- 
über war,  setzte  er  sie  in  einer  ähnlichen  bei  dem  Könige  fort.  Er 
erhielt  den  Auftrag,  die  Bibliotheque  dite  du  Cabinet  du  Roi 
aus  der  Büchersammlung  des  Staatsrates  umzubilden  und  die  ande- 
ren königlichen  Privatbibliotheken  zu  verwalten.  Die  Bibliotheque 
du  Conseil  d'Etat,  ursprünglich  in  den  Tuilerien  und  1807  nur  teil- 
weise nach  Fontainebleau  versetzt,  gab  mit  ihren  übriggebliebenen 
Werken  den  Anfang  der  neuen  Louvresammlung,  dessen  Fortführung 
sich  schnell  vollzog,  weil  Barbier  auf  das  von  ihm  1807  angelegte 
Magazin  für  die  kaiserlichen  Büchersammlungen  zurückgreifen 
konnte,  das  seinerseits  wiederum  die  kostbare  Liebhaberbücherei 
eines  Herrn  d'Ambreville  aufgenommen  hatte,  die  dieser  sich  ge- 
schmackvoll und  kenntnisreich  ohne  allzu  große  Unkosten  aus  dem 
Depot  de  la  culture  Sainte-Catherine  ausgesucht  hatte.  In  der 
Gallerie  des  Louvre,  der  1793  zum  Museum  der  Nation  geworden 
war,  fand  die  neue  Sammlung  nun  ihre  Aufstellung,  deren  Ver- 
mehrung auch  der  Zufluß  aus  den  sonstigen  königlichen  Privat- 
bibliotheken regelte.  Dabei  entwickelte  sie  sich  weiterhin  aus  einer 
juristisch-historisch-politischen    und   militärischen   Privatbibliothek 

*  Abb.  91  157 


FRANKREICH 

zu  einer  repräsentativen  Schausammlung.  Zwar  hatte  Barbier, 
persönlicher  MißheUigkeiten.  mit  einem  Minister  wegen,  1822  sein 
Amt  aufgeben  müssen  und  war  dadurch  sogar  gezwungen  worden, 
teilweise  noch  kurz  vor  seinem  Tode  die  eigene  ansehnliche  Privat- 
bibliothek zu  verkaufen.  Aber  die  Dynastie  Barbier  blieb  und  sein 
Sohn  Louis  hat  der  Bibliotheque  du  Louvre,  welchen  Namen 
die  Sammlung  unter  der  Regierung  des  Bürgerkönigs  erhielt,  bis 
zu  deren  Untergange  vorgestanden.  Aber  die  Bedeutung  als  die 
eigentliche  Bücherei  des  Herrscherhauses  behielt  die  Bibliotheque 
du  Louvre  unter  dem  gleichen  Namen  auch  unter  Kaiser  Na- 
poleon in.  Schon  unter  König  Louis  Philipp  war  sie  nach  einigen 
Umzügen  endlich  im  Nordflügel  in  den  an  der  Wasserseite  gelegenen 
Räumlichkeiten  untergebracht  worden.  Als  Napoleon  IIL  die 
Mus^es  du  Louvre  neu  ordnen  ließ,  wurde  auch  sie  in  diese  Ordnung 
einbezogen  ,so  daß  sie  schließUch  mit  ihren  100000  Bänden  zu  einer 
der  besten  und  größten  öffentlichen  Bibliotheken  von  Paris  ge- 
worden war. 

Der  repräsentativen  Bedeutung  der  Bibliotheque  du  Louvre 
entsprach  ihre  Ausstattung.  Über  eine  prachtvolle,  mit  Skulpturen 
von  Mme  Claude  Vignon  geschmückte  Freitreppe  gelangte  man  in 
die  der  allgemeinen  Benutzung  zugänglich  gemachten  Lesesäle,  von 
denen  der  erste  mit  Brunes  die  neun  Musen  darstellenden  Decken- 
gemälde verziert  war.  Der  große  Saal,  in  drei  Schiffe  geteilt,  wurde 
im  Mittelraume  von  zwölf  großen  Pfeilern  getragen,  während  die 
beiden  durch  eichenhölzerne  Scheidewände  abgeteilten  Nebenräume 
die  Bücherwände  bildeten.  Seine  allegorischen  Deckengemälde, 
von  Biennoury,  Theologie  —  Jurisprudence  —  Sciences  et  Arts  — 
Litterature  et  Poesie  —  Geographie  et  Histoire  —  Histoire  generale 
versinnbildlichend,  entsprachen  den  der  Einteilung  des  Bibliotheks- 
kataloges.  Von  Denuelle  stammende  Medaillonbildnisse  berühmter 
Schriftsteller  verbanden  sich  mit  ihnen  zu  dem  weiteren  malerischen 
Schmuck  dieser  Galerie,  an  die  ein  großer,  auf  die  Cour  Napoleon 
hinausgehender  Ehrensaal  stieß,  dessen  Deckengemälde  eine  Wieder- 
holung des  von  Abel  de  Pujol  1819  für  die  große  von  Percier  und 
Fontaine  aufgeführte,  später  von  Visconti  niedergelegte  Freitreppe 

158 


19.  JAHRHUNDERT 

des  Louvre  gemalten  Freskos  war.  Über  den  beiden  prachtvollen, 
in  Holzbildhauerei  von  Lepetre  /ausgeführten  Kaminen  waren 
Heberts  Bildnisse  von  Napoleon  I.  und  Napoleon  III.  angebracht, 
die  noch  durch  die  ausführliche  Beschreibung,  die  Th6ophile  Gautier 
von  ihnen  in  seinem  Salon  de  1866  gab,  berühmt  sind. 

Die  Bestände  der  Louvrebibliothek  hatten  einen  hohen  biblio- 
graphischen und  historischen  Wert.  In  ihnen  waren  nicht  allein  die 
militärischen  [Sammlungen  Napoleons  I.  und  III.  zusammen- 
gekommen, dazu  nicht  wenige  Einzelstücke  ersten  Ranges,  die 
griechischen  und  römischen  Klassikereditionen  aus  dem  Besitze 
König  Ludwigs  XVIII.  und  ähnliche  Ergänzungen  einer  fürstlichen 
Hausbibliothek,  sondern  auch  berühmte  Liebhaberbüchereien.  Vor 
allem  die  1826  von  König  Karl  X.  angekaufte  Petrarca-Sonder- 
sammlung des  Professors  Antonio  Marsand  aus  Padua  mit  ihren 
800  Werken  und  die  von  Motteley  1856  Kaiser  Napoleon  III. 
hinterlassene  Kollektion,  eine  Bibliophilenbibliothek,  die  für  die 
Bücherliebhaberei  Frankreichs  in  der  ersten  Hälfte  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  kennzeichnend  war. 

Ein  Vermittler  vielseitiger  Art  des  Buches  und  der  Bücherlieb* 
haberei  zwischen  der  Bibliophilengeneration,  die  die  Revolution  ver- 
nichtet hatte,  und  deren  Bibliothekenruinen  und  den  in  der  Restau- 
rationsepoche wieder  zu  einem  ruhigeren  Sammeln  sich  gewöhnenden 
Buchfreunden  ist  Antoine-Augustin  Renouard  [1765—1853]* 
gewesen.  Liebhaberausgaben  veranstaltend,  mehr  zu  eigenem  Ver- 
gnügen als  des  geschäftlichen  Nutzens  wegen,  wurde  er  ein  erfolg- 
reicher Verleger;  seine  Privatbibliothek  vermehrend,  die  er  mit  dem 
ersten  ihm  von  seinem  Vater  geschenkten  Thaler  1778  gegründet 
hatte,  für^den  er  einen  Horaz  erwerben  konnte,  eine  Zeitlang  zum 
Altbuchhändler  europäischen  Rufes;  als  Bücherforscher  und  Bücher- 
herausgeber erwarb  er  sich  nicht  geringe  Verdienste;  die  Buchkunst 
hat  er  kräftig  gefördert  und  in  seiner  eigenen  Sammlung  der  Aus- 
stattung seiner  livres  ä  figures  viel  Sorgfalt  zugewendet.  Wie  er  zum 
Buchmann  wurde,  hat  A.  A.  Renouard  selbst  [1796,  in  einem  seiner 
hübschen  kleinen  Verlagsverzeichnisse]  geschildert:  ,,D*une  pro- 
fession  tout-ä-fait  etrangfere  aux  lettres,  fabriquant  de  gazes,  de  ces 

*  Abb.  90  159 


FRANKREICH 

riens  elegans  qui  servent  ä  la  parure  des  femmes,  et  dont  beaucoup 
d'hommes  s'occupent  avec  une  attention  souvent  plus  suivie  que 
Celle  qu'obtient  T^tude  de  la  morale  et  des  sciences^  je  me  suis  livre 
a  un  genre  de  travail  qui  semble  bien  peu  comparable  avec  les  occu- 
pations  d'un  manufacturier.  Pendant  la  d^plorable  inertie  oü  les 
circonstances  politiques  avoient  jette  mon  commerce,  je  me  suis 
refugie  chez  les  Muses,  et  ce  qui  avant  1792  faisoit  seulement  l'amuse- 
ment  de  mes  loisirs,  a,  pendant  ces  dernieres  annees,  fait  mon  occu- 
pation  presque  entiere.  Passionne  pour  Tart  de  la  typographie, 
je  n'ai  pas  pense  qu'il  me  füt  süffisant  de  rassembler  aupr^s  de 
moi  les  chefs  d'oeuvre  des  plus  habiles  imprimeurs;  j'ai  voulu  aussi 
contribuer  ä  les  multiplier.  Dans  les  imprimeries  les  plus  celebres 
de  la  France  et  de  T Italic,  j'ai  fait  reimprimer  un  certain  nombre 
d'excellents  ouvrages  latins  et  francais:  depenses,  soins  assidus, 
rien  n'a  ete  epargne  pour  donner  k  ces  editions  toute  la  perfection 
qui  a  dependu  de  moi.  le  me  suis  surtout  applique  a  ce  qu'elles  ne 
fussent  point  de  simples  et  inutiles  reimpressions.  Tai  cherche  a  les 
rendre  autant  que  possible  recommandables  aux  litterateurs,  et  ä 
leur  donner,  pour  ainsi  dire,  un  caractere  qui  leur  füt  propre,  soit 
par  quelque  addition  inedite,  ou  par  la  vie  de  Tauteur,  ou  par  une 
coUation  plus  scrupuleuse  et  une  meilleure  distrubition  des  pieces 
qui  les  composoient,  ou  par  une  notice  litteraire  des  precedentes 
editions  du  meme  livre,  etc.  Si  je  n'avois  en  vue  qu'une  speculation 
utile  a  mes  interets,  si  j'avois  entrepris  ces  impressions  comme  une 
af faire  de  commerce,  je  devrois  trouver  qu'elles  auroient  fort  mal 
r6compense  mes  soins:  mais  le  plaisir  de  me  livrer  ä  mon  goüt  do- 
minant est  entr6  pour  beaucoup  dans  mes  calculs,  et  m'a  fait  laisser 
de  cöte  toute  autre  consideration.  D'ailleurs,  dans  ces  temps  de- 
sastreux  oü  Ton  imputoit  egalement  ä  crime  de  parier  ou  de  se  taire, 
de  rester  nul  chez  soi,  ou  d'avoir  quelque  existence  politique,  j'ai 
regarde  comme  un  bonheur  de  pouvoir  me  concentrer  en  moi-meme, 
et  me  livrer  ä  des  travaux  assez  arides,  il  est  vrai,  mais  capables 
d'^tourdir  mon  imagination  sur  l'etat  affreux  dans  lequel  ou  nous 
forgoit  de  vivre.  Maintenant  qu'il  est  permis  d'esperer  un  avenir 
moins  malheureux,  et  que  les  liaisons  commerciales  commencent  ä  se 

160 


19.  JAHRHUNDERT 

retablir,  je  sacrifie  mes  goüts  ä  mes  devoirs,  j'abandonne  les  travaux 
d'editeur,  pour  reprendre  la  profession  dans  laquelle  j'ai  ete  eleve,  pour 
redevenir  fabriquant  de  gazes;  et  au  moment  ou  je  cesse  de  faire 
imprimer,  je  crois  devoir  joindre  ä  mes  dernieres  editions  une  notice 
exacte  de  toutes  celles  que  j'ai  publiees  .  .  .  Lorsque,  dans  un  age 
plus  avance,  je  pourrai  revenir  ä  des  occupations  conformes  ä  mes 
inclinations  les  plus  cheres,  je  ferai  imprimer  [ces  editions  en  pre- 
paration]". 

Das  Buch  ließ  den  Gazefabrikanten  Renouard  nicht  mehr  frei, 
in  seinem  Dienste  stand  auch  das  ihm  noch  gegönnte  Halbjahr- 
hundert seines  erfolgreichen  Lebens;  als  er  starb,  hinterließ  er  eine 
der  bedeutendsten  französischen  Liebhaberbüchereien  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts. 

Bereits  1788  konnte  er  dank  der  bald  erworbenen  Bücher- 
kenntnisse auf  der  Vente  Soubise  viele  Werke  aus  der  Bibliothek 
de  Thous  in  seinen  Besitz  bringen  und  auch  in  den  stürmischen  Re- 
volutionsjahren wußte  er  die  damals  besonders  zahlreichen  Gelegen- 
heiten zum  billigen  Büchererwerb  zu  nützen,  mit  steter  Rücksicht 
auf  seine  bibliographischen  Untersuchungen  an  einer  möglichst 
vollständigen  Reihe  der  Aldus-  und  Stephanusdrucke  sammelnd. 
So  kaufte  er  die  Aldinen  der  Bücherei  Lomenie-Brienne,  die  der 
Pariser  Altbuchhändler  und  Verleger  G.  C.  Molini,  ebenfalls  ein 
tüchtiger  Bücherkenner,  erworben  hatte,  von  diesem  en  bloc,  er- 
setzte aber  später  die  vielen  minderwertigen  Exemplare,  die  sich 
unter  ihnen  fanden,  durch  schönere.  Von  dem  Straßburger  Philo- 
logen R.  F.  Ph.  Brunck  [1729—1803]  erwarb  er  den  ihm  angebote- 
nen besten  Teil  einer  schönen  Liebhaberbücherei  zusammen  mit  der 
de  Lunas,  wobei  er  Gelegenheit  hatte,  den  Bibliophilenspekulanten, 
als  den  sich  Brunck  erwies,  gründlich  kennen  zu  lernen.  Ausgedehnte 
Reisen  Renouards  und  seiner  Söhne,  vielfache  geschäftliche  Be- 
ziehungen, vor  allem  auch  der  eigene  Altbuchhandel,  der  ihm  den 
steten  Austausch  schlechterer  Stücke  gegen  bessere  bequem  machte, 
waren  den  Teilen  seiner  Bücherei,  die  die  bis  zur  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts erschienenen  Werke  umfaßten,  zugute  gekommen,  die 
Beziehungen  des  Verlegers  den  neueren  Büchern,    über  die  Ergeb- 

BOQENG    11  161 


i 


FRANKREICH 

nisse  seiner  Sammeltätigkeit  erstattete  der  ^^Catalogue  de  la  biblio- 
thöque  d'un  Amateur.  Avec  notes  bibliographiques,  critiques  et 
litt^raires.  Paris:  1819."  IV.  einen  Bericht,  der  von  F.  A.  Ebert 
[Hermes  V,  130 ff.]  mit  Recht  als  ein  für  späte  Zeiten  noch  inter- 
essantes Aktenstück  zur  Geschichte  der  französischen  Bibliophilie 
bezeichnet  worden  ist.  Nachdem  Renouard  1824  seine  geschäft- 
lichen Unternehmungen  den  jüngeren  Händen  seiner  Söhne  anver- 
traut und  sich  auf  seinen  Landsitz,  die  alte  Abtei  St.  Yalery-sur- 
Somme,  zurückgezogen  hatte,  begann  er,  seine  umfangreiche 
Bücherei  allmählich  zu  verkleinern:  die  Aldinen  wurden  in  London 
versteigert,  anderes  verkaufte  er  „ä  Tamiable"  und  in  einigen  Pariser 
Auktionen,  wie  er  schon  1804,  1808,  1811  größere,  ihm  überflüssige 
Teile  seiner  Bücherei  verauktioniert  hatte,  um  Raum  zu  schaffen 
und  seine  Dubletten  zu  verwerten.  Die  so  getroffene  Auswahl,  die 
er  noch  durch  manche  wertvolle  Erwerbung  ergänzte,  wurde  im 
November  und  Dezember  1854  in  der  berühmten  Vente  Renouard 
zu  Paris  dem  Büchermarkt  überlassen;  sie  enthielt  immerhin  noch 
3700  Nummern. 

Ein  Menschenalter  vorher  waren  in  Paris  die  Cimelien  der  Biblio- 
thek Macarthy-Reagh  unter  den  Hammer  gekommen,  aber  damals 
hatte  diese  Auktion,  die  um  1860  die  glänzendste  französische 
Büchereiversteigerung  des  neunzehnten  Jahrhunderts  hätte  werden 
können,  nur  eine  verhältnismäßig  geringe  Beachtung  gefunden. 
Allerdings  entbehrte  diese  Bibliophilen-Schatzkammer,  ein  Ex- 
trakt aus  rund  neunzig  Liebhaberbüchereien,  einer  gewissen 
inneren  Gleichmäßigkeit.  Überreich  an  typographischen  Kostbar- 
keiten, wie  den  frühesten  Wiegendrucken,  und  an  prachtvollen 
Pergamentdrucken  [602  Werke  in  826  Bänden],  fehlten  ihr  nach  dem 
Urteile  Renouards  einige  tausend  wirklich  nützliche  Bände,  die  Aus- 
gaben neuerer  Schriftsteller  und  andere  Bücher,  die  zum  Lesen  dienen 
konnten,  um  nicht  bloß  eine  Schausammlung,  sondern  auch  eine 
benutzbare  Bücherei  zu  sein. 

Comte  Mac  [C]arthy-Reagh  [1744—1811],  der  in  Tou- 
louse starb,  hatte  sein  ganzes  Leben  der  Schöpfung  einer  Privat- 
bibliothek   gewidmet,   als   deren   Grundstock   er   1769   die    [bereits 

162 


19.   J  AHRH  UNDEET 

erwähnte]  zweite  Büchersammlung  Girardot  de  Prefonds  erworben 
hatte.  Schon  elf  Jahre  später  machten  die  zahlreichen  Vermehrungen 
seiner  Bücherei  eine  Dublettenversteigerung  nötig,  die  im  Januar 
1780  stattfand.  Nach  dem  Tode  des  Grafen  bot  der  Herzog  von 
Devonshire  vergeblich  20000  Pfund  Sterling  für  den  Ankauf  der 
Bibliothek  en  bloc,  indessen  ergab  auch  die  Auktion,  die  in  den 
Jahren  1815  bis  1817  stattfand,  [mit  Ausschluß  der  zurückerstande- 
nen und  anderweit  ausgebotenen  Bücher]  nur  407746  Fr.  50  c; 
immerhin  der  bedeutendste  Erlös  aus  einer  französischen  Lieb- 
haberbüchereiversteigerung des  neunzehnten  Jahrhunderts  bis  zum 
Jahre  1867. 

Die  Auflösung  der  Macarthy-Reagh-Sammlung  fiel  in  eine  Zeit, 
in  der  die  Bibliophilien  sich  mühten,  einen  Ausgleich  zwischen 
Gegenwart  und  Vergangenheit  zu  finden,  die  gewaltsame  Trennung 
zweier  Epochen  zu  überbrücken,  weil  sie  weder  ihre  eigene  Gegenwart 
leugnen  noch  die  Vergangenheit  verschweigen  wollten;  in  eine  Zeit, 
die  wieder  einen  in  ihren  Anschauungen  begründeten  Bibliotheken- 
stil brauchte  und  ihn  historisierend  suchte.  Das  Bibliophilen- 
interesse  am  achtzehnten  Jahrhundert  wandte  sich  vorerst  den  Doku- 
menten seines  blutigen  Endes,  der  Revolution,  zu.  Unter  manchen 
anderen  Büchereien  dieser  Art  war  die  Bibliothöque  Bedoyere  die 
hervorragendste.  Allerdings  wurde  der  gelehrte  und  strenge  Aristo- 
krat, der  Noel-FranQois-Henri  Huchet  Comte  de  La  Be- 
doydre  [1782 — 1861]*  war,  durch  seine  literarischen  Studien  und 
Veröffentlichungen  zunächst  dazu  geführt,  den  Plan  einer  Bücherei 
zu  entwerfen,  die  die  besten  V^erke  der  Geschichte  und  des  Schrift- 
tums aller  Völker  und  aller  Zeiten  enthalten  sollte.  Schon  um  1810 
auf  den  Ventes  Caillard,  Didot  und  d'Ourches  machte  er  diesem  Plane 
entsprechende  bedeutende  Erwerbungen,  wobei  er  auf  die  Auswahl 
der  einzelnen  Exemplare  alle  Rücksichten  nahm,  die  ein  amateur 
impeccable  nur  nehmen  kann.  Seit  1814  in  den  Gardes  du  corps  hatte 
er  1826  an  dem  Feldzuge  in  Spanien  teilgenommen;  die  Revolution 
von  1830  veranlaßte  ihn,  als  Oberst  aus  dem  Dienste  zu  scheiden. 
Die  politischen  Ereignisse  jener  Jahre  verstimmten  ihn  dann  90, 
daß    er   mit   aller   Lebenslust   auch   seine    Sammlerpassion   verlor: 

n*  *  Abb.  93  163 


FRANKBEICH 

1837  ließ  er  seine  Bibliothek  versteigern.  Aber  gerade  die  Auktion, 
die  Zerstreuung  der  ihm  lieben  Bücher,  erweckte  aufs  neue  sein 
bibliophiles  Temperament.  Schon  auf  der  Versteigerung  kaufte  er 
selbst  die  wertvollsten  Stücke  zurück,  und  nachdem  sie  beendet  war, 
suchte  er  mit  besonderem  Eifer  wieder  die  Bände,  die  ihm  einst 
gehört  hatten,  um  sie  noch  reicher  mit  Vignetten  und  Zeichnungen 
zu  schmücken.  Indessen  gründete  sich  der  Bibliophilen  -  Ruhm 
seiner  späteren  Sammlerzeit  doch  hauptsächlich  auf  die  Collection 
revolutionnaire.  Obwohl  La  Bedoyere,  ein  gentilhomme  royaliste, 
bis  zum  letzten  Atemzuge  niemals  die  tatsächlichen  Folgen  dieser 
Revolution  anerkannt  hat,  machte  er  sich  zum  Aufseher  eines  der 
größten  Archive  ihrer  Geschichte.  Schon  von  1805  an  hatte  er  ge- 
legentlich revolutionäre  Flugschriften  und  Zeitungen  erworben,  die 
ihn  als  Kuriosa  reizten.  Aber  erst  nach  1830,  als  er  den  Buchhändler 
France,  den  Vater  des  Dichters  kennen  lernte,  der  eine  Spezialität 
in  dem  Handel  mit  Schriften  des  Revolutionszeitalters  gefunden 
hatte,  erweiterte  La  Bedoyere  seine  Sammlung,  die  zuletzt  auf 
rund  100000  Stück  anwuchs,  nachdem  für  sie  manche  ähnliche 
Bibliotheken  [Portier  de  l'Oise,  Alissant  de  Chazet,  Deschiens, 
Colonel  Marin]  en  bloc  erworben  waren.  Da  standen  nun  in  seinem 
Pariser  Hause  in  der  Rue  Saint- Dominique  in  einem  großen  Saale 
des  Erdgeschosses,  kostbar  in  Maroquin  gebunden,  in  den  hohen 
Bücherständen  aus  Acajouholz  mit  ihrem  Bronzebeschlag,  deren 
Gitterwerk  so  fein  war,  daß  die  Mücken  und  Schmetterlinge  nicht  die 
Bandrücken  berühren  konnten,  jene  Drucke,  die  in  der  Revolutions- 
epoche über  die  Straßen  geflattert  waren,  wohlbehütet  und  wohl- 
verschlossen, um  nach  des  Sammlers  Tode  für  die  Bibliotheque 
Imperiale  angekauft  und  so  vor  dem  Schicksal  einer  neuen  Zer- 
streuung bewahrt  zu  werden.  Die  anderen  Bestände  von  La  Be- 
doyeres  Bibliothek,  eine  ausgezeichnete  Liebhaberbücherei  für  sich, 
kamen  1862  zur  Versteigerung. 

Die  Epoche  der  Restauration  führte  über  Kaiserreich  und  Re- 
volution zurück,  sie  sollte  das  ancien  regime  wieder  anerkennen, 
blieb  jedoch  nur  der  Anfang  einer  neuen  , bürgerlichen'  Epoche,  in 
der  die   Industrie   die  Umgestaltungen  des  Wirtschaftslebens  vor- 

164 


/ 


19.  JAHRHUNDERT 

nahm  und  war  auch  die  Epoche  einer  das  , Mittelalter'  neu  erdichten- 
den Romantik.  Ihren  Ausdruck  fanden  diese  beiden  Entwicklungs- 
richtungen im  Buchwesen.  Das  Buchgewerbe  kam  in  sein  Maschinen- 
zeitalter und  mit  ihm,  da  jetzt  seine  Ideale  Billigkeit^  Massenhaftig- 
keity  Schnelligkeit  hießen,  in  eine  Übergangszeit  des  Verfalls  der 
Buchschönheit.  Der  Geschmack  der  gotischen  Mode  und  der  keines- 
wegs schon  verlorene  Geschmack  des  klassischen  Stils  wirkten  dem 
Buchgeschmack  der  nächsten  Vergangenheit  ebenfalls  entgegen. 
Die  Bibliophilen  erfreuten  sich  an  den  pieces  gothiques  oder  ihren 
Faksimilierungen  und  fanden  in  den  Ecrivains  des  Grand  siecle 
die  Favoritautoren,  für  die  ebenso  die  Beziehungen  bibliographisch- 
literarhistorischer Richtung  wie  die  der  historisierend-nationalen  Ten- 
denzen gegeben  waren  und  die  gleichzeitig  den  französischen  Samm- 
lern als  die  Spitze  der  schönen  Wissenschaften  erschienen.  Es  war 
kein  Umweg,  den  die  Buchfreunde  machten,  wenn  sie  über  die  Bücher- 
straßen des  siebzehnten  Jahrhunderts  in  die  des  neunzehnten  zu- 
rückkehrten, die  edition  originale  nach  ihren  richtigen  Werten  als 
Sammlerstück  schätzen  lernten.  Die  Anwendung  der  Bezeichnung 
Editio  prinoeps  auf  die  Erstdrucke  antiker  Klassiker  und  das  Be- 
gehren dieser  Erstdrucke  durch  die  Sammler  hatte  eine  historische 
und  praktische  Tendenz  gehabt,  war  Bemühung  um  die  Antiquität 
und  den  authentischen  Kodexersatz  gewesen.  Als  dann  der  Rang 
einer  Wissenschaft  auch  von  der  Schrifttumsgeschichte  gewonnen 
wurde  —  entscheidende  Einflüsse  übten  hier  die  als  Romantik  be- 
zeichneten literarischen  Strömungen  —  als  die  Gesamtausgaben  der 
französischen  Klassiker,  sich  auf  die  Erstausgaben  aufbauend,  eine 
wissenschaftliche  Gestaltung  erfuhren,  entwickelte  sich  auch  der 
Begriff  der  edition  originale  mit  immer  stärker  werdender  Bestimmt- 
heit und  wurde  zum  bibliographischen  Wertmesser  der  Bibliophilie, 
die  damit  dem  Druckwerk  als  Schrifttumsträger  eine  selbständige 
Wertung  zuteil  werden  ließ,  die  ihre  Sammlungsverfahren  vervoll- 
kommnete, den  Bibliophilenbibliotheken  eine  wissenschaftliche 
Grundlage  gab.  Der  neue  Bibliothekenstil  war  gefunden,  er  beruhte 
auf  der  Erkenntnis,  daß  je  näher  ein  Druck  dem  Verfasser  eines 
Werkes  stand,  desto  mehr  sein  Wert  wuchs.    Sie  fand  Anwendung 

165 


FRANKREICH 

auch  auf  die  sonstigen  Bucheigenschaften,  auf  das  Verhältnis  eines 
Druckwerkes  zu  den  buchgewerblichen  Leistungen  seiner  Hersteller; 
auf  die  geschichtlichen  Überlieferungen,  die  für  eine  Ausgabe  vor- 
handen waren;  auf  die  Herkunft  eines  Abzuges  aus  bestimmtem 
Vorbesitz.  Kurz  und  gut,  es  war  eine  geschichtliche  Betrachtungs- 
weise gewonnen  worden,  die,  soweit  sie  sich  auch  in  Kleinigkeiten 
und  Nebensächlichkeiten  verlieren  konnte,  doch  die  Kuriosität  und 
die  Rarität  verdrängte  und  sich  allmählich  auf  allen  Sammlungs-* 
gebieten  bemerkbar  machte.  Einer  der  ersten,  der  nachdrücklich 
auf  die  edition  originale  verwies,  ist  Charles  Nodier  gewesen.  Wenn 
er  meinte,  daß  ihre  vorerst  noch  wenig  gesuchten  Reihen  bald  die 
Aufmerksamkeit  der  feinfühligsten  Sammler  auf  sich  lenken  würde; 
wenn  er  fragte,  wer  solche  Ehrentitel  des  französischen  literarischen 
Ruhmes  verschmähen  möchte,  Ausgaben,  deren  geringste  Lesarten 
den  Leuten  von  Geschmack  unschätzbar  sein  müßten,  da  dergleichen 
Varianten  die  bemerkenswertesten  Geheimnisse  des  künstlerischen 
Schaffens  enthüllten  und  die  Entwicklung  des  Genies,  wie  es  durch 
die  Erfahrungen  des  Lebens  geklärt  würde,  anzeigten,  so  bemerkte  er 
damit,  daß  in  eben  diesen  Varianten  eine  über  ihre  philologische 
Ausnutzung  für  die  Textkritik  hinausreichende  Bedeutung  zu  finden 
sei,  kam  er  aus  Psychologie  zu  einer  literaturwissenschaftlichen  Ein- 
schätzung der  edition  originale.  Das  war  ein  der  Entdeckung  des 
Buches  durch  die  Bibliophilie  des  Humanismus  zu  vergleichender 
Fortschriftt,  den  die  Bibliophilie  der  Romantik  gewann. 

Als  der  englische  Bibliograph  der  romantischen  Epoche  der 
Bibliophilie,  Th.  Fr.  Dibdin,  1821  die  Beschreibung  seiner  Bücher- 
reise durch  Deutschland  und  Frankreich  herausgab,  fanden  ihre 
französischen  Übersetzungen  manchen  Widerspruch.  Denn  der 
durchaus  nicht  überall  genaue  und  sachverständige  Reverend  hat 
über  viele  Dinge  in  einem  sehr  insularen  Tone  überheblich  abgeurteilt, 
die  keineswegs  so  waren,  wie  er  sie  gesehen  hatte.  Die  Buchfreunde 
im  Buchgewerbe  und  unter  den  Büchersammlern  ließen  es  an  ehr- 
lichem und  auch  schon  erfolgreichem  Willen  nicht  fehlen,  in  der 
Bibliophilie  Frankreichs  wieder  einen  bestimmten  Mittelpunkt 
seines  Buchwesens  zu  finden.    Vielleicht  war  der  sonst  französischer 

166 


19.  JAHKHUNDEBT 

Art  wenig  geläufige  Zug  einer  literarhistorischen  Internationalität 
in  der  Ausdehnung  der  Bücherwahl  nie  so  stark  hervorgetreten  wie 
in  den  zwanziger  bis  vierziger  Jahren  des  neunzehnten  Jahrhunderts. 
Zu  den  Männern,  die  auf  einen  solchen  Weitblick  stolz  sein  durften, 
gehörte  Charles  Emmanuel  Nodier  [1780—1844]*,  seit  1824 
Bibliothekar  und  später  Oberbibliothekar  der  Arsenalbibliothek. 
Ein  bibliophile  lettre,  der  die  richtigen  Worte  fand,  um  die  Biblio- 
philie  -  Romantik  zu  verteidigen.  Wenn  die  Bedeutung  Charles 
Nodiers  für  das  französische  Schrifttum  am  besten  dadurch  gekenn- 
zeichnet wird,  daß  man  ihn  einen  Vorläufer  und  Schutzherrn  der 
Romantik  nennt,  so  ist  ähnlich  auch  seine  Stellung  in  der  Biblio* 
philiegeschichte  zu  bestimmen.  Nicht  der  Nodier  ,de  l'Acad^mie 
fran^aise'  ist  es,  dem  sie  ein  ehrenvolles  Gedenken  widmet.  Es  ist 
der  Bücherforscher  Nodier,  der  seiner  Liebe  zu  den  Büchern  Worte 
leihen  konnte,  die  noch  immer  süß  in  den  Ohren  eines  jeden  wieder- 
klingen, der  diese  Liebe  teilt.  Aber  doch  auch  ein  Buchkundler,  der 
selbst  das  von  ihm  verlangte  und  verteidigte  für  die  Wissenschaft 
vom  Buche  noch  nicht  leistete. 

„Apres  le  plaisir  de  posseder  des  livres,  le  plaisir  d'en  parier'^ 
war  der  Bibliophilen- Wahlspruch  von  Charles  Nodier,  dessentwegen, 
denn  er  handelte  und  —  schrieb  nach  ihm,  Nodier  der  Katalog- 
Romantiker  heißen  sollte.  Die  Bibliographie,  die  für  Charles  Brunet 
das  Ergebnis  langer,  mühseliger  und  trockener  Untersuchungen 
wurde,  nahm  Nodier  leichter;  für  ihn  wurde  sie  ein  Gegenstand,  über 
den  sich  amüsant  und  scharmant  schreiben  ließ,  ohne  daß  gerade 
seine  Untersuchungen  immer  vorbildlich  gewesen  wären,  obschon 
ihm  böse  Zungen  nachredeten,  sie  hätten  wenigstens  den  Zweck  ge- 
habt, den  amateur-marchand  Nodier  zu  fördern.  Wie  dem  auch  sei, 
seine  bibliographischen  Dissertationen  und  Notizen  für  die  Biblio- 
philen  brachten  in  das  Sammeln  einen  neuen  Ton.  „Si  Nodier  n'avait 
pas  cree  la  Bibliophilie,  il  Tavait,  on  peut  le  dire,  invente.  II  Tavait 
presente  au  monde  et  lui  avait  delivre  son  etat-civil.  II  Tavait  si 
bien  invente  qu'il  en  etait  devenu  lui-meme  Tincarnation  et  le  type. 
On  ne  pouvait  lire  le  mot  ou  l'entendre  prononcer,  sans  imaginer 
aussitöt  ce  personnage  long  et  maigre,  un  peu  voute^  (ju'pn  avait 

*  Abb.  95  167 


FRANKREICH 

I 

tant  de  fois  renconträ  cheminant,  les  mains  derriere  le  dos,  sur  les 
quais  et  dans  les  rues,  et  langant  un  regard  oblique  vers  les  vitrines 
des  libraires,  ou  vers  les  etalages  des  bouquinistes.'^  [Charles  Asse-  > 

lineau.]  Das  Bibliophilenporträt  ließ  Nodier  in  seinen  Novellen  von 
allen  Seiten  sich  wiederspiegeln:  da  ist  Theodor,  der  abbe  Lowrich, 
der  reisende  Büchersammler,   Don  Pic  de  Fanferluccio  des  Roi  de  i 

Boheme.  Die  kleinen  Züge  zu  diesen  Bildnissen  trug  er  in  den  zahl- 
reichen Abhandlungen  und  Anmerkungen  nach,  die  er  dem  Buche 
und  den  Büchern  widmete.  Anregend  mit  heiterer  Vielseitigkeit 
auf  Vorbilder  und  Vorbildliches  weisend,  warb  er  für  Bücherlieb- 
haberei, ein  Missionar  des  guten  und  schönen  Buches  in  der  literarisch- 
mondänen Welt  von  Paris.  Ganz  gewiß,  er  hat  keinen  bibliographi- 
schen Kosmos  geschrieben  wie  der  ernsthafte  Brunet.  Was  Nodier 
deutlich  machte  und  womit  er  den  Geschmack  der  Romantik  aufs 
glücklichste  traf,  war,  daß  er  zeigte,  in  der  Bibliophilie  vereinige  sich 
künstlerisches  und  wissenschaftliches  Streben  zur  Bücherlust,  die 
Besonnenheit  des  Forschers  und  die  Leidenschaft  des  Liebhabers, 
je  nach  der  Persönlichkeit  der  Bibliophilentemperamente.  Buch- 
pflege sei  Geschmack  haben;  Bücher  kennen  und  lesen  sei  Klugheit, 
die  bis  zur  Weisheit  reiche;  die  Bücherei  ein  Vergnügen,  eine  Welt- 
anschauung und  ein  Werkzeug  sondergleichen.  Und  gerade  die 
Kleinigkeiten,  dieses  um  die  Bücher  herumsehen,  sei  nicht  wenig. 
Denn  es  komme  aus  der  Tradition  und  werde  zur  Tradition.  Das 
Ahnentum  der  Büchersammler,  das  sich  in  der  Entdeckung  des 
Provenienzexemplares  festigte,  führte  auf  die  Betrachtung  des  Biblio- 
philen als  einen  Kosmopoliten  aller  Zeiten  und  Zungen.  Oder  doch 
wenigstens  auf  den  Badaud,  der  ebenso  im  alten  Paris  zu  Hause  war 
wie  im  neuen  und  dann  und  wann  auch  die  Ausflüge  in  entferntere 
Bücherländer  nicht  scheute.  Die  Sprache,  das  Schrifttum,  das  Buch 
dessen  Träger,  und  die  Geschichte  der  Bücher  die  Geschichte  des 
Geistes  der  Menschheit,  oder  doch  mindestens  die  des  eigenen  Volkes ; 
auch  das  waren  die  Weiser  eines  von  Nodier  eingeschlagenen  Weges, 
der  zur  vergleichenden  Bücherkunde  mit  dem  Ziele  der  edition  ori- 
ginale wies.  Wobei  dann  auch  die  Beschäftigungen  mit  dem  Buche, 
bis  es  ganz  und  gar  fertig,  ein  Sammlerstück  war,  nicht  vergessen 

168 


19.  JAHRHUNDERT 

wurden.  Vom  Entdecken  der  Seltenheit  beim  Büchertrödler*  und  ihrer 
Durchforschung  zu  Hause  an  bis  zu  der  Fürsorge  des  Buchbinders 
und  Bücherwäschers,  ohne  die  kein  Einlaß  unter  die  Erlesenheiten 
eines  Schrankes  zu  finden  war,  der  nur  Bände  barg,  die  exemplaires 
d'amateur  hießen.  Damit  war  dann  der  Bibliophile  zum  Erneuerer 
eines  jeden  alten  Buches  geworden,  zum  Erneuerer  seiner  Gestalt 
und  seines  Wesens.  Begabung,  Liebe,  Wissen  machen  den  Biblio- 
philen aus,  das  war  die  Anschauung  Nodiers,  der  als  der  Entdecker 
eines  besonderen  Bibliophilentalentes  gelten  kann,  das  sich  in  der 
selbstschöpferischen  Tätigkeit  des  Buchfreundes  äußert,  als  welche 
nicht  bloß  die  Sammlung,  die  sich  jedes  einzelne  Sammlungsstück 
gewinnt.  Niemand  hatte  noch  so  fein  wie  Nodier  die  Einbandlieb- 
haberei zu  entschuldigen  und  zu  erklären  verstanden,  diese  Lieb- 
haberei, die  ebenso  in  der  Anerkennung  des  alten  Besitzes,  des  histo- 
rischen Einbandes,  wie  in  der  des  neuen,  des  zunächst  die  geschicht- 
lichen Erinnerungen  wieder  aufnehmenden  neuen  Einbandes,  kenn- 
zeichnend für  die  französischen  Bibliophilenbibliotheken  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  werden  sollte.  ,,Un  des  premiers  besoins  de 
Thomme  est  d'orner  ce  quil  aime.  Quand  son  coeur  s'ouvre  aux 
passions  de  la  vie,  il  prodigue  ä  sa  maitresse  les  fleurs  et  les  rubans ; 
quand  son  esprit  pergoit  des  jouissances  plus  durables,  il  regrette 
que  lemaroquin,  la  soie  et  l'or  nesoient  pas  assez  riches  pour  decorer 
les  chefs  d'oeuvres  de  ces  amis  immortels  que  l'intelligence  lui  a 
donnes"  hat  Nodier  einmal  die  Einbandfreuden  umschrieben.  Mit 
dem  Buchbinder  Thouvenin,  der  für  die  gotisierenden  Romantiker 
in  der  Verzierung  a  la  cathedrale  einen  freilich  mißverstandenen 
gotischen  Stil  erfand,  dessen  Künstlichkeit  sich  bald  überleben 
sollte,  war  Nodier,  ihn  anregend  und  fördernd  befreundet;  in  dem 
von  ihm  zusammen  mit  dem  Antiquar  Josephe  Techener  [1802 
—  1873]  1834  begründeten  ,Bulletin  du  Bibliophile*  schuf  er  den 
Büchersammlern  eine  eigene  Zeitschrift.  Die  Bedeutung  Nodiers 
des  Sammlers  entsprach  der  seiner  sich  für  das  Buch  und  dessen 
Freunde  einsetzenden  Tätigkeit,  seiner  Autorität  in  Buchdingen 
freilich  nicht.  Nacheinander  besaß  Nodier  drei  Büchereien,  die  nicht 
allzu  umfangreich  waren,  aber  nur  gewählte  Stücke  enthielten.    Und 

*  Abb.  99  169 


FBANKBEICH 

das  Museum  Nodier,  wie  der  Besitzvermerk  seiner  Bücherei  mit  einer 
hübschen  humanistischen  Wendung  sich  ausdrückte,  ist  auch  kaum  die 
Ausgestaltung  eines  methodisch-systematischen  Planes  gewesen,  erst 
die  Auktionskataloge  dieses  Klassikers  der  Anmerkung  machten  es  zu 
einer  von  persönlicher  Eigenheit  getragenen  Einheit.  Wie  er  es  denn 
auch  liebte,  Anmerkungen  in  den  Bänden  vorgesetzten  Blättern  fein^ 
sten  Chinapapieres  kalligraphisch  zu  notieren,  Anmerkungen,  die  bis- 
weilen mehr  blendend  als  richtig  waren.  Daran  mag  die  Selbsttäu- 
schung des  Enthusiasten  schuld  gewesen  sein.  Grämliche  Urteilerhaben 
deshalb  Nodier  den  Vorwurf  gemacht,  er  sei  ein  marchand-amateur, 
der  mit  den  Kunstfertigkeiten  des  Literaten  seiner  Buchware  einen 
guten  Markt  schaffe.  Aber  es  ist  doch  wohl  mehr  ein  äußerer  Zwang 
gewesen,  der  den  armen  Buchfreund,  gleich  seinem  Gesinnungsgenossen 
Viollet-le-Duc,*  zwang,  sich  von  seinen  Lieblingen  zu  trennen. 

Die  Ahnung  einer  Bücherdämmerung,  die  in  der  zweiten  Hälfte 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  den  Altbüchermarkt  und  die  Bücher- 
sammlungen veränderte,  ließ  Nodier  den  Amateur  de  livres  1842 
[in  dem  Curmerschen  Sammelwerke  ,Les  FranQais  peints  par  eux- 
memes']  zeichnen:  „Le  bibliophile  de  notre  epoque,  c'est  le  savant, 
le  litterateur,  l'artiste,  le  petit  propri6taire  ä  modiques  ressources 
ou  ä  fortune  congrue,  qui  se  desennuie  dans  le  commerce  des  livres 
peut-etre,  mais  innocent,  console  plus  ou  moins  de  la  faussete  de  nos 
autres  affections.  Mais  ce  n'est  pas  lui  qui  pourra  former  d'impor- 
tantes  coUections,  et  trop  heureux,  helas !  si  ses  yeux  mourants 
s'arretent  encore  un  moment  sur  la  sienne;  trop  heureux  s'il  laisse 
ce  faible  heritage  ä  ses  enfants !  J'en  connais  un  —  et  je  vous  dirais 
son  nom  si  je  voulais  —  qui  a  passe  cinquante  ans  de  sa  laborieuse 
existence  ä  se  composer  une  bibliotheque,  et  ä  vendre  sa  bibliotheque 
pour  vi  vre.  Voila  le  bibliophile!  et  je  vous  notifie  que  c'est  un  des 
derniers  de  l'espfece.  Aujourd'hui  l'amour  de  l'argent  a  prevalu: 
les  livres  ne  portent  point  d'interet."  In  der  Bibliophilie  eines  juste- 
milieu  war  die  Bibliophilie  der  französischen  Romantik  zu  Ende 
gegangen,  an  ihre  Stelle  trat,  im  aufgehenden  Glänze  der  großen 
Sammlungen  und  —  Versteigerungen,  entsprechend  der  biblio- 
graphischen Erklärung  der  Originalwerte,  eine  von  dem  Altbücher- 

170  *  Abb.  97 


19.  JAHRHUNDERT 

markt  ausgehende  Beeinflussung  des  Büchersammelwesens :  die 
Bücher  waren  in  den  hohen  Liebhaberwerten  auch  zu  kaufmännisch 
nachrechenbaren  Zahlen  geworden.  Auf  dem  Titel  des  Vademekums, 
das  für  die  französischen  Liebhaberbüchereien  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  durch  sein  bibliographisches  und  bibliophiles  System 
maßgebend  wurde,  so  daß  sein  Verfasser  der  geistige  Vater  der 
klassischen  Sammelrichtung  dieses  Jahrhunderts  zu  nennen  ist, 
steht  der  Buchhändler  vor  dem  Büchersammler. 

War  Charles  Nodier  der  Bannerträger  der  französischen  biblio- 
philen Romantik  gewesen,  dem  es  nicht  allzu  viel  darauf  ankam, 
große  Behauptungen  aus  kleinen  Irrtümern  zu  machen,  so  wurde 
der  ihm  gleichalterige  Jacques  Charles  Brunet  [1780—1867]* 
ein  bibliographischer  Gesetzgeber,  der  aus  dem  Überschwang  ge- 
fühlsmäßiger Begeisterung  die  Bibliophilen  zu  einer  methodischen 
Sammelsicherheit  weiterführte.  Ein  Bekenntnisbuch  hat  er  der 
französischen  Bibliophilie  seiner  Epoche  in  seinem  Hauptwerke,  dem 
, Manuel  du  Libraire  et  de  l'Amateur  de  Livres'  hinterlassen,  von  dem 
er  [in  einem  Briefe  vom  27.  April  1860  an  Baron  de  Reiffenberg,  den 
Herausgeber  des  ,Bulletin  du  Bibliophile  beige*]  mit  Recht  sagen 
durfte,  es  sei  ,un  livre  qui  depuis  cinquante  ans  n'a  cessede  jouirdela 
faveur  des  bibliophiles  et  de  l'estime  des  bibliographes".  Als  Biblio- 
graph  hatte  Brunet,  in  der  Buchhandlung  seines  Vaters  tätig,  schon 
durch  kleine  Probestücke  seine  ausgedehnte  Bücherkenntnis  ge- 
zeigt, als  er  1810  zum  erstenmal  in  drei  Bänden  sein  Handbuch  her- 
ausgab, dessen  stete  Verbesserung  bis  zu  der  1860  bis  1865  in  sechs 
Bänden  veröffentlichten  fünften  Auflage  seine  Lebensarbeit 
wurde.  Brunet  hatte  rasch  die  Reife  des  Urteils  gefunden,  um  die 
Fehler  seines  Vorbildes,  der  , Bibliographie  instructive*  [die  es  aber 
nach  einem  Bonmot  des  abb6  Rive  sehr  wenig  ist]  von  F.  G.  de 
Bure  [1732 — 1782]  zu  erkennen  und  zu  vermeiden.  Seine  Verdienste 
schmälert  es  nicht,  daß  nach  einem  Jahrhundert  sein  veraltendes 
Werk  allmählich  überholt  worden  ist.  Denn  sie  liegen  in  der  Begrün- 
dung einer  angewandten  Bücherkunde  im  Sinne  F.  A.  Eberts;  in 
der  Ausbildung  bibliographischer  exakter  Methoden,  die  für  immer 
die    allgemeinen    Behauptungen    durch    Einzeluntersuchungen    und 

*  Abb.  96  171 


FRANKREICH 

Feststellungen  der  bibliographischen  Tatsachen  ersetzten;  die  von 
dem  Einzelfall  ausgingen,  von  der  Autopsie  der  beschriebenen 
Exemplare  und  nicht  von  vorgefaßten  Meinungen.  De  Bure,  „le 
gros  Guillaume'',  hatte  sein  Nachschlagewerk  dem  Büchersammler 
Gaignat  gewidmet  und  dieser  hatte  die  Widmung  durch  eine  Pracht- 
kutsche mit  zwei  schönen  Pferden  vergolten.  Brunet  hat  seine  ent- 
sagungsvolle Arbeit  Bücher  sammelnd  sich  selbst  gelohnt,  indem  er 
deren  Ergebnisse  für  seine  kostbare  Liebhaberbücherei  verwertete. 
Ein  feines  Gefühl  für  das  Echte,  verbunden  mit  der  Sicherheit,  die 
Kenntnisse  verleihen,  machten  ihn  zum  Entdecker  malichen  neuen 
Sammlergutes.  Er  fand  geschätzte  Provenienzen,  er  erklärte  die 
Gründe  für  die  Einschätzung  der  editions  originales  [die  er  in  die 
vierte  Auflage  seines  Manuel  aufnahm].  Derart  gelang  es  ihm,  mit 
verhältnismäßig  bescheidenen  Mitteln  sich  eine  Privatbibliothek  zu 
erwerben,  deren  Versteigerung  im  Jahre  1868  ein  Aufsehen  erregen- 
des Ereignis  wurde. 

Am  1.  Januar  1820  wurde  die  Societä  des  Bibliophiles 
FranQois  von  acht  bekannten  Buchfreunden,  den  Herren  Marquis 
de  Chäteaugiron,  de  Pixerecourt,  Baron  Walkenaer,  de 
Malartie  , Durand  de  Langon,  Berard,  Vicomte  de  Morel 
de  Vinde,  Comte  Edouard  de  Chabrol  gegründet.  Von 
Anfang  an  war  Rene-Charles  Guilbert  de  Pixerecourt  [1772 
—  1844]*,  der  Shakespeare  der  Vorstadtbühnen,  ein  beliebter  Theater- 
dichter und  Theaterleiter,  die  Seele  dieser  ersten  französischen 
Büchersammlergesellschaft  gewesen,  bis  Krankheit  —  er  erblindete 
am  Ende  seines  Lebens  —  und  mißliche  Vermögensverhältnisse  ihn 
aus  der  Bücherwelt  sich  zurückziehen  ließen.  Seine  Bücherei  mußte 
er  im  Januar  1839  von  dem  Buchhändler  J.  Crozet,  dem  Schwager 
Techeners,  versteigern  lassen.  Die  Auktion,  die  erste  von  Crozet 
geleitete,  brachte  die  damals  noch  hoch  scheinende  Summe  von 
82000  Francs.  [Einschließlich  einiger  unter  der  Hand  verkaufter 
besonders  wertvoller  Werke.]  Damals  erwarb  die  in  einhundert 
Cartonniers  eingeordnete  CoUection  revolutionnaire,  eine  Flug- 
schriftensammlung ersten  Ranges,  die  Bibliotheque  de  la  Chambre 
des  Pairs  [die  spätere  Bibliotheque  du  Senat]  für  5000  Francs,  wäh- 

172  *  Abb.  94 


19.  JAHRHUNDERT 

rend  die  Bibliotheque  du  Louvre  eine  Reihe  von  400  in  der  Revo- 
lutionsepoche erschienenen  Theaterstücken  kaufte,  die  mit  ihr  ver- 
nichtet worden  ist.  Manche  Bibliophilenmode  hatte  Pixerecourt 
ihre  beispielgebende  Erneuerung  und  Umbildung  zu  verdanken;  er 
war  der  erste  Biblio-Autograpophile,  der  Drucke  durch  eingefügte 
Handschriften  ihrer  Verfasser  und  sonstige  Urkunden  dokumentierte, 
eine  seitdem  in  Frankreich  beliebt  gebliebene  Übung,  Bücher  aus- 
zustatten. Bei  ihrer  Begründung  und  im  ersten  Vierteljahrhundert 
ihres  Bestehens  war  die  Societe  des  Bibliophiles  Frangois  von  keinem 
allzu  erheblichen  Einfluß  auf  die  Bibliophilie  in  Paris  gewesen;  erst 
als  der  Baron  Pichon  an  ihre  Spitze  trat,  erlangte  sie  als  die  Ver- 
einigung der  führenden  Pariser  Sammler  eine  lange  unbestrittene 
Vorrangstellung. 

Baron  Jerome  Pichon  [1812-1896]*,  der  schon  1846  die 
kaum  begonnene  amtliche  Laufbahn  verließ,  war  einer  jener  ge- 
borenen Bibliophilen,  in  denen  die  Bücherliebe  und  die  Sammel- 
leidenschaft von  Jugend  an  mächtig  und  mitbestimmend  für  ihre 
Lebensgestaltung  wurden.  Aber  auch  ein  Mann,  der  durch  ernst- 
hafte Forschungen  seine  Liebhabereien  zu  umgrenzen  verstand; 
eine  Persönlichkeit  von  vornehmen  ausgeglichenen  Wesen,  die  im 
Bannkreise  der  Bücher  und  der  Wissenschaft  vom  Buche  nicht  die 
Verbindung  mit  den  anderen  Dingen  dieser  Welt  verlor.  Ein  ver- 
hältnismäßiger Wohlstand  erlaubte  es  ihm,  seine  Neigungen  zu 
pflegen.  Immerhin  war  er  nicht  reich  genug,  um  überall  den  Wett- 
bewerb mit  den  den  Altbüchermarkt  beherrschenden  reichen  Händ- 
lern und  Sammlern  aufnehmen  zu  können,  deren  Beweise  für  einen 
Liebhaberwert  die  runden  Summen  waren,  die  sie  mühelos  zahlten. 
Da  Baron  Pichon  allein  mit  seiner  Brieftasche  den  Bücherschatz, 
den  er  sich  zu  eigen  machen  wollte,  nicht  gewinnen  konnte,  ersetzte 
er  diesen  Mangel  durch  andere  ihn  ausgleichende  Vorzüge:  durch 
Geist  und  Geschmack,  durch  Kenntnisse  und  Sammlerfleiß.  Damit 
allmählich  zu  einem  Amateur  heranreifend,  dessen  Beispiel  deutlich 
zeigte,  daß  die  Bibliophilie,  die  edle  Bücherlust,  zur  Aneignung  einer 
Büchersammlung  und  nicht  zu  deren  Zusammenkaufen  führen  muß. 
Von  seinem  Bibliophilentemperament  zeugt  ein  Brief,  den  der  Greis 

*Abb.  loo  173 


FRANKREICH 

im  Dezember  1892  an  Georges  Vicaire  schrieb,  einen  raschen  Rück- 
blick auf  die  Anfänge  seiner  Bücherliebhaberei  werfend:  „Depuis 
ma  plus  tendre  jeunesse  j'ai  aime,  adore  les  livres,  et,  comme  tout 
homme  qui  aime,  j'ai  tout  aime  d'eux,  le  fond  et  la  forme.  Plus  tard, 
j'ai  appris  a  apprecier  leur  reliure  et  leur  provenance.  Quel  charme 
de  tenir  dans  ses  mains  un  livre  elegamment  imprime,  revetu  d'une 
reliure  contemporaine  de  son  apparition,  donnant  la  preuve  par  un 
signe  quelquonque,  qu'il  a  appartenu  ä  un  personnage  illustre  ou 
sympathique,  et  de  penser  qu'en  touchant  ce  volume  qu'il  a  touche, 
lu,  aime,  on  entre  avec  lui  dans  une  mysterieuse  communion.  La 
premiere  fois  que  j'ai  connu  l'emotion  des  encheres,  c*est  ä  la  vente 
de  La  Mesangere,  en  1831.  Tallais  atteindre  mes  dix-neuf  ans; 
j'achetai  Ik  pour  20  francs  un  süperbe  exemplaire  des  ,Heures  de 
Ma?on*,  de  Simon  Vostre.  Ce  n'etait  pas  trop  mal  debuter.  Alors  et 
quelques  ann^es  plus  tard,  le  goüt  et  le  marche  des  livres  etaient 
fort  diff6rents  de  ce  qu'ils  ont  ete  depuis.  II  n'y  avait  que  peu  de 
gens  riches  s'occupant  activement  de  livres;  je  citerai  parmi  eux 
M.  B6rard,  le  duc  de  Foix,  M.  de  Soleinne,  MM.  Coste  et  Yemeniz, 
a  Lyon.  Le  duc  de  Rivoli  et  M.  Cicongne  paraissaient  un  peu  plus 
tard  et  avec  quel  eclat !  Le  reste  des  acheteurs  se  composait  de  petits 
amateurs  ou  de  quelques  chätelains  de  province  consacrant  seule- 
ment  une  faible  partie  de  leur  revenu  aux  livres.  M.  Leber  suivait 
assidüment  les  ventes  et  faisait  la  patiemment  son  admirable  coUection 
en  depensant  relativement  fort  peu.  Je  fus  traite  de  fou  lorsqu'a 
la  vente  Pixerecourt  je  payai  500  francs  la  ,Bible*  de  Vitre,  de 
Longepierre  [depuis  M.  de  Sauvage  Ta  achet^e  15000  francs]  et  ce 
fut  au  milieu  des  eclats  de  rire  de  la  salle  Silvestre  [je  ne  dis  la  que 
l'exacte  verite]  que  me  fut  adjuge,  ä  95  francs,  le  delicieux  ,Petrone' 
d'Hoym,  de  1677  .  .  .  Tout  ce  que  je  recevais  de  mes  parents,  sauf 
ce  qüi  m'etait  n^cessaire  pour  mon  entretien,  passait  en  livres; 
mais  je  devenais  plus  avide  ä  mesure  que  ma  bibliotheque  devenait 
plus  riebe.  MM.  Debure  s'^taient  mis  ä  ma  disposition  pour  mes 
acquisitions  k  la  vente  Richard  Heber.  Ils  me  laissaient  toute  la 
latitude  possible  et  jamais  je  n'oublierai  les  bons  procedes  de  ces 
excellents  amis  non  plus  que  ceux  de  Joseph  Techener  pere,  qui 

174 


19.  JAHRHUNDERT 

lorsque  ma  bourse  ätait  vide,  attendait  patiemment  qu'elle  füt  re- 
venue  a  un  etat  plus  satisfaisant.  II  arriva  cependant  que  depassai 
les  limites  de  mon  credit.  Pour  acheter  une  ,Bible*  in-folio,  aux 
armes  d*Hoym,  j*avais,  pour  la  premiere  et  unique  fois  de  ma  vie, 
mis  ma  montre  et  sa  chatne  au  Mont-de-piete.  Je  devais  6000  francs 
presque  exclusivement  aux  libraires;  il  fallut  Tavouer  k  mon  p^re. 
Je  le  fis  en  tremblant  qu'il  ne  me  forgät  ä  vendre  mes  chers  livres; 
mais  si  mon  pere  etait  severe,  il  avait  trop  d'esprit  et  bon  sens  pour 
ne  pas  apprecier  les  motifs  de  ma  gene  et  il  paya  sans  m'imposer 
aueun  sacrifice,  en  disant  qu'il  etait  toujours  fächeux  de  faire  des 
dettes,  mais  que  la  nature  des  miennes  me  faisait  honneur.  Puis 
j'eus  plus  d'argent,  je  me  mariai,  je  devins  pire;  mais  Tamour  des 
livres  resta  le  mSme  et  se  doubla  de  l'amour  des  curiosit6s,  des 
medailles,  de  Targenterie,  etc.  I'achetai  ma  maison  du  quai  d'Anjou, 
je  pourrai  dire  ä  la  risee  presque  universelle  comme  pour  le  ,Petrone\ 
Pouvait-on  aller  demeurer  k  l'Ile  Saint-Louis!  Et  comment  meubler 
une  pareille  maison !  Mais  je  laissai  dire  et  je  poursuivis  mon  chemin. 
On  vient  chez  moi  par  curiosite,  puis  on  trouva  qu'apres  tout  on 
pouvait  vivre  k  l'Ile  Saint-Louis,  puis  apres  m'avoir  blämä,  on  me 
loua,  on  me  vanta  et  .  .  .  il  y  a  43  ans  que  j'y  suis.*' 

Der  Ankauf  eines  Baudenkmals,  der  den  mondänen  Parisern  selt- 
sam schien,  bewährte  Pichon  den  Sammler.  Denn  dieses  1657  er- 
baute sogenannte  Hdtel  Pimodan,  dessen  bekanntester  Besitzer  [seit 
1682]  der  Duc  de  Lauzun  gewesen  ist,  war  eine  Wohnung,  die  sich 
besser  gar  nicht  ein  Buch-  und  Kunstfreund  wünschen  durfte,  dessen 
Leitspruch:  ,Memor  fui  dierum  antiquorum'  hieß.  Der  Sammler 
Pichon  hatte  das  Haus  gekauft,  das  ebenso  mit  den  überlieferten 
Erinnerungen  der  Vergangenheit  wie  mit  den  ihm  noch  verbliebenen, 
der  Fassade,  dem  Innenhof,  den  Holzschnitzereien  und  Wand- 
gemälden, selbst  ein  Sammlerstück  war.  Und  der  Sammler  Pichon 
hat  es  eingerichtet.  Die  alterhaltene  Innenausstattung  gab  den 
Rahmen  der  Sammlungen,  die  für  ein  Halbjahrhundert  hier  vereint 
werden  sollten  und  die  auch  die  Räume  der  Pariser  Akademie  der 
Bibliophilen  in  dieser  Zeit  gewesen  sind.  Baron  J.  Pichon,  der  1843 
als  Mitglied  der  Soci^te  des  Bibliophiles  frangois  aufgenommen  war, 

175 


FRANKREICH 

wurde  1844  ihr  Präsident  und  blieb  es  bis  1894;  von  da  an  bis  zu 
seinem  Tode  ihr  Ehrenpräsident.  Der  Aufschwung,  die  Blüte  und 
die  Leistungen  der  Societe  des  Bibliophiles  frangois  sind  vorwiegend 
auf  seine  Leitung  zurückzuführen,  in  ihr  gestaltete  er  einen  äußeren 
Mittelpunkt  derjenigen  Bestrebungen,  die  die  ihm  gesinnungs- 
verwandten Buchfreunde  und  Büchersammler  verbanden.  Das 
Pariser  Bibliophilenleben  in  der  Zeit  des  Baron  Pichon,  der  der 
Herrschaft  der  Brunet-Schule,  war  anregend  und  eigenartig.  Es 
gab  Leute,  die  das  Sammeln  als  eine  Art  Beruf  übten,  jeden  Tag  und 
überall  konnte  man  noch  Kostbarkeiten  unter  Trödelwaren  auf- 
stöbern. Baron  Pichon  hat  eine  der  merkwürdigsten  Epochen  der 
französischen  Bibliophiliegeschichte  durchlebt;  ihre  Anfänge,  ihre 
Höhepunkte  und  ihren  Ausgang  kennen  gelernt.  Als  er  jung  war^ 
suchte  man  die  aus  den  Wirrnissen  der  Revolution  und  der  Na- 
poleonischen Kriege  geretteten  Bibliothekentrümmer  zusammen; 
der  im  Mannesalter  stehende  nahm  teil  an  der  Auflösung  der  derart 
entstandenen  Liebhaberbüchereien  in  berühmten  Versteigerungen 
und  mußte  selbst  durch  eine  solche  wertvolle  Teile  der  eigenen 
Sammlung  zerstreuen  lassen;  der  Greis  war  ein  emeritierter  Biblio- 
phile, einer  der  letzten  Hüter  der  alten  Mode  und  die  Nachlaß- 
versteigerungen, dis  seinen  Namen  trugen,  waren  am  Ende  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  eines  der  letzten  , Ereignisse*  des  Pariser 
Altbüchermarktes. 

Die  ,curiosite',  die  Mannigfaltigkeit  der  Sammlerneigungen,  die 
sich  dem  alten,  dem  schönen,  dem  seltenen  zuwendeten,  ließ  den 
Baron  Pichon  noch  andere  Sammlungsgebiete  bestellen;  den  Büchern 
gesellte  er  Griffelkunstblätter  und  Handschriften,  Kleinkunstwerke, 
Münzen,  Porzellane,  Silberarbeiten,  ein  buntes  Durcheinander  von 
Cimelien  und  Studienobjekten,  die  er  systematisch  vereinte.  Die 
Eigenart  seines  Sammlertums,  die  einen  sehr  erheblichen  Einfluß 
auf  das  seitdem  üblicher  werdende  Verfahren  übte,  Sammlerstücke  von 
geschichtlichem  Wert  zu  beschreiben  und  zu  bestimmen,  zeigte  sich 
darin,  daß  er  die  Urkundentreue  den  Vermutungen  vorzog.  Er  be- 
herrschte die  alten  Inventare,  Korrespondenzen,  Memoiren  und  die 
ihnen  verwandten  Hilfsmittel,  die  es  ihm  erlaubten,  die  Geschichte 

176 


19.  JAHRHUNDERT 

eines  kostbaren  Sammlerstückes  zu  schreiben;  seine  Vergangenheit 
mit  Sicherheit  aufzuklären;  durch  persönliche  Zuweisungen  es  ein 
Dokument  aus  einem  Monument  werden  zu  lassen,  das  frühere  und 
gegenwärtige  Besitzer  zusammenschloß.  Damit  gab  er  der  , Pro- 
venienz*, deren  Reize  sein  Brief  an  Vicaire  schilderte,  einen  weiteren 
wissenschaftlichen  Sinn,  zu  ähnlichen  Untersuchungen  Anregung  und 
Beispiel.  Selbst  aber  gewann  er  mit  derartigen  Feststellungen  ano- 
nymer Stücke  häufig  ein  von  anderen  verschmähtes  Wertstück  und 
diese  Bereicherungen  seines  Besitzes  kamen  dann  wieder  der  For- 
schung zugute.  Hierin,  und  gerade  hierin,  lag  die  Bedeutung  einer 
Sammeltätigkeit,  die  bleibend  weiterwirkte,  obschon  ihre  eigentlichen 
Ergebnisse  längst  in  den  Pichon -Versteigerungen  wieder  zerstreut 
worden  sind;  hierin  das  vorbildliche  dieses  Bibliophilen  für  die 
Bibliophilie:  nicht  mit  dem  Haben  von  Büchern  zufrieden  zu  sein, 
sondern  erst  mit  dem  Kennen;  mit  dem  Kennen  des  sich  dem  Leser 
erschließenden  Werkes,  das  ist  selbstverständlich.  Aber  darüber  noch 
hinaus  mit  dem  Kennen  der  Ausgabe,  des  Exemplars  aus  einer  ge- 
schichtlichen Betrachtungsweise  heraus. 

Aus  der  Einschätzung  des  Sammlerstückes  ohne  Fehl  und  Tadel; 
des  Exemplares  in  bester  Erhaltung  und  womöglich  in  einem  reich 
verzierten  Einbände  eines  berühmten  Buchbinders  seiner  Ur- 
sprungszeit, bildeten  sich  die  Anschauungen  über  das  Provenienz- 
exemplar, die  für  die  französische  Bibliophilie  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  kennzeichnend  wurden.  Eine  Vereinigung  vieler  Vor- 
züge ausgesuchter  Bücher  in  ausgewählten  Abzügen,  in  besonderer 
Ausstattung  fand  man  immer  wieder  bei  den  Bänden  einiger  alten 
Bibliotheken.  So  kamen  die  Namen  der  Grolier,  Thou,  Longepierre 
und  anderer  zu  einem  erneuerten  Ansehen,  das  sie  aus  der  Ver- 
gessenheit wieder  aufleben  ließ.  Gelehrte  Untersuchungen  verfolgten 
die  einmal  aufgefundenen  Spuren  weiter,  verflochten  die  Biblio- 
philentraditionen  der  Gegenwart  von  neuem  eng  mit  der  Ver- 
gangenheit. In  diese  reichten,  durch  ihre  historischen  und  politi- 
schen Anschauungen,  auch  viele  der  tonangebenden  Sammler  zurück. 
Bei  ihnen  verband  sich  der  Buchkultus,  die  Genealogie  der  illustre 
provenance,  häufig  mit  der  betonten  Verehrung  des  ancien  regime. 

BOGENO    12  177 


FRANKREICH 

Die  Blüte  der  Einbandkunst  in  der  Regierungszeit  des  Hauses 
Valois  gab  solchen  familiengeschichtlichen  und  kunstgeschichtlichen 
Überzeugungen,  zu  denen  sich  bald  auch  diejenigen  Sammler  be- 
kannten,  denen  die  Nachahmung  dieses  feinen  Tones  gefiel,  einen 
festen  Stützpunkt.  Von  den  Anfängen  kam  man  rasch  vorwärts. 
Bibliophilen  waren  die  Könige  des  Hauses  Bourbon  nicht  gewesen. 
Aber  doch  Könige.  Aus  den  Blättern  der  exemplaires  de  provenance 
ihrer  Jahrhunderte  wehte  die  Hofluft  von  Versailles.  Man  meinte 
sich  den  anmutigen  femmes  bibliophiles  selbst  gegenüber  zu  sehen, 
wenn  man  einen  Band  zur  Hand  nahm,  der  ihr  Bibliothekssignet 
trug.  Und  die  Bibliophilie  blieb  nicht  ohne  einen  gewissen  polemisch- 
politischen Reliquienkult,  wenn  man  etwa  einen  Band  aus  den  Biblio- 
theken Marie  Antoinettes  mit  seinem  Goldgewichte  aufwog,  den  die 
Königin  selbst  vielleicht  nie  betrachtet  hatte,  der  ein  Buch  ohne 
sonstige  Vorzüge  umschloß.  Illusionen,  denen  ein  sentimentales 
Interesse  zugrunde  lag.  Indessen,  Illusionen,  die  nicht  an  Biblio- 
philen zu  tadeln  sind,  die  in  der  Phantasie  das  glücklichste  Mittel 
sahen  zur  Belebung  einer  bibliographischen  Datendürre;  zur  Er- 
heiterung trockener  Wissenschaftliohkeit.* 

Um  1850  war  das  Büchersammeln  in  Paris  eine  noble  Passion 
gleich  anderen  noblen  Passionen,  die  ein  reicher  und  vornehmer 
Weltmann  haben  konnte.  Der  Amateur,  der  sich  als  Bibliophile  aus- 
zuzeichnen wünschte,  durfte  und  mußte  Ansprüche  an  das  Buch 
stellen,  das  in  die  Reihen  seiner  Sammlung  treten  sollte.  Die  ele- 
gante Beschäftigung  des  Bücherkaufens  verlangte  eine  Tagesein- 
teilung, durch  die  man  sich  im  engeren  Kreise  immer  wieder  zu- 
sammenfand. Geld  und  Zeit  waren  für  den  Bibliophilen  von  Rang 
und  Ruf  eine  selbstverständliche  Voraussetzung.  Es  war  ein  edler 
Sport,  den  man,  alle  seine  kleinen  Konvenienzen  beachtend  und  nuan- 
cierend, trieb,  ohne  daß  bereits  die  geschäftliche  Nüchternheit,  die 
Macht  der  runden  Summen  endgültig  entscheidenden  Einfluß  ge- 
wonnen hatte.  Noch  gab  es  begehrenswerte  Stücke  in  reicher  Zahl, 
noch  brauchte  man  die  Phantasie  im  Sammlerleben  nicht  zu  ent- 
behren. Damals  fanden  die  Versteigerungen  des  Abends  in  der 
salle  Silvestre  der  rue  des  Bons-Enfants  statt.    Hier  saßen  in  den 

178  *  Abb.  49,  50,  51»  84,98 


19.  JAHRHUNDERT 

ersten  Reihen  die  führenden  Sammler,  die  Majores,  wie  man  sie 
nannte,  als  seit  1852  die  Ereignisse  des  auf  dem  französischen  Alt- 
büchermarkt Epoche  machenden  Auktionen  sich  rasch  folgten:  der 
Comte  de  Ligner  oll  es,  den  von  ihm  beauftragten,  für  ihn  bieten- 
den Buchhändler  durch  unmerkliche  Zeichen  Weisungen  gebend; 
G.  de  Villeneuve,  das  Monokel  im  Auge,  gelassen  ein  erlesenes 
Sammlerstück  erwartend,  das  er  suchte;  der  Marquis  de  Ganay, 
dessen  Geschmack  die  historischen  Wappenbände  waren;  der 
Comte  de  la  Beraudiere,  ein  gefürchteter  Kenner;  der  Baron 
de  Lacarelle  höflich,  kalt,  auch  er  ein  Kenner;  Marcelin  de 
Fresne  und  Baron  Roger  Portalis,  beide  eben  in  den  An- 
fängen ihres  Sammeins.  Andere  bekanntere  Pariser  Bibliophilen 
dieser  Jahrzehnte,  Baron  Pichon,  Comte  de  Lurde,  abbe 
Bossuet,  Comte  Octave  de  Behague,  Baron  L.  Double, 
Edouard  Bocher,  Ambroise-Firmin  Didot,  Lebeuf  de 
Montgermont,  Eugene  Dutuit  aus  Ronen,  Ernest  Odiot, 
Baron  James  de  Rothschild  erschienen  meist  nicht  selbst 
auf  dem  Schauplatz  ihrer  Siege,  sondern  ließen  sich  vertreten. 
Für  sie  traten  die  fashionablen  Altbuchhändler  ein,  die  La  bitte, 
France,  Claudin,  Durand  jeune,  die  beiden  Tross,  Saint- 
Denis,  Mallet,  Aubry,  Bachelin-Deflorenne,  Gouin, 
Baillieu,  Rouquette,  Caen,  Pillet,  Henaux,  Porquet, 
Miard,  Techener,  Fontaine.  Als  Expert  leitete  Potier  die 
Versteigerungen  des  zweiten  Kaiserreiches,  die  vor  diesem  Parkett 
stattfanden.  Es  waren  die  Ventes  de  Bure,*  Renouard,  Giraud, 
Comte  de  la  B6doyere,  Prince  Radzi will,  van  der  Helle,  denen 
von  1861  bis  1870,  in  dem  jetzt  mondäner  werdenden  Hotel  Drouot* 
die  Ventes  Baron  Double,  Yemeniz,  Brunet,  Baron  Pichon, 
und  des  Buchhändlers  Potier  sich  anschlössen,  die  die  neuen  auf- 
schnellenden Preise,  den  neuen  Sammlergeschmack  festigten.  Die 
Buchbinder  in  der  Mode,  vor  allen  Trautz,*  den  1869  das  Kreuz 
der  Ehrenlegion  auszeichnete,  bewiesen  Geschicklichkeit  und  Ge- 
schmack in  der  Herstellung  ihrer  kostspieligen  Liebhabereinbände, 
deren  Verzierungen  die  Einbandmuster  früherer  Jahrhunderte 
wiederholten.    Die  Kriegsjahre  1870  und  1871  hatten  Bücherpreise 

12»  *  Abb.  88,  115,  116,  117  179 


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FRANKREICH 

und  Sammlerbegeisterung  nicht  hemmen  können.  Von  1875  bis 
1882  stieg  das  Buch  der  alten  Bibliophilenschule  immer  mehr  im 
Preise.  Dann  trat  ein  Rückschlag  ein.  Teils  waren  die  großen 
Sammler  unter  seinen  Verehrern  mit  der  Ausgestaltung  ihrer 
Büchereien  nahezu  zum  Ziel  gekommen,  teils  ließen  sich  diesen  gleich- 
wertige neue  Büchereien  auch  mit  höchstem  Aufwände  nicht  mehr 
schaffen.  Die  besten  Sammlerstücke  waren  in  festen  Händen;  wer 
jetzt  wieder  bei  der  nächsten  Gelegenheit  um  sie  werben  wollte, 
durfte  kein  Gebot  mehr  scheuen.  Das  hatte  manchen  jungen  Samm- 
ler schon  von  den  noch  bevorzugten  Sammelgebieten  ferngehalten. 
Aber  auch  die  Gesinnungen  und  Richtungen  des  Sammelwesens 
hatten  sich  verändert;  waren  vom  toten  Buche,  von  der  biblio- 
graphisch-historischen Reliquie  bis  zum  lebenskräftigen  neuen  ge- 
langt. 

Die  beweisende  Zahl,  daß  die  Bücherliebhaberei  und  die  Lieb- 
haberbüchereien in  Frankreich  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
wieder  auf  die  Höhe  des  achtzehnten  Jahrhunderts  angelangt  waren, 
lieferte  1867  die  Vente  Yemeniz.  N.  Yemeniz,  ein  in  Konstanti- 
nopel geborener  Grieche,  der  1799  nach  Lyon  gekommen  und  hier 
ein  erfolgreicher  Seidenindustrieller  geworden  war,  hatte  seit  etwa 
1800  gesammelt;  dabei  seine  bibliographisch-literarischen  Studien, 
deren  Ergebnisse  er  in  einor  Anzahl  von  ihm  geleiteter  oder  heraus- 
gegebener Veröffentlichungen  vorlegte,  nicht  vernachlässigend. 
Seine  Absicht  war  nicht  auf  eine  Auswahl  von  Schaustücken  ge- 
richtet geblieben,  so  ^viele  Kostbarkeiten  und  Seltenheiten  er  auch 
in  seinen  Schränken  vereinen  konnte.  Er  bemühte  sich,  eine  ab- 
gerundete Büchersammlung  zusammenzubringen;  in  Anpassung  an 
das  von  Brunet  aufgestellte  Bibliothekssystem,  das  wenigstens  den 
äußerlich  gleichbleibenden  Rahmen  für  die  Kataloge  französischer 
Privatbibliotheken  schuf,  indem  sich  bequem  größere. und  kleinere 
Büchermassen  verteilen  ließen;  ein  Vorzug,  der  diesen  Bibliotheken 
heute  noch  auch  eine  gewisse  innere  Verwandtschaft  gibt.  Tief  er- 
schüttert von  dem  [1860  erfolgten]  Tode  seiner  Frau  verlor  Yemeniz 
alle  Bücherlust,  er  schloß  sein  Bücherzimmer,  um  es  fortan  zu  meiden, 
und  hatte  schon  lange  von  seinen  Büchern  Abschied  genommen, 

180 


19.  JAHRHUNDERT 

als  er  sich  endgültig  von  ihnen  trennte.  Das  Ergebnis  der  Bücherei- 
versteigerung Yemeniz,  725000  Francs,  ist  erst  zehn  Jahre  später 
von  dem  Gesamterlöse  der  Ventes  Didot  übertroffen  worden. 

Der  Familie  Didot,  die  sich  seit  1713,  in  welchem  Jahre  der 
spätere  Verleger  des  Abbe  Prevost,  Frangois  Didot  [1689—1759], 
in  die  Gilde  der  Pariser  Buchhändler  aufgenommen  wurde,  um  die 
Förderung  des  französischen  Buchhandels  und  der  Buchdruckerkunst 
die  vielfachsten  Verdienste  erwarb,  gehören  zwei  berühmte  Biblio- 
philen an.  Pierre  Didot  [1764 — 1836],  der  sich  um  die  Ver- 
besserung der  Stereotypie  mit  Erfolg  bemühte  und  damit  für  die 
Herstellung  guter,  billiger  Bücher  ein  wichtiges  Hilfsmittel  gab, 
hat  eine  schöne  Liebhaberbücherei  besessen,  deren  Grundstock  die 
von  ihm  en  bloc  erworbene  Büchersammlung  Naigeons  bildete, 
und  die  er  bis  1810  vermehrte,  dann  aber  auflöste,  da  ihm  seine  ge- 
schäftliche Tätigkeit  ihre  Nutzung  nicht  erlaubte.  Die  bedeutendste 
Büchersammlung  aber,  die  jemals  ein  Mitglied  der  Familie  Didot 
gesammelt  hat,  war  die  vonAmbroise-Firmin  Didot  [1790—1877],* 
der  in  einer  großen  Anzahl  von  wissenschaftlichen  Werken  seine 
gelehrte  Bildung  bewies  und,  unterstützt  von  seinem  Bibliothekar 
Pawlowski  und  reichen  Mitteln,  einen  überreichen  Bücherschatz 
erwarb,  der  von  1878  bis  1884  versteigert  worden  ist.  Freilich 
scheint  Ambroise- Firmin  Didot  nicht  die  gleiche  persönliche  Teil- 
nahme für  seine  Bücher  gehabt  zu  haben,  die  ein  anderer  Bücher- 
freund seines  Kreises,  dem  gleich  ihm  nicht  materielle  Hindernisse 
die  Verwirklichung  seiner  bibliophilen  Träume  versagten,  zeigte, 
der  Duc  d'Aumale. 

Doch  sahen  die  Buchfreunde  Frankreichs,  unter  denen  viele 
Royalisten  nicht  nur  der  bibliophilen,  sondern  auch  der  politischen 
Gesinnung  nach  waren,  in  dem  Herzog  mehr  noch  als  den  Besitzer 
einer  berühmten  Liebhaberbücherei,  wenn  sie  ihn  den  ersten  der 
ihren  nannten.  In  seiner  liebenswürdigen  Persönlichkeit  verkörperte 
sich  eine  historische  Tradition,  die  der  gegen  ihn  geführte  Kampf 
der  Machthaber  noch  mehr  verstärken  mußte.  Henri-Eugene- 
Philippe-Louis  d'Orleans,  duc  d'Aumale  [1822-1897]*  von 
1839  bis  1848  im  französischen  Heeresdienste,  meist  in  Nordafrika, 

*.Abb.  loi,  I02  181 


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FRANKREICH 

von  1848  bis  1870  in  England  im  Exil,  dann  seit  1871  in  Frankreich, 
mit  einer  nochmaligen  Exilierung  von  1866  bis  1889,  hatte  auf  dem 
englischen  Landsitze  seiner  Familie,  Twickenham,  lebend,  die  ihm 
auferlegte  Muße  dazu  benutzt,  sich  in  an  die  Überlieferungen  seines 
Hauses  anknüpfende  geschichtliche  Untersuchungen  zu  vertiefen 
und  seine  ähnlich  historisierend  orientierten  Sammlungen  zu  ver- 
mehren. Unter  diesen  stand  ihm  die  Bibliothek  am  nächsten,  der 
er  1861  mit  dem  Erwerb  der  Bücherei  Armand  Cigongnes  [für 
375000  Francs]  eine  Liebhaberbüoherei  ersten  Ranges  einverleibt 
hatte  und  die  er  ähnlich  bedachtsam  wie  freigebig,  unermüdlich  in 
Einzelerwerbungen,  vermehrte.  In  Chantilly,  dem  Schlosse  des 
großen  Conde,  dessen  Familiengeschichte  der  Herzog  geschrieben 
hat,  blieb  sie  auch  nach  seinem  Tode  erhalten;  er  hatte  sie  mit  samt 
den  anderen  Sammlungen  und  dem  Schlosse  selbst  dem  Institut  de 
France  vermacht. 

Von  den  ihr  ähnlichen  Liebhaberbüchereien  ließ  sich  der  Chan- 
tillysammlung  an  Umfang  nur  die  Bibliothek  vergleichen,  die 
Raoul-Leonor  L'homme-Dieu  du  Tranchant  comte  de 
Lignerolles  [1816—1893]*  in  einem  langen  Leben,  das  er  ganz 
und  gar  ihr  gewidmet  hatte,  errichtete.  1840  auditeur  im  Conseil 
d'£tat  geworden,  wo  Baron  J.  Pichon  sein  Amtsgenosse  ihn  in  den 
Kreis  der  Soci6te  des  Bibliophiles  Frangois  einführte,  schied  er, 
streng  royalistisch'  gesinnt,  1848  aus  dem  diplomatischen  Dienst. 
Anders  als  die  meisten  seiner  Mitsammler  zog  er  sich  mehr  und  mehr 
aus  dem  geselligen  Verkehr  zurück  und  vermied  schließlich  sogar  das 
laute  Treiben  der  Versteigerungen;  unaufhörlich  mit  der  Bereicherung 
seines  Bücherschatzes  beschäftigt,  sammelnd  und  weitersammelnd. 
Allein  in  dem  Bemühen  um  seine  Bücher  fand  er  Genügen  und 
Glück,  über  ihnen  vergaß  er  Essen  und  Trinken,  man  sah  ihn  oft 
statt  der  Mittagsmahlzeit  eine  beim  nächsten  Bäcker  gekaufte 
Semmel  verzehren,  um  sich  nicht  in  den  Gängen  zwischen  seinem 
Buchbinder  Trautz  und  den  Buchhändlern  seiner  Wahl  aufzuhalten. 
Dabei  ließ  er  es  auch  sonst  an  manchen  bibliomanischen  Sonderbar- 
keiten nicht  fehlen,  wenn  er  bei  den  Vorbesichtigungen  mit  einem 
mitgebrachten  Papiermaß  die  Randgrößen  verglich;  wenn  er  stun- 

182  *  ^^'  '^^ 


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19.  JAHRHUNDEET 

denlang  in  seinen  Büchersälen  saß,  um  mit  einer  Federpose  alte 
Bände  zu  reinigen;  wenn  er  seinen  Besitz  und  seine  Erwerbungen 
standhaft  verleugnete.  Trotzdem  sich  ihm  die  Dubletten  zu  den 
Dubletten  häuften.  Denn  bei  seinem  Streben,  durch  bessere  die 
schlechteren  Exemplare  zu  ersetzen,  entschloß  der  Comte  de  Ligne- 
roiles  sich  nicht,  wie  die  anderen  Bibliophilen,  eine  Dublette  mit  der  * 
nächsten  sich  bietenden  Gelegenheit  günstig  zu  verwerten.  Und 
seine  Abneigung  gegen  das  neunzehnte  Jahrhundert  ging  soweit, 
daß  er  das  eine  oder  das  andere  Hauptstück  zwar  kaufte,  es  dann 
aber  unberührt  in  seiner  Verpackung  jahrzehntelang  liegen  ließ. 
Aber  dergleichen  Eigentümlichkeiten  verband  sich  doch  auch  ein 
kenntnisreiches  und  zielsicheres  Sammeln,  das  sich  nicht  auf  die 
gerade  in  der  höchsten  Gunst  stehenden  Ausgaben  beschränkte, 
sondern  mit  bibliographischer  Kritik  Ausgabenreihen  aufstellte,  die 
Nebenwerke  nicht  verschmähte,  außer  den  editions  originales  auch 
die  geschichtlich  sonst  bemerkenswerten  Bücher  ihrer  Zeit  aufsuchte. 
In  der  Fürsorge  selbst  für  diese  Werke  geringeren  Liebhaberwertes 
ging  er  weit;  an  dreitausend  kostspielige  Bände  hat  ihm  die  Werk- 
stätte von  Trautz-Bauzonnet  und  von  Trautz  im  Laufe  der  Jahr- 
zehnte für  sie  liefern  müssen.  Der  Comte  de  LigneroUes  hatte  zwei 
Wohnungen  in  Paris,  in  der  rue  Frangois  I®'  und  in  der  rue  M arignan, 
von  denen  er  die  eine  lediglich  zur  Aufstellung  seiner  Bibliothek  be- 
nutzte. Ob  ihm  seine  niemals  aussetzenden  Bemühungen,  Bücher 
zu  erwerben,  herzurichten  und  zu  prüfen  auch  noch  Zeit  ließen  zum 
Lesen,  mag  zweifelhaft  sein.  Indessen  verstand  er  sich,  wie  die  Aus- 
wahl, die  er  zu  schaffen  wußte,  erwies,  bis  in  alle  Einzelheiten  auf 
die  Bücher;  ohne  doch  jemals,  forschend  und  mitteilend,  diese 
Kennerschaft  allgemein  nutzbringend  verwertet  zu  haben.  Das 
mag,  zumal  das  Ergebnis  einer  solchen  angestrengten  Sammeltätig- 
keit, die  Sammlung  selbst,  mit  ihrer  Auflösung  verloren  ging,  ihn 
mehr  als  einen  Bibliomanen  denn  als  einen  Bibliophilen  erscheinen 
lassen.  Doch  ist  hier  nicht  zu  vergessen,  wie  sehr  gerade  die  Art  der 
Buchpflege,  die  der  Comte  de  LigneroUes  meisterhaft  zu  üben  ver- 
stand, ihn  zu  einem  Bücherretter  werden  ließ,  der  viele  Bücher  vor 
dem  Verdorbenwerden  und  Vergessenwerden  schützte,  um  sie  der 

183 


FRANKREICH 

Nachwelt  zu  überliefern.  Ein  bescheideneres  Verdienst  vielleicht, 
indessen  doch  ein  nicht  zu  unterschätzendes  Verdienst,  wenn  es 
guten  Büchern  und  Werken  wissenschaftlichen  Wertes  zugute  kam. 
Und  dann,  das  Erbübel  so  mancher  französischer  Bibliophilen  seit 
dem  achtzehnten  Jahrhundert,  das  Spekulieren  in  Buchwerten, 
ist  ihm  immer  fremd  gewesen;  in  seiner  vornehmen  Weise  hat  er 
niemals  an  die  Berechnung  seiner  Bibliothek,  für  die  er  ein  Angebot 
von  zwei  Millionen  Francs  ausgeschlagen  hatte,  als  einer  Kapitals- 
anlage gedacht,  als  die  sie  schließhch  auch  die  Vente  LigneroUes 
nicht  zeigte.  Ihr  Datum  [1894/95]  ist  das  des  Tiefstandes  der  Lieb- 
haberwerte der  Brunet- Schule,  ihr  Erlös  [1136407  Francs]  blieb 
weit  hinter  dem  der  Didot- Versteigerung  [2612743  Francs]  zurück; 
hinter  der  höchsten  Summe,  die  die  Auktion  einer  französischen 
Privatbibliothek  im  neunzehnten  Jahrhundert  erbrachte. 

Ist  der  Comte  de  LigneroUes  trotz  allen  seines  Eifers,  erlesene 
Sammlerstücke  zu  gewinnen,  nach  der  Art  seines  Sammeins  ein  Auf- 
häufer von  Büchern  geworden,  so  ist  sein  gleichaltriger  Freund 
Jean- Joseph-Sosthene  baron  de  La  Roche  Lacarelle 
[1816—1887]*  als  Auswähler  der  Hauptvertreter  der  klassischen 
französischen  Bibliophilie  des  neunzehnten  Jahrhunderts.  Nur  Aus- 
gaben, die  nach  dem  wohlüberlegten  Plan  seinem  Bibliothekssystem 
zugehörten,  wünschte  er  sich  und  diese  Ausgaben  in  der  in  jeder 
Beziehung  vollendeten  Ausstattung  eines  historischen  Stückes  ohne 
Fehl  und  Tadel.  Bereits  in  frühen  Jahren  hatte  er,  nach  dem  Muster 
Nodiers,  eine  kleine  Privatbibliothek  gesammelt,  die  er  eines  schweren 
Augenleidens  wegen,  von  dem  ihn  die  Kunst  des  Berliner  Augen- 
arztes A.  V.  Graefe  später  befreite,  1858  dem  Buchhändler  Potier 
verkaufte.  Gesundet  begann  er,  mit  allen  Elementen  der  Sammel- 
technik wohl  vertraut  geworden,  eine  neue  Bücherei,  Band  für  Band 
nach  den  Anforderungen  eines  fast  nicht  zu  befriedigenden  Biblio- 
philen prüfend.  Nur  540  Nummern  enthielten  die  drei  Bücher- 
schränke im  Stil  Ludwigs  XVL,  deren  goldenen  Schlüssel  der  alternde 
Bücherfreund,  den  Krankheit  zwang,  oft  fern  von  seiner  Pariser 
Bibliothek  in  Florenz  und  auf  seinem  Schlosse  Sassangy  zu  leben, 
stets  an  einer  goldenen  Kette  mit  sich  trug.  Aber  diese  540  Nummern 

184  *  Abb.  104 


19.  JAHRHUNDERT 

einer  ausgewählten  Bücherei,  keiner  Schausammlung  ohne  inneren 
Zusammenhang,  brachten  1886  bei  ihrer  Versteigerung  rund  575000 
Francs,  in  einem  Zeitpunkt,  von  dem  an  die  Herrschaft  der  ,histori- 
schen  Schule^  zu  schwinden  begann. 

Damals,  als  die  ,jeunes^  eben  mit  lautem  Rufen  im  Streit  für 
das  Buch  ihrer  Gegenwart  eintraten,  waren  die  Mehrzahl  der  ,vene- 
rants*,  als  welche  sie  von  jenen  verspottet  wurden,  gestorben  oder 
müde  geworden,  weiter  zu  sammeln.  Die  Auflösungen  bedeutender 
Büchereien  folgten  sich  rasch,  ohne  daß  ein  aufnahmebereiter 
Nachwuchs  sich  zur  Weiterführung  des  bisherigen  systematischen 
Bibliotheksideals  entschlossen  hätte.  Seit  1888  fielen  die  ins  Über- 
maß gesteigerten  Preise,  die  Versteigerungen  de  la  Roche-Lacarelle, 
de  Fresne,  Destailleur,  de  Mosbourg,  Tandeau  de  Marsac  und  andere 
Auktionen  erwiesen,  daß  die  Begeisterung  für  die  edition  originale 
in  ihrem  klassischen  Bibliophilenstil  erheblich  nachgelassen  hatte. 
Da  mußte  1894  der  Überreichtum  der  Vente  Lignerolles  den  alten 
Liebhaberwerten  verhängnisvoll  werden.  Hier  waren  die  bekannte- 
sten Seltenheiten  nicht  bloß  in  einem,  sondern  in  einer  ganzen  Anzahl 
von  Exemplaren  vorhanden;  hier  stand  ein  abschreckender  Umfang 
notwendiger  Vollständigkeit  dieses  regelrecht  durchgeführten  Biblio- 
thekssystems vor  Augen.  Aber  es  war  nur  eine  kurze  und  die  letzte 
Überfüllung  des  Marktes  mit  den  editions  originales  gewesen.  Ein 
Menschenalter  hindurch  hatten  die  hohen  Preise  für  sie  überall,  in 
Paris,  in  der  Provinz,  im  Auslande  Exemplare  entdecken  und  in  die 
hervorragenden  'Liebhaberbüchereien  Jretten  lassen.  Die  biblio- 
graphische Feinarbeit,  die  seit  Brunet  und  Nodier  geleistet  war, 
hatte  zu  einem  endgültigen  Abschluß  geführt;  aber  auch  zu  einem 
nahezu  endgültigen  Abschluß  der  Entdeckung  von  Sammlerstücken, 
die  allmählich  in  die  öffentlichen  Bibliotheken  aufgenommen,  in 
erheblicher  Anzahl  in  das  Ausland,  insbesondere  in  die  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika,  gekommen  waren.  Der  kurze  scheinbare  Über- 
fluß konnte  nicht  darüber  hinwegtäuschen,  daß  das  Angebot  die 
Nachfrage  nicht  mehr  befriedigte.  So  brachte  1900/1901  die  Bücherei- 
Versteigerung  des  Nachfolgers  des  Baron  Pichon  in  der  Präsident- 
schaft der  ,Societe  des  Bibliophiles  Frangois*,  Guyot  deVilleneuve, 

185 


FRANKREICH 

eine  neue  Aufwärtsbewegung.  Seit  1854  hatte  er,  langsam  und  sorg- 
fältig wählend,  Stück  nach  Stück  seinen  Bücherreihen  eingefügt, 
in  denen  auch  die  Bände  standen,  die  ihm  nach  seiner  Heirat  mit 
Mlle  de  Montaliet  durch  die  kleine  und  kostbare  Bibliothek  seines 
Schwiegervaters  zugefallen  waren.  Die  Auflösung  [1904/05]  der 
Bücherei  des  Präsidenten  des  Tribunal  de  commerce  E.  Daguin 
[1818—1892],*  die  fast  lückenlose  Reihen  der  editions  originales 
zierten,  bestätigte  zwar,  daß  jene  Ermattung  der  Teilnahme  für  die 
alten  französischen  Klassikerausgaben  nur  eine  vorübergehende  ge- 
wesen war,  aber  die  einstige  Begeisterung  weckte  auch  sie  nicht 
wieder.  Das  von  E.  Picot  herausgegebene  Verzeichnis  der  berühmten 
im  Familienbesitz  erhalten  gebliebenen  Rothschildbibliothek,  dessen 
Veröffentlichung  erst  vierzig  Jahre  nach  dem  Tode  ihres  Sammlers 
beendet  wurde,  ist  ein  Ehrendenkmal  der  Bibliophilengeneration 
des  zweiten  Kaiserreiches  geworden;  um  so  mehr,  als  die  Rothschild- 
bibliothek trotz  allen  Aufwandes  eine  bibliotheque  de  travail  war, 
die  ihre  wissenschaftlichen  Zwecke  nicht  verleugnete,  sich  auch  dem 
Buch  ohne  hohen  Liebhaberwert  nicht  verschloß,  wenn  es  dem  Bücherei- 
plane nach  notwendig  war.  Ein  vielleicht  selbstverständlich  er- 
scheinender Umstand.  Immerhin,  es  gab  gerade  unter  den  Ci- 
melienkollektionen  der  venerants  manches  Kabinett,  das,  so  wert- 
voll es  auch  in  den  Einzelheiten  sich  gestaltete,  doch  zu  der  Ab- 
rundung  einer  Privatbibliothek  nicht  gelangt  ist,  weil  es  geringeres 
Büchergut  verschmähte. 

Baron  James  de  Rothschild  [1844— 1881]*  vereinigte  in  seiner 
Person  alle  Eigenschaften,  die  Gladstone  für  den  erfolgreichen 
Büchersammler  forderte.  Obwohl  von  Geburt  zur  Mitwirkung  an 
der  Leitung  der  Geschäfte  des  Welthauses  berufen,  dessen  Namen 
er  trug,  und  obwohl  er  schon  mit  einundzwanzig  Jahren  seine  ju- 
ristischen Studien  vollendet  hatte  und  zur  Advokatur  zugelassen 
wurde,  fand  er  doch  noch  Zeit,  sich  eine  sehr  umfassende  Kenntnis 
der  älteren  französischen  Literatur  anzueignen  und  in  mehreren 
von  ihm  besorgten  Ausgaben  zu  verwerten.  Dieser  Literatur  galt 
auch  seine  bibliophile  Neigung.  In  einem  kurzen  Leben,  das  noch 
viele   andere   Anforderungen  an  ihn  stellte,   blieb  sie  seine  größte 

186  *  ^^'  'OS.  I09 


19.  JAHRHUNDERT 

Vorliebe,  der  eine  der  kostbarsten  französischen  Liebhaberbüchereien 
ihre  Entstehung  verdankte.  E.  Paillet  hat  die  herrliche  Sammlung 
beschrieben:  ,,Zwei  ernstdekorierte,  mit  geschmackvollen  Boiserien 
Louis  XIV.  geschmückte  Salons  beherbergen  die  Bücherschränke. 
Die  einen  enthalten  die  Auslese  in  ihrem  urpsünglichen  Einbände, 
die  anderen  sind  dem  großen  modernen  Meister  Trautz  geweiht, 
der  für  seinen  Mäcen  wahre  Wunder  vollbrachte.  Da  gibt  es  reliures 
jansenistes,  streng  wie  Port  Royal,  ernste  Hand -Vergoldungen,  un- 
übertreffliche Mosaiken.  Mag  man  mich  der  Übertreibung  beschuldi- 
gen, ich  behaupte,  ohne  Furcht  widerlegt  zu  werden,  daß  eine  solche 
Sammlung  nur  an  diesem  Orte  vereinigt  werden  konnte.  Die  alten 
Einbände  sind  durch  Erhaltung  und  Schönheit  ihres  hohen  Ur- 
sprunges würdig.  Sie  stammen  aus  den  Büchereien  der  Chamillart, 
Longepierre,  comte  d'Hoym,  La  Valliere,  der  Könige  Heinrich  IIL, 
Ludwig  XIL,  Ludwig  XIV.,  der  Königin  Marie  Antoinette  usw., 
und  sie  beschützen  die  wertvollsten  Werke.  Welche  von  diesen 
soll  ich  aufzählen,  wenn  ich  eine  Auswahl  treffen  muß?  Die  Wahl 
ist  schwer,  aber  da  ich  mich  entschließen  soll,  nenne  ich  zwei  Perlen: 
die  Louise  Labe  von  1555  und  ihre  Kusine  Pernette,  und  einen 
Diamanten,  den  Marot  von  1532.  Dann  die  Reihe  der  Romane  der 
Table  ronde,  die  Flugschriften  zur  französischen  Geschichte,  die 
poetes  troubadours  und  die  ganze  Plejade,  die  Urausgaben  von 
Corneille,  Moliere  und  Racine,  eine  wundervolle  Daphnis  von  1718, 
ein  Vergil  Elzevier,  den  verloren  zu  haben,  ich  ewig  bedauern  werde 
[Rothschild  hatte  das  Exemplar  von  Quentin-Bauchart,  dieser  von 
Paillet  erworben],  endlich  die  hübschen  Conteurs  Louis  XV.,  mit 
ihren  koketten  Künstlern.  Neben  seinen  Büchern  bewundere  ich 
bei  Herrn  de  Rothschild  die  schönsten  Handzeichnungen  von 
Boucher,  Moreau,  Marillier,  Eisen  und  Monnet.  Dann  auch  die 
Phalanx  der  Romantiker,  an  ihrer  Spitze  Lamartine,  Victor  Hugo, 
Alfred  de  Musset,  Theophile  Gautier,  Balzac  .  .  .** 

Bücher  in  Kunstsammlungen  pflegen  in  deren  Rahmen  nur  die 
Rolle  eines  Schaustückes  zu  haben,  die  Sammlungsgebiete  in  ihnen 
nur  mit  ihren  Spitzen  vertreten  zu  sein,  so  daß  sich  von  einer  Bücherei 
im  eigentlichen  Sinne  nicht  immer  sprechen  läßt.    Meist  überwiegt 

187 


PRANKKEICH 

das  Bibeloty  die  dekorative  Ornamentik  in  den  prachtvollen  Bücher- 
schränken dieser  Art  von  Büchersammlungen.  Ein  Kabinett  aus- 
erlesener Buchkostbarkeiten  hatten  von  den  bekannten  französi- 
schen Kunstsammlern  des  neunzehnten  Jahrhunderts  Leopold 
Double  und  die  Brüder  Dutuit.  Allerdings,  Leopold  Double,*  der 
zwar  seinen  Kunstbesitz  bis  zu  seinem  Tode  [1880]  hütete,  sammelte 
seine  Bücher,  für  die  er  jährlich  50000  Franken  ausgegeben  hatte 
ebenso  rasch  in  vier  Jahren  wie  er  sich  schnell  von  ihnen  durch 
eine  Versteigerung  im  März  1863  trennte,  in  der  396  Nummern 
340000  Francs  erzielten.  Die  Brüder  Auguste  [gestorben  1902]  und 
Eugene  [gestorben  1886]  Dutuit,  die  ihre  auf  10000000  Francs 
geschätzten  Sammlungen  der  Stadt  Paris  hinterließen,  waren  ge- 
borene Sammler,  die  sich  selbst  den  bescheidensten  Komfort  ver- 
sagten, um  mit  reichen  Mitteln,  doch  auch  mit  reichem  Sammler- 
glück und  Sammlersinn,  unterstützt  von  einer  nicht  versagenden 
Kennerschaft  eine  Sammlung  zu  schaffen,  in  der  das  Buch  einen 
festen,  aus  kunstgeschichtlichen  Gesichtspunkten  ihm  bestimmten 
Platz  erhielt.  Die  Absicht  der  Bibliothek  Dutuit  war  nicht  die  Voll- 
ständigkeit im  Sinne  eines  bibliographischen  Systems,  sondern  die 
Vollständigkeit  einer  buchgeschichtlichen  Reihe.  Und  diese  Voll- 
ständigkeit repräsentativer  Typen  hat  sie  erreicht.  Das  Kabinett, 
das  den  bric-a-brac  des  bibliophile  nevreux  enthält  und  dem  ama- 
teur  speculateur  die  erwünschte  Deckung  für  seine  Geschäfte  gibt, 
läßt  sich  freilich,  dank  dem  Brunetschen  Katalogisierungssystem, 
so  ^  verzeichnen,  daß  es  wenigstens  äußerlich  das  Gefüge  einer 
Bücherei  erhält,  wie  denn  die  bekanntesten  französischen  Kabinette 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  mit  den  echten  Liebhaberbüchereien 
zusammen  genannt  werden.  Man  kann  sagen,  daß  oft  nur  der  In- 
halt eines  berühmten  Bücherschrankes  versteigert  wurde.  So  in 
der  Vente  Louis-Marie-Armand  Bertin  [1801—1854]  am  4.  Mai 
1854  jene  402  Nummern  einer  prunkvollen  Sammlung,  die  bis  dahin 
den  von  Duponchel  entworfenen  Eichenschrank,  dessen  Bronze- 
beschläge von  Klagemann  ziseliert  waren,  geschmückt  hatten. 
Augenblickssammler,  deren  Bestände  ständig  in  ihren  Vitrinen 
wechselten,    lassen    sich    die  Eklektiker    nennen,    die    immer    von 

188  *  Abb.  HO 


19.  JAHRHUNDERT 

neuem  wählten  unter  dem,  was  der  Zufall  ihnen  gerade  zutrug. 
Ein  Beispiel  für  sie  ist  der  Marquis  de  Ganay,  der  seine  Bücher  in 
eigener  Art  schätzte.  Ich  liebe  schöne  Bücher,  erklärte  er  einmal, 
ich  liebe  sie  leidenschaftlich  .  .  .  aber  nicht  mehr  als  fünf  oder  sechs 
auf  einmal,  und  diese  trage  ich  gewöhnlich  mit  mir  herum.  Nach  ein 
paar  Monaten  wird  meine  Liebe  zu  dem  einen  oder  dem  anderen 
kälter,  ich  finde  ein  anderes  Buch,  in  das  ich  mich  verliebe,  und 
dieses  nimmt  den  Platz  der  bisherigen  Favoritin  ein.  Und  des 
Nachts  bewahre  ich  es  unter  dem  Kopfkissen,  um  es  jederzeit  be- 
wundern zu  können.  Dank  dieser  Eigenart  hinterließ  dann  der 
Marquis  de  Ganay  als  endgültiges  Ergebnis  seiner  Sammlertätigkeit, 
er  hatte  vielfach  seine  alten  Lieben  billig  gegen  die  jeweilige  neue 
Buchgeliebte  eingetauscht,  eine  kleine  Zahl  sehr  kostbarer  Bände, 
deren  Katalog  nicht  mehr  besagte  als  eine  Buchhändlerpreisliste. 
Die  Bibliophilie-Romantik,  deren  Entwicklung  sich  in  dergleichen 
einseitigen  Übertreibungen  verlor,  hatte  eine  sie  eingrenzende  Ein- 
schränkung nötig.  Sie  fand  sie  in  der  bestimmten,  die  literar- 
historische Betrachtungsweise  des  Buches  verlassenden,  Wendung 
zum  Buchkunstwerk. 

Das  alte  Buch  als  solches  wie  ein  noch  greifbares  Stück  der  Ver- 
gangenheit anzusehen;  es  seines  Alters,  seiner  Schicksale,  seiner  Vor- 
besitzer wegen  wie  eine  historische  Reliquie  zu  verehren;  durch 
seinen  Besitz,  seinen  Gebrauch  Empfindungen  und  Erlebnisse  zu 
gewinnen,  die  von  romantischer  Phantasie  eingegeben  waren,  das 
alles  hatte  schon  zu  einer  neuen  Betrachtungsweise  der  Bücher,  zu 
einer  sentimentalischen  Bibliophilie  geführt.  Mochte  ein  biblio- 
graphisch-objektiver Wert  des  altes  Buches  durch  seine  Güte,  seine 
Schönheit,  seine  Seltenheit  oder  sonst  irgendwie  schon  immer  be- 
stimmt sein,  der  romantische  Bibliophile,  der  sich  diesem  alten  Buche 
als  Sammler  näherte,  gab  ihm  dazu  eine  eigene,  subjektive  Bewer- 
tung, die  er  aus  seinem  Gemütsleben  ableitete.  Er  schenkte  dem 
alten  Buche  sein  Herz  und  verband  so  sein  Leben  mit  dem  des  alten 
Buches.  Die  sentimentalische  Bibliophilie  hatte  das  Buch,  das 
alte  Buch,  als  einen  Stimmungsträger  erkannt,  als  einen  Vermittler 
geistiger  Genüsse  aller  feinen  Sinne.     Damit  war  dann  auch  eine 

189 


FRANKREICH 

Nutzanwendung  für  das  neue  Buch  gegeben.  Den  Stimmungsgehalt, 
den  man  in  alten  Büchern  zu  finden  meinte,  wollte  man  den  neuen 
Büchern  verleihen.  Man  glaubte,  bei  der  Herstellung  von  Büchern 
Wirkungen  berechnen  zu  können,  die  sich  hier  jeder  genauen  Be- 
rechnung entziehen,  weil  sie  nicht  von  den  Absichten  der  Buchher- 
steller, sondern  von  den  Empfindungen  der  Buchbenutzer  abhängig 
sind.  Und  Uberfeinerung  aus  Schwäche,  die  trotz  aller  Reizmittel- 
empfindungen schwach  bleibende  Genußfähigkeit,  die  man  vor  der 
künstlerischen  Kraft  als  Artistentum  entschuldigen  möchte,  ver- 
bunden mit  der  konventionellen  Schulung  des  Geschmackes,  die  sich 
ebenso  sehr  auf  das  Suchen  nach  möglichst  differenzierten  Stim- 
mungen wie  nach  möglichst  harmonischen  Elementen  solcher  Stim- 
mungen gründen  wollte,  gewannen  Einfluß  auf  die  neuen  französischen 
Bücher  des  neunzehnten  Jahrhunderts,  die  als  Liebhaberausgaben 
erscheinen  wollten:  als  durch  das  Temperament  eines  Bibliophilen 
gesehene  gute  und  schöne  Bücher. 

Vermittler  zwischen  der  ,alten'  und  der  ,neuen'  Bibliophilen- 
Generation  waren  die  Brüder  Edmond  [1822—1896]  und  Jules 
[1830 — 1870]  de  Goncourt,*  vergleichbar  ihrer  literarischen  Stel- 
lung und  ihrem  Wesen  nach  den  Brüdern  Schlegel.  Als  Sammler- 
Schriftsteller  tonangebend,  brachten  sie  manche  moderne  Buch- 
mode zur  Geltung,  ohne  daß  doch  die  eleganten  Kritiker  eine  eigene 
Richtung  festzulegen  vermochten.  Demgemäß  schwankte  auch  das 
Urteil  über  sie,  von  der  Ablehnung  ihrer  Arbeiten  durch  die  ihnen 
Unwissenschaftlichkeit  zum  Vorwurf  machenden  Fachgelehrten  bis 
zu  ihrer  eigenen  Meinung,  die,  ihres  schriftstellerischen  Wertes  sich 
wohlbewußt,  die  dünkelhafte  Einseitigkeit  jener  mit  mondänem 
Witz  abwehrte.  Asthetizismus  war  ihre  Weltanschauung,  die  des- 
halb leicht  wandelbar,  sie  zu  Impressionisten  machte.  Das  bunte 
Durcheinander  ihres  Weltbildes  spiegelte  sich  sogar  in  ihrer  Woh- 
nung, in  deren  bis  in  die  Kleinigkeiten  wohlgeordneten  Stillosigkeit. 
Aber  wenn  die  Brüder  sich  auch  dem  neuen  Eindruck  hingaben,  in  der 
historischen  Tradition  nicht  deren  einheitliches  Bild,  sondern  die 
Einzelheiten  aufsuchten,  die  es  bildete,  so  blieben  sie  trotzdem,  dank 
ihrer    Anlagen,    dank    ihrer    Selbstschulung    Künstler,    und    zum 

190  *  Abb.  io6,  107 


I 


19.  JAHRHUNDERT 

Künstlertum  wurde  ihnen  auch  ihr  Umgang  mit  den  Büchern.  Den 
Ausdruck  einer  Empfindung  klar  zu  erfassen,  ihn  derart  zu  ge- 
stalten, daß  er  zu  einer  graziösen  Selbstverständlichkeit  wurde,  war 
ihnen  ein  Bedürfnis.  Das  Bemühen  um  die  Originalität  hinderte  sie 
oft  an  der  scharfen  Scheidung  des  Unwichtigen  von  dem  Wichtigen, 
des  Beiwerkes  von  seinem  Gegenstande,  an  dem  sie  vielleicht  weit  mehr 
das  anekdotische,  das,  was  sich  als  sein  Milieu  erkennen  ließ,  reizte, 
als  er  selbst.  So  kamen  die  Brüder  Goncourt,  obschon  sie  als  Autoren 
Moderne  waren,  in  ihrer  Bibliophilie  weder  Historiker  noch  Ro- 
mantiker, dazu,  als  Sammler  die  Rokokoseele  wiederzufinden.  Durch 
Einzelforschungen  peinlichster  Genauigkeit,  deren  Ergebnisse  sie 
freilich  in  eigenwilliger  Formung  verlegten,  erschlossen  sie  bei- 
spielgebend ein  versunkenes  Buchland  von  neuem;  warben  sie  durch 
die  Anlage  und  die  Art  ihrer  Werke  für  die  Beachtung  der  Buch- 
kunstwerke dieses  Sammelgebietes;  stellten  sie  das  livre  ä  figures 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  wieder  in  seine  Umwelt  hinein,  indem 
sie  es  nicht  als  eine  buchgewerbliche  Einzelleistung,  sondern  als  eine 
Zeiterscheinung  erkennen  lehrten.  Die  Kunst-  und  Literatur- 
psychologie, die  Sozialpsychologie  des  achtzehnten  Jahrhunderts, 
für  die  die  Brüder  Goncourt  Muster  aufstellten,  ließ  erst  die  Ver- 
bindung zwischen  dem  alten  und  neuen  französischen  Buche  voll- 
ständig wiederherstellen.  Der  ganze  Bereich  des  Bild-  und  Buch- 
druckes, der  Handschriften,  Urkunden  und  Zeichnungen  aus  dem 
achtzehnten  Jahrhundert  Frankreichs  blieb  für  die  Brüder  Goncourt 
selbst  das  dokumentierende  Material,  das  sie  für  ihre  sittengeschicht- 
lichen Werke  brauchten.  Alles  was  ihnen  erreichbar  wurde,  sam- 
melten und  sichteten  sie  hier  für  ihre  Zwecke.  Von  den  billigen  Flug- 
schriften, die  in  den  Bücherkästen  der  Quais  zu  finden  waren  bis  zu 
den  Kupferstichprachtwerken,  von  den  Bilderbogen  bis  zu  den  er- 
lesenen  Griffelkunstblättern  der  Rokokokünstler,  von  den  Auto- 
grammen hohen  Liebhaberwertes  bis  zu  irgendwelchen  dem  Alt- 
papier entrissenen  Aufzeichnungen.  Mit  einer  Einschränkung  freiUch. 
Zwar  durften  sie  sich  einigen  Aufwand  gestatten  und  die  Aufwen- 
dungen, die  sie  für  die  Vorarbeiten  ihrer  Werke  machen  mußten, 
überstiegen  weit  ihre  Honorare.    Aber  mit  den  reichsten  Sammlern 

191 


FRANKREICH 

konnten  sie  in  keinen  Wettbewerb  mehr  treten,  soweit  er  den  Samm- 
lerstücken  ersten  Ranges  des  livre  a  figures  galt.  Hier  mußten  sie 
sich  mit  einem  guten  Durchschnitt  begnügen.  Denn  als  sie  auch  auf 
diesem  Gebiete  planmäßiger  zu  sammeln  begannen,  hatte  es  schon 
seinen  fester  geregelten  Markt.  Bevor  die  Kunst  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  zu  einem  allgemeinen  Sammlungsgegenstande  wurde, 
hatten  sie  nur  Handzeichnungen  und  Stiche  gekauft.  Für  das  neun- 
zehnte Jahrhundert  änderte  die  Bibliothek  Goncourt  ihren  metho- 
disch-systematischen Charakter,  wurde  mehr  wählerisch  und  mehr 
zufällig.  Nur  die  Balzac-  und  Gavarinireihen  wurden  für  sie  noch  auf 
Vollständigkeit  hin  gesucht.  Sonst  begnügten  sich  die  Brüder  für 
die  Romantik  mit  den  Büchern,  die  sie  fanden  und  die  ihnen  gerade 
gefielen.  Von  1856  bis  1870  stellten  sich  dann  bei  ihnen  die  Aus- 
gaben ihrer  literarischen  Kampfgenossen  in  Vorzugsausgaben,  in 
erlesenen  Widmungsexemplaren,  ein,  die  damals  noch  nicht,  wie  es 
späterhin  üblich  wurde,  in  dieser  Ausstattung  auch  in  den  Handel 
gegeben  wurden.  Der  alternde  Edmond  hatte  für  die  Bücher  dieser 
Jahre  eine  Vorliebe,  er  stattete  sie  mit  Beilagen  von  Bildern  und 
Handschriften  aus;  er  wählte  diejenigen,  die  ihm  als  die  Haupt- 
werke erschienen,  um  sie  in  Pergament  binden  zu  lassen,  damit  der 
Deckel  ein  von  einem  berufenen  Künstler  ausgeführtes  Autoren- 
porträt trage.  Solche  Bände,  ausgelegt  in  Schaukästen,  bildeten  ihm 
einen  bibliographischen  Freundschaftstempel.  Ähnliche  Fürsorge 
ließ  er  den  eigenen  und  vor  allem  den  noch  gemeinsam  mit  seinem 
Bruder  unternommenen  Werken  angedeihen;  gab  ganz  neue  Bei- 
spiele für  die  Ausgestaltung  des  Autorexemplars,  für  die  Eleganz  der 
Druckvorlagen,  für  die  Einschätzung  von  Korrekturbogen,  Manu- 
skripten, die  mitgebunden  wurden,  Probedrucken,  unterdrückten 
nicht  zur  Veröffentlichung  gekommenen  Blättern  und  Bogen,  Ein 
buntes  Durcheinander,  das  aber  doch  bis  auf  den  Kunsteinband,  der 
es  schmückte,  überdacht  war  und  nicht  allein  von  persönlichem 
Reiz,  sondern  auch  von  bibliographisch-literarhistorischem  Interesse. 
Ein  artistischer  Eklektizismus,  der  das  psychologische  Element  in 
der  Bibliophilie  kennzeichnete.  Abrundend  beschlossen  die  Bücherei 
Edmonds   die  ihm  von  1870  bis  1896  von  den  jungen  Schriftstellern 

192 


19.  JAHRHUNDERT 

überreichten  Werke  mit  schmeichelhaften  Widmungen,  eine  fast 
vollständige  Sammlung  der  editions  originales  dieses  Zeitraumes, 
Die  Beispiele,  die  für  die  Biblio- Ikonophilie  von  der  Bücher- 
sammlung Goncourt  ausgingen,  blieben  vereinzelt,  wofern  man  nicht 
ihre  Hinweise  auf  das  ostasiatische  Buchbild  —  sie  enthielt  eine  der 
ersten  europäischen  Sammlungen  japanischer  Holzschnittbücher  — ' 
dazu  rechnen  will.  Weit  mehr  wirkten  die  Muster,  die  sie  für  das 
livre  contemporain  aufstellte,  indem  sie  das  exemplaire  d'amateur 
aus  dem  exemplaire  d'auteur  entwickelte.  Die  Besonderheit  des 
Buches  in  seinem  Persönlichkeitsreiz  zu  gewinnen,  ergaben  sich  ganz 
neue  Sammlungsverfahren.  Biblio-biographisch,  aber  auch  buch* 
gewerblich  wurde  die  ganze  Buchgeschichte  an  einem  erlesenen 
Exemplare  erläutert,  aus  dem  livre  contemporain  ein  livre  docu- 
ment6  gemacht.  Die  Beachtung  der  Bibliophiliemode  verstand  sich 
von  selbst.  Die  bedruckten  Umschläge,  die  seit  dem  neunzehnten 
Jahrhundert  üblich  geworden  waren,  durften  zur  Vollständigkeit 
ebensowenig  fehlen  wie  die  Voranzeigen;  die  Erhaltung  des  Buches 
in  der  Frische  seines  ursprünglichen  Zustandes  wurde  zum  Gesetz, 
das  die  Einbandkunst  einschränkte.  Man  begnügte  sich  mit  einem 
leichten  Einbände;  oder  aber  man  suchte  die  Persönlichkeitswerte, 
die  Beziehungen  zwischen  Besitzer  und  Buch,  durch  einen  Phantasie- 
einband zu  erhöhen,  damit  die  Buchbinderei  von  der  Nachahmung 
nur  geschichtlicher  Vorbilder  auf  neue  Wege  weisend.  Das  ,exem- 
plaire  unique*  war  nicht  mehr  ein  Erbe  der  Vergangenheit,  es  ließ 
sich  auch  unter  den  Büchern  der  Gegenwart  auffinden.  Und  die 
fernere  Vergangenheit  trat  hinter  der  näheren  zurück.  Man  begann 
auf  die  Romantiker  aufmerksam  zu  werden;  den  Begriff  der  Edition 
originale  nicht  allein  mehr  auf  die  Klassiker  zu  beschränken,  sondern 
ihn  auch  den  neuen  und  neuesten  Werken  zuzugestehen.  Nichts 
zeigt  deutlicher  die  Änderung  in  der  Betrachtung  des  Buches,  als 
ein  Vergleich  der  bibliographischen  Notizen,  die  E.  de  Goncourt 
und  Ch.  Nodier  auf  die  Vorsatzblätter  eintrugen :  dieser  war  um  die 
Ausschmückung  der  historischen  Referenz  besorgt,  jener  um  den 
Beweis  der  Beziehungen,  die  das  Buch  zu  ihm  selbst  hatte.  Das  ist 
eine  Auffassung,  die  E.  de  Goncourt  noch  in  seinem  Testament  zum 

BOOENG    IS  193 


FRANKREICH 

Ausdruck  brachte :  ,,Ma  volonte  est,  que  mes  dessins,  mes  estampes, 
mes  bibelots,  mes  livres,  enfin  les  choses  d'art  qui  ont  fait  le  bonheur 
de  mä  vie  n'aient  pas  la  froide  tombe  d'un  musee,  et  le  regard  bete 
du  passant  indifferent,  et  je  demande  qüelles  seront  toutes  epar- 
pillees  sous  les  c6up  de  marteau  du  comissaire-priseur  et  que  la 
jouissance  que  m'a  procuree  Tacquisition  de  chacune  d'elles,  soit 
redonnee,  pour  chacune  d'elles,  ä  un  heritier  de  mes  goüts."  — 

Das  Arbeitsgebiet  und  der  Mitgliederkreis  der  ,Societe  des 
Bibliophiles  Frangois*  entbehrten  nicht  der  Exklusivität;  die  Be- 
schränkung auf  das  Buch  der  Vergangenheit,  die  Bevorzugung  der 
royalistischen  Traditionen,  gaben  ihr  eine  gesellschaftliche  Haltung, 
die  nach  1871  hoch  schärfer  hervortreten  mußte.  Sie  war  die  Hoch- 
burg der  ,alten^  Büchersammlerschule,  der  gegenüber  eine  neue 
seit  den  Jahren  des  zweiten  Kaiserreiches  sich  durchsetzte,  für  die 
die  antiquarisch-historischen  Studien  hinter  die  bibliographischen 
Zurücktraten;  die,  hierin  noch  übereinstimmend  mit  der  alten  Schule, 
die  6ditions  originales  der  grands  ecrivains  frangais  sammelte,  dann 
aber  den  livres  k  figures  des  achtzehnten  Jahrhunderts  einen  bevor- 
zugten Platz  in  ihren  Bibliotheken  gönnte  und,  sich  von  den  ,alten^ 
Anschauungen  trennend,  nun  auch  dem  Buch  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  Sammelwert  zuerkannte,  zumal  in  der  dem  Buchkunst- 
werk passendsten  Form  der  Liebhaberausgabe,  deren  erfolgreicher 
und  tatkräftiger  Verkünder  der  Verlagsbuchhändler  Leon  Conquet 
[1848 — 1897]*  geworden  war.  Diese  Richtungsänderungen  des  Sammel- 
wesens setzten  sich  in  den  sechziger  und  siebziger  Jahren  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  durch,  indessen  bereits  mustergebende  Samm- 
lungen des  neuen  Stils  entstanden.  Eine  Anzahl  bedeutenderer  Bücher- 
freunde in  Paris  gehörte  nicht  mehr  der  ,Societe  des  Bibliophiles 
Frangois'  an,  fand  sich  in  der  1880  gegründeten  ,Societ6  des  Amis 
des  Livres'  zusammen,  deren  Aufgabe  die  Buchkunstförderung  sein 
sollte;  eine  Abkehr  von  den  Erinnerungen  der  Vergangenheit,  ein  Ziel 
das  in  die  Zukunft  wies.  Sie  konnte  keinen  besseren  Führer  erwählen  als 
den  Mann,  in  dessen  Bibliotheksalon  sich  eben  so  gern  die  ,alten'  wie 
die  , neuen'  Sammler  trafen;  der  selbst  in  seiner  Bücherei  einen  glück- 
lichen Ausgleich  der  verschiedenartigen  Sammelrichtungen  zeigte. 

194  *  Abb.  114 


/ 


19.  JAHBHUNDEBT 

In  den  letzten  Jahren  des  zweiten  Kaiserreiches  war  die  ele- 
gante Erscheinung  Eugene  Paillets  [1829—1901]*  bei  den  Bächerei- 
versteigerungen im  H6tel  Drouot  und  den  sonstigen  Gelegenheiten,  die 
das  „Bibliophilen  Tout  Paris"  zusammenführte,  rasch  in  den  Vorder- 
grund getreten.  In  amtlich  angesehener  Stellung  —  er  war  Richter  — 
beliebt  im  gesellschaftlichen  Verkehr,  liebenswürdig  und  wohlhabend; 
die  besten  Beziehungen  zu  den  Bibliophilen  der  alten  Schule  unter- 
haltend, folgte  er  dennoch  keineswegs  überall  den  von  diesen  ein- 
geschlagenen Wegen,  sondern  suchte  Neuland  für  sein  Sammeln 
aufzufinden,  ohne  sich  deshalb  von  der  historischen  Tradition  ganz 
und  gar  zu  trennen.  Auch  er  begehrte  das  Sammlerstück  im  Sinne  des 
historischen  Stils  der  französischen  Bibliophilie,  soweit  er  es  in  be- 
zeichnenden Beispielen  für  seine  Bücherei  erwerben  konnte.  Aber  da, 
wo  die  alten  Bibliophilen  aufhörten,  beim  Buche  des  achtzehnten 
Jahrhunderts,  fing  er  recht  eigentlich  erst  die  eigene  Sammeltätig- 
keit an,  mit  der  er,  ein  Neuerer  oder  doch  ein  Erneuerer,  für  die 
Bibliophilie-Moderne  vorbildlich  wurde.  Entschlossen  ging  er  hier 
von  der  Buchkunst  aus,  nicht  vom  Provenienzexemplar.  Das  exem- 
plaire  d'amateur  auszustatten,  so  daß  es  die  Buchkunstwerte  eines 
alten  oder  neu«n  Druckwerkes  in  ihrer  Vollendung  zeigte,  war  sein 
SammlerzieU  Das  exemplaire  exceptionnel  sich  selbst  zu  schaffen 
wie  das  die  alten  Buchfreunde  getan  hatten,  sein  erfolgreicher  Ehr- 
geiz. 1870  hatten  durch  ihre  Bibliographie  der  am  kaiserlichen 
Münzkabinett  angestellte  Konservator  Henri  Cohen  und  der  Buch- 
händler A.  Rouquette  den  ersten  Versuch  gemacht,  dem  bis  dahin 
geringer  geschätzten  französischen  illustrierten  Rokokobuch  all- 
gemeine Anerkennung  zu  gewinnen.  Eugene  Paillet  erwies,  welche 
Werte  in  diesen  Büchern  steckten,  wenn  man  sie  nur  richtig  auszu- 
deuten verstand.  Achtsamkeit'  auf  die  belle  epreuve  war  eine  erste 
Notwendigkeit,  wofern  das  Bild  im  Buch  zur  Geltung  kommen 
sollte.  Sie  zu  erlangen,  durfte  man  nicht  mit  den  recht  und  schlecht 
vorhandenen  alten  Exemplaren  zufrieden  sein,  mußte  man  die 
Probedrucke,  Vorzugsausgaben,  Zeichnungen  zusammenstellen.  Das 
alles  ließ  sich  nicht  auf  einmal  zusammentragen,  obschon  damals 
hierfür  die  Gelegenheiten  noch  günstig  waren.    Erst  in  jahrelangem 

13»  *  Abb.  III,  112  195 


FRANKREICH 

mühseligem )  planvollem  Aufstöbern,  Kaufen  und  Tauschen  fand 
man  die  Einzelteile  eines  Buches,  wie  man  es  sich  wünschte.  Auch 
die  geschäftliche  Geschicklichkeit  durfte  nicht  fehlen,  um  in  dem 
bald  beginnenden  Wettbewerb  reichster  Sammler  standhalten  zu 
können.  Und  dann  endlich  blieb  noch,  nachdem  alles  beisammen 
war,  in  bester  Erhaltung  und  Frische  beisammen  war,  ein  Einband 
zu  finden,  der  endgültig  das  einzigartige  Exemplar  zustande  brachte. 
Auch  darin  bewährte  sich  Eugene  Paillet  als  ein  erfolgreicher 
Neuerer.  Er  verschmähte  es,  den  Einbandschmuck  nach  den  alten 
Vorbildern  wiederholen  zu  lassen;  fand,  hiermit  den  Gegensatz 
zwischen  der  alten  bloß  historisierenden  und  der  ganz  und 
gar  auf  die  Überlieferungen  verzichtenden  neuen  Einbandkunst 
überbrückend,  ein  Mittel,  beider  Bestrebungen  zu  vereinen^  indem  er 
den  Mustern  folgend,  die  die  Buchkupferverzierungen  selbst  gaben. 
Einbandentwürfe  und  Einbandzeichnungen  herstellen  ließ.  Der 
Bibliothöque-Salon  Eugöne  Paillets  in  seiner  Pariser  Wohnung  in 
der  rue  de  Berlin,  in  dessen  beiden  Eichenschränken  die  so  wieder- 
gewonnenen Wunderwerke  der  französischen  Buchkunst  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  standen,  umgeben  von  den  anderen  Büchern 
des  geschmackssicheren  und  kenntnisreichen  Mannes;  der,  von  den 
Wiegendrucken  bis  zu  den  letzten  Liebhaberausgaben,«  eine  Band- 
reihe um  sich  vereinte,  die  nicht  bloß  die  Buchkunstentwicklung 
in  erlesenen  Exemplaren  zeigte,  die  ebenso  nach  den  literarischen 
Qualitäten  bestimmt  war;  dieser  Bibliothdque-Salon  erwies,  daß  die 
Buchpflege  der  französischen  Liebhaberbücherei  am  Ende  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  die  Synthese  der  von  den  Bibliophilen  bisher 
gemachten  Anstrengungen,  zum  guten  und  schönen  Buch  zu  kom- 
men, geglückt  war.  [Erwies  es  allerdings  nur  an  Ausnahmefällen, 
deren  Beispiel  die  Gefahr  nicht  vermeiden  lehrte,  äußere  Buchwerte 
mit  den  inneren  zu  verwechseln,  aus  denen  sie  hervorgingen  und 
solcher  Art  sich  in  der  Biblio- Ikonophilie  von  der  Beschäftigung  mit 
dem  Buche  selbst  zu  entfernen  oder  sogar  im  spielerischen  zu  ver- 
lieren.] Aber  es  kam  auch  der  Tag,  an  dem  das  tempus  colligendi, 
tempus  spargendi  für  Eugene  Paillet  zu  einer  Wahrheit  wurde.  Als 
die  Bücherei  den  Rahmen,  den  er  ihr  hatte  geben  wollen,  nahezu 

196 


20.  JAHRHUNDEBT 

ausgefüllt  hatte,  das  Sammeln  für  ihn  beendet  war  und  er  sich  die 
Frage  vorlegen  mußte,  ob  und  wie  er  für  die  Erhaltung  seiner  kost* 
baren  Privatbibliothek  sorgen  könne,  da  schien  ihm,  einer  ungewissen 
Nachlaßversteigerung,  mit  der  er  rechnen  mußte,  die  schnelle  Tren- 
nung in  der  Zeit  einer  günstigsten  Marktlage  vorzuziehen.  Morgan, 
ebenso  schnellen  Entschlusses,  kaufte  die  Bibliothek  Paillet  1887 
für  die  damals  erstaunliche  Summe  von  700  000  Francs.  Eine  merkan- 
tile Spekulation,  die  er  nicht  zu  bereuen  brauchte,  denn  der  Anti- 
quariatskatalog, der  sie  mit  neuen  Preisen  ausbot,  war  im  Nu  aus- 
verkauft. Weniges  hatte  Eugene  Paillet  zurückbehalten  oder  zurück- 
gekauft, um  es  für  eine  neue  Sammlung  zu  verwenden,  in  der  das 
schöne  Buch  des  neunzehnten  Jahrhunderts,  die  Liebhaberausgabe, 
die  die  Soci^te  des  Amis  des  Livres  pflegte,  den  Vorrang  hatte.  Eine 
Versteigerung  löste,  nach  seinem  Tode,  seinem  Wunsche  gemäß,  1902 
die  zweite  Bücherei  Eugene  Paillets  auf.  Aus  der  ersten  hatte  Henri 
Beraldi  nicht  weniger  raschen  Entschlusses  als  sein  Freund  die  meisten 
Hauptstücke  erworben,  um  sie  der  eigenen  Sammlung  zuzuführen, 
deren  halbtausend  Werke  in  einer  ständig  erneuerten  Auslese  bester 
Exemplare  schon  damals  einen  sehr  hohen  Stand  erreicht  hatte. 

Henri  Beraldis  Bücherei,  mit  einer  gleichfalls  sehr  qualitäts- 
starken Griffelkunstblättersammlung  verbunden,  sollte  die  Ent- 
wicklung der  französischen  Illustrationskunst  seit  dem  achtzehnten 
Jahrhundert  zeigen.  Ihre  moderne  Tendenz  bewies  sie  nicht  allein 
in  der  Anlage  ihres  Planes,  der  keine  Nebenwerke  zuließ,  dafür  die 
kritische  Auswahl  bis  auf  die  möglichste  Vollkommenheit  erstreckend 
[so  daß  sie  in  ihrer  Art  die  ausgezeichnetste  französische  Liebhaber- 
bücherei des  neunzehnten  Jahrhunderts  wurde],  sondern  auch  darin, 
daß  sie  bewußt  die  Bibliophilie  nicht  zu  einem  bloßen  Vorwande 
der  Ikonophilie  werden  ließ.  Beraldi  verlangte  in  seinen  witzigen 
und  trotz  ihres  leichten  Tones  scharf  das  Wesentliche  hervorheben- 
den Schriften  die  Anerkennung  des  Buchkunstfreundes  als  eines 
Sammlers  selbständiger  Geltung;  er  gewann  sie  für  sich  und  die  zahl- 
reichen Amateure,  die  seitdem  die  moderne  Richtung  der  fran- 
zösischen Bibliophilie  vertraten.  Dem  bibliophile  lettre,  mit  den 
bibliographischen  Anschauungen  der  Brunet-Schule,  stellte  er  den 

197 


FBANKBEICH 

coUectionneur  schlechthin  gegenüber,  dem  das  Bibelot,  das  Buch- 
kunstwerk ein  Sammlungsgegenstand  war.  Die  Bächerei ,  ein  nur 
angenommenes  Empfangsraum  der  edelste^  Geister  des  Schrifttums, 
deren  eingebildete  gelehrte  Leser  sie  im  humanistischen  Stil  als  ihren 
Tempel  der  Weisheit  rühmen,  schien  ihm  eben  so  viel  oder  so  wenig  zu 
bedeuten  wie  die  ästhetische  Betrachtungsweise  des  BuchäuBeren. 
War  dort  der  Buchgehalt  in  der  erlesensten  Textform  das  Biblio- 
theksideal, so  war  hier  die  Buchschönheit,  die  ebenfalls  in  der  Einzig- 
artigkeit eines  Exemplares  erst  vollkommen  sich  enthüllte,  ein 
anderes.  Und  den  venerants,  die  allein  die  Vergangenheit  in  Ehren 
hielten,  die  gegen  ihre  Gegenwart  künstliche  Grenzen  zogen,  nicht 
bedenkend,  daß  das  Buch  von  heute  kommenden  Sammler-Ge- 
schlechtern ein  geschichtliches  Vermächtnis  ihrer  Vorgänger  sein 
werde,  hielt  er  die  Anforderungen  einer  besonnenen  Buchpflege 
entgegen.  Was  waren  sie  denn  anders  als  die  Bewahrer  alter  Bände 
für  ihre  kurze  Lebenszeit?  Worin  glichen  sie  den  von  ihnen  be- 
wunderten Grolier  und  De  Thou,  die  Förderer  des  Buchwesens 
ihrer  Gegenwart  gewesen  waren?  Das  sollten  auch  die  Amateure, 
die  Bibliophilen  der  Moderne  werden,  die  der  Buchware  Persönlich- 
keitswerte verliehen,  die  bleibende  Sammlerstücke  schufen.  Henri 
Beraldi  hat  den  Bibliotheken  alten  Stils  nicht  ihr  Daseinsrecht  be- 
stritten; er  hat  nicht  den  Übertreibungen,  den  Veräußerlichungen  der 
Luxusedition  das  Wort  geredet,  in  denen  die  neue  Richtung  bald  ver- 
flachte, wie  die  alte  ebenfalls,  wenn  ^ie  ihr  Begehren  der  Bücher  in 
ein  Verlangen  nach  Katalognummern  wandelte.  Wenn  er  die  avant 
la-lettre- Drucke  und  die  tirages-hors-texte  pries,  verhehlte  er  auch 
seine  Meinung  über  die  Schaukastenspielereien  nicht.  Und  doch 
blieb  auch  er  noch,  blieb  die  Buchkunst  Frankreichs  im  neunzehnten 
und  zwanzigsten  Jahrhundert  mit  ihrer  Bevorzugung  des  Buchbildes, 
die  nicht  zu  einer  Auffassung  des  Buchganzen  als  Kunstwerk  gelangen 
konnte,  letzten  Endes  im  Banne  der  Vergangenheit;  verleugnete  auch 
er  nicht,  wie  die  meisten  modernen  französischen  Sammler,  die  Ein- 
seitigkeit, die  die  Kraft  und  die  Schwäche  einer  glänzenden  Reihe 
im  letztverflossenen  Halb  Jahrhundert  entstandener  und  vergangener 
Privatbibliotheken  war:  ihre  Beschränkung  auf  das  französische  Buch. 

198 


IV.  SPANIEN,  BELGIEN,  HOLLAND 

Isidorus  Hispalensis  [u.  560 — 636],  seit  600  Bischof  von 
Sevilla,  galt  als  einer  der  hervorragendsten  Gelehrten  des  Mittel- 
alters, der  eine  der  ausgezeichnetsten  Privatbibliotheken  dieser  Zeit 
besaß.  In  fünfzehn  Schränken  stand  sie  wohlgeordnet,  von  denen 
zwölf  den  Theologen,  je  einer  den  Historikern,  Juristen,  Medizinern 
zugewiesen  war.  Ganz  in  der  antiken  Art  war  der  Bilder-  und  Büsten- 
schmuck des  Sammlungsraumes  gehalten.  Distichen  dienten  einer 
Epigraphik-Ornamentik.  Über  den  Fächern  der  Geschichtsschrei- 
bung stand  zu  lesen:  ,,Historiam  rerum  et  transacti  tempora  saecli/ 
Condita  membranis  haec  simul  arcagerit.*'  Aber  es  blieb  lange  bei 
den  schönen  Aufschriften  der  spanischen  Bücherschränke  und  auch 
die  humanistische  Kulturwelle,  die  Europa  fast  ein  Jahrtausend  später 
überflutete,  zerbrach  an  den  Klostermauern  der  Pyrenäenhalbinsel. 
Ebensowenig  sollte  der  Gewinn,  den  die  nahe  Berührung  mit  der 
Bibliophilie  des  Orients  in  den  Jahrhunderten  der  muselmanischen 
Herrschaft  über  Südspanien  dessen  Büchersammelwesen  hätte 
bringen  können,  nachhaltig  sein.  Allzu  nahe  bedrohten  die  Auto- 
daf6flammen  die  Büchersammler  und  die  Büchersammlungen;  allzu 
streng  hemmten  nicht  die  Bücherverbote  selbst  so  sehr  als  die  Furcht 
vor  der  Inquisition  das  Sammeln.  Denn  man  durfte  nicht  erfahren, 
ob  ein  Buch,  das  nicht  gefährlich  war,  seinem  Eigentümer  noch  ge- 
fährlich werden  konnte;  durfte  nicht  wissen,  ob  nicht  der  Bibelband 
den,  dem  er  nicht  erlaubt  schien,  tötete.  Die  erste  Bibelpolyglotte, 
schon  1502,  zur  Feier  der  Geburt  des  nachmaligen  Kaisers  Karl  V., 
geplant  und  verwirklicht  zu  haben  ist  freilich  das  Verdienst  des 
Francesco  Ximenes  [1436—1517].  50000  Dukaten  hatte  der 
Kardinal  auf  das  Buchdenkmal  verwendet,  dessen  erster  Band,  der 
Erstdruck  des  griechischen  Neuen  Testamentes,  am  10.  Januar  1514 
in  der  Werkstätte  zu  Alcalä  de  Henares  bei  Madrid,  wo  er  1508  die 
dortige  Universität  gegründet  hatte,  fertig  wurde  und  dessen  letzter 
sechster  Band  am  10.  Juli  1517,  vier  Monate  vor  dem  Tode  des 
Kirchenfürsten,  erschienen  ist.  Aber  wie  dieser  Erstdruck  des  griechi- 
schen  Neuen  Testamentes    dessen    einzige  in   Spanien    erschienene 

199 


SPANIEN 

Ausgabe  blieb,  so  trägt  der  asketische  Großinquisitor  als  Biblio- 
phile einen  Januskopf:  er,  der  die  eigene  Privatbibliothek  seiner 
Universität  hinterließ,  veranlaßte,  daß  die  berühmte  maurische 
Bücherei  in  Cordova  teilweise  verbrannt  wurde.  An  diesem  einem 
Beispiele  läßt  sich  die  einseitige  Entwicklung  des  Buchwesens  und 
mit  ihm  des  Büchersammelwesens  in  Spanien  bis  zum  neunzehnten 
Jahrhundert  ermessen,  die  auch  auf  die  Bibliotheken  des  Landes- 
herren, die  in  den  anderen  romanischen  Staaten  die  Anfänge  der 
größten  Landesbibliotheken  wurden,  eingewirkt  hat. 

Die  Büchersammlung  des  königlichen  Hauses  von  Spanien,  die 
von  Philipp  IL  1565  gestiftete  Eskorialbibliothek,  der  er  den  eigenen 
Handschriftenschatz  zuführte,  ist  bei  dem  Brande  des  Hierony« 
mitenklosters  San-Lorenzo-el-Real  1671  fast  mit  der  Hälfte  ihrer 
alten  Bestände,  unter  denen  auch  die  Bücherei  des  Don  Diego 
Hurtado  de  Mendoza  [u.  1503—1575]  war,  vernichtet  worden. 
Die  Madrider  Nationalbibliothek  ist  erst  1712  von  Philipp  V.  ge- 
gründet worden  —  sie  hat  die  altberühmte,  1455  von  P e d ro  Fe rn- 
nandez  de  Velasco,  conde  del  Haro  angelegte  Handschriften- 
sammlung aufgenommen  —•  Die  Lissaboner  Nationalbibliothek 
Portugals  entstand  erst  1796. 

Um  1500  hat  allerdings  in  Spanien  ein  Buchfreund  und  Bücher- 
sammler gelebt,  der  einen  der  höchsten  Namen  der  Weltgeschichte 
trug,  um  dessentwillen  man  ihn  schon  unter  den  berühmtesten 
Bibliophilen  der  Renaissance  nicht  vergessen  würde.  Doch  es  ist 
eigenes  Verdienst,  daß  ihn  in  deren  Reihe  eine  der  ersten  Stellen 
zuweist.  Eigenes  Verdienst  sein  weiter  Blick  für  den  internationalen 
Zusammenhang  des  Buchwesens,  der  über  die  Grenzpfähle  seiner 
Heimat  hinausschweifte;  eigenes  Verdienst  seine  stille  Sorgsamkeit, 
mit  der  er  auch  die  gering  geachteten  dünnen  Blätter  einer  neuen 
Zeit,  die  Flugschriften  aus  allen  Gebieten  des  Lebens,  die  Vorläufer 
der  Zeitungen,  aufhob  und  in  Sammelbänden  aufbewahrte. 

Der  jüngere  Sohn  des  großen  Christoph  und  der  Donna  Beatrix 
Enriquez  de  Arana,  Don  Fernando  Colon  [Colombo]  [1488—1539], 
als  Geograph  und  Kosmograph  verdienstvoll,  hatte  seinen  Vater 
1502  auf  der  vierten  Reise  nach  Amerika  begleitet,  sich  1509  in 

200 


16.  JAHRHUNDERT 


Haiti  aufgehalten  und  sodann  in  den  Jahren  1510  bis  1537  auf  aus- 
gedehnten Reisen  in  Italien,  England,  Frankreich,  den  Nieder- 
landen^  Deutschland  eine  Bücherei  von  12000  Bänden  gesammelt, 
die,  nach  seiner  letztwilligen  Verfügung,  dem  Dominikanerkloster 
San  Pablo  in  Sevilla  anheimfiel,  nebst  einer  größeren  Geldsumme  zu 
ihrer  Unterhaltung  und  zu  ihrer  Ergänzung  durch  regelmäßige  An- 
käufe in  den  sechs,  nach  der  Ansicht  dieses  Bücherfreundes,  Haupt- 
städten des  damaligen  Buchhandels  [Rom,  Venedig,  Nürnberg,  Ant- 
werpen, Paris,  Lyon].  Das  Vermächtnis  wurde  zwar  angetreten, 
aber  nicht  im  Sinne  des  Don  Fernando  ausgeführt,  und  die  seinen 
Nahmen  tragende  Colombina  verlor  nicht  allein  vielen  wertvollsten 
Besitz  durch  Diebstähle.  Mehr  noch  scheint  durch  die  lange  Vernach- 
lässigung der  Bücher  verloren  gegangen  zu  sein,  darunter  vielleicht 
auch  der  literarische  Nachlaß  von  Christoph  Columbus,  dessen  Bio« 
graph  Don  Fernando  war,  und  dessen  Portojane  und  anderen  Doku-« 
mente  er  vermutlich  besessen  hat.* 

Auch  ein  Bibliophilenroman  sondergleichen  ist  das  Meisterwerk 
des  spanischen  Schrifttums,  des  Miguel  de  Cervantes  Saavedra:  Don 
Quixote.  Die  Bücherei  des  edlen  Ritters,  sein  Glück  und  sein  Leid, 
ist  kläglich  vernichtet  worden  und  mit  ihr  die  alte  Zeit  der  Bücher- 
freuden seines  Vaterlandes.  Das  Werk,  das  den  Ritterroman  ver- 
nichten wollte,  wuchs  über  seine  Absicht  hinaus  und  wurde  zum 
Mittelpunkt  eines  neuen  spanischen  Schrifttums;  zu  einem  nicht 
allein  von  den  Bibliophilen  seines  Ursprungslandes  verehrten  Buch- 
denkmal. Bibliographie  und  Literarhistorie  haben  seit  dem  acht- 
zehnten Jahrhundert  die  notwendigen  Vorarbeiten  geleistet,  auf 
denen  sich  die  Bücherliebhaberei  und  das  Büchersammelwesen  im 
Spanien  des  zwanzigsten  Jahrhunderts  gründet,  die  weit  weniger 
als  in  den  anderen  romanischen  Staaten  in  gegenseitigen  Wechsel- 
beziehungen mit  der  europäisch-internationalen  Bibliophilie  stehen. 
Zwar  sind  gelegentlich  bekannte  spanische  Büchereien  auch  auf  den 
großen  Sammelmärkten  in  London  und  Paris  aufgelöst  worden.  Zu- 
meist jedoch  blieben  sie  im  Bücherkreislaufe  ihrer  Heimat,  wo  in  der 
ersten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  diejenige  Liebhaber- 
bücherei entstanden  ist,  deren  Muster  seitdem  nie  wieder  von  einer 

*Ahb.  118,119  201 


SPANIEN 


Privatbibliothek  Spaniens  erreicht  worden  ist  und  deren  Verzeich- 
nis die  erste  allgemeine  grundlegende  Bücherkunde  des  spanischen 
Schrifttums  wurde.  Die  Anfangsbuchstaben  V.  und  P.  auf  ihrem  be- 
scheidenen Bücherzeichen*  erinnern  daran,  daß  sie  das  gemeinschaft- 
liche Werk  des  D.  Vicente  Salvd  y  Mallen,  der  lange  in  London 
als  Altbuchhändler  gelebt  hatte  und  1849  auf  einer  Bücherreise  in 
Paris  verstarb,  und  seines  1869  gestorbenen  Sohnes  D.  Pedro  ge- 
weseni  st,  der,  schweren  körperlichen  Leiden  zum  Trotz,  die  Erinne- 
rung an  diese  einstmals  berühmteste  Privatbibliothek  Valencias 
wenigstens  in  ihrem  Kataloge  fortdauern  ließ.  Die  Sammlung  selbst 
kam  mit  ihren  wichtigsten  Teilen  in  die  Bücherei  Ricardo  He- 
redias,  Comte  de  Benahavis,  mit  der  sie  1891  zerstreut  worden 
ist.  Sie  teilte  so  das  Schicksal  der  anderen  berühmtesten,  im  neun- 
zehnten ^Jahrhundert  in  Spanien  entstandenen  Liebhaberbücherei, 
der  Morante-Sammlung. 

Don  Joachim  Gomez  de  la  Cortina  wurde  1808  in 
Mexiko  geboren,  als  der  dritte  Sohn  des  Don  Vicente  Gomez  de  la 
Cortina.  Don  Vicente  [von  seiner  Gemahlin  Conde  de  la  Cortina] 
entstammte  einer  vornehmen  Familie  der  Provinz  Santander  und 
kehrte,  als  der  mexikanische  Aufstand  gegen  das  Mutterland  be- 
gann, in  die  Heimat  zurück.  Don  Joachim,  der  in  Alcala  die  Rechte 
studiert  und  zum  Doktor  juris  utriusque  promoviert  hatte,  blieb 
dieser  Universität  als  Lehrer  des  kanonischen  Rechtes  verbunden 
und  wurde  mit  deren  Übersiedlung  nach  Madrid  [1840],  kaum 
32  Jahre  alt,  Rektor  der  neuen  Universität.  Doch  mußte  er  schon 
1842  seine  rasche  wissenschaftliche  Laufbahn  aufgeben,  da  ihn  der 
Tod  seines  Vaters  zwang,  zur  Ordnung  seiner  Vermögensverhält- 
nisse nach  Mexiko  zu  reisen.  1844  wieder  nach  Spanien  zurück- 
gekehrt, 1847  Marques  de  Morante  geworden,  war  er  von  1851  bis 
1853  noch  einmal  Rektor  der  Universität  Madrid,  um  dann  als 
Richter  dem  obersten  Gerichtshofe  des  Landes  anzugehören.  1859 
wurde  er  Senator  und  gab  erst  kurze  Zeit  vor  seinem  Tode  seine 
Ämter  auf,  um  sich  ganz  seiner  Büchersammlung  widmen  zu  können. 
Daß  ihm  der  Staatsdienst  als  eine  ehrenvolle  Pflicht,  der  er  sich 
nicht  entziehen  durfte  und  wollte,  erschien,  macht  den  noblen  Zug 

202  *Abb.  I20 


19.  JAHRHUNDERT 

im  Bilde  dieses  spanischen  Granden  verständlich,  den  uns  sein 
Biograph  F.  A.  Barbieri  überliefert  hat.  Niemals  hat  Morante  eine 
ihm  aus  einem  Amte  zukommende  Einnahme  für  sich  verwendet  und 
immer  auf  sein  Gehalt  teils  zugunsten  des  Staates  verzichtet,  teils 
es  den  Armen  zukommen  lassen. 

So  hatte  er  nicht,  wie  sein  Zeitgenosse  Grenville,  seine  Sammel- 
leidenschaft mit  Mitteln  befriedigt,  die  aus  einem  von  der  Nation 
reich  dotierten  Amte  flössen;  deshalb  wohl  auch  nicht,  wie  der  vor- 
nehme Brite,  seine  Bibliothek  als  ein  Vermächtnis  der  Nation  hinter- 
lassen, was  in  Hinsicht  auf  ihr  späteres  Schicksal  sehr  zu  bedauern 
ist.  Persönlich  anspruchslos  verleugnete  der  Marques  de  Morante 
in  seiner  Lebensführung  nicht  den  grandseigneur;  unterhielt  eine 
zahlreiche  Dienerschaft,  die  er  nicht  brauchte;  war  bei  aller  Ge- 
nauigkeit in  seinen  Ausgaben  immer  darauf  bedacht,  auch  den  An- 
schein der  Knauserigkeit  zu  vermeiden.  Auch  dafür  ist  eine  Anek- 
dote bezeichnend:  als  seine  Wäscherin  sich  einmal  um  einen  ochavo 
[etwa  um  zehn  Pfennige]  verrechnet  hatte,  gab  er  ihr  zunächst  ein 
Goldstück,  um  sie  wegen  dieses  Rechenfehlers  ausschelten  zu  können. 
Er  machte  keine  großen  Reisen,  besuchte  keine  öffentlichen  Feste 
und  keine  Theater,  war  von  ungewöhnlicher  Nüchternheit,  den 
Tafelfreuden  abgewandt  wie  der  auf  ihnen  gegründeten  Geselligkeit, 
trank  fast  keinen  Wein,  verzichtete  auf  Kaffee,  Tee,  Spirituosen, 
rauchte  und  schnupfte  nicht;  kurz,  er  war  mäßig  bis  zum  Exzeß. 
Am  liebsten  verbrachte  er  den  Tag  allein  unter  seinen  Büchern,  für 
die  er  drei  Marmorsäle  seines  Palastes  hatte  einrichten  lassen;  nach- 
lässig  gekleidet,  Pantoffeln  an  den  Füßen,  auf  der  Bücherleiter 
sitzend,  bald  Bücher  lesend,  bald  ordnend.  Wenn  nicht  sein  Auf- 
treten als  Grande,  wo  das  ihm  erforderlich  schien;  wenn  nicht  seine 
ausgedehnte  amtliche  Berufstätigkeit  und  seine  große  Wohltätigkeit 
ihn  dagegen  geschützt  hätten,  würden  ihn  Fernerstehende  wohl 
leicht  für  eines  jener  Originale  haben  halten  können,  die  man  Biblio- 
manen  nennt,  zumal  seine  Leidenschaft  des  Lateinredens  und  seine 
nicht  gerade  gewöhnlichen  Umgangsformen  das  Absonderliche  seines 
Wesens  noch  schärfer  hervortreten  ließen.  Aber  ein  Bibliomane 
ist  der  Marques  de  Morante  keineswegs  gewesen.  Seine  Bücherleiden- 

203 


SPANIEN 

Schaft  war  im  Gegenteil  nur  eine  Äußerung  seiner  großen  Gelehrsam- 
keit; im  besonderen  seiner  Vorliebe  für  die  lateinische  Sprache  und 
ihre  Schriftsteller.  Wie  er  am  liebsten  lateinisch  redete  und  schrieb, 
so  sammelte  er  mit  Vorliebe  lateinische  Bücher.  Doch  war  er  weder 
ein  um  das  Luxusbuch  bemühter  Amateur  noch  ein  Raritäten] äger; 
recht  eigentlich  nur  ein  auch  als  Schriftsteller  auf  seinen  Gebieten 
nicht  unbedeutender  Forscher,  dem  es  seine  Mittel  erlaubten,  über 
einen  großen  kostspieligen  Bücherbesitz  verfügen  und  seinen  Büchern 
auch  äußerliches  Ansehen  geben  zu  können.  Allerlei  Schrullen  des 
Marques  .steigerten  sich  in  den  letzten  Lebensjahren  zu  einer  krank- 
haften Reizbarkeit  und  sein  Tod  [1868],  infolge  eines  Sturzes  von  der 
Bücherleiter,  bewahrte  ihn  vor  völliger  geistiger  Umnachtung.  In  der 
von  seinem  Vater  in  Salazar  gestifteten  Kirche  wurde  er  beigesetzt. 
Der  Marques  de  Morante  hatte  im  Grunde  weder  die  Anschauun- 
gen noch  den  Ehrgeiz  eines  Bibliophilen;  teilte  nicht  den  Geschmack 
der  großen  englischen  und  französischen  Sammler  seiner  Zeit,  wenn 
er  sich  auch  auf  manchen  Sammelgebieten  häufiger  mit  ihnen  be- 
gegnete. Denn  ein  Mann,  der  schon  als  junger  Student  in  Alcala 
systematisch  zu  sammeln  begonnen  hatte  und  der  späterhin  zwei 
Drittel  seines  Jahreseinkommens  von  125000  Franken  für  die  Ver- 
mehrung seiner  Bibliothek  aufwendete,  mußte,  ob  er  6s  nun  wollte 
oder  nicht,  in  der  Bibliophilenwelt  Ansehen  gewinnen.  Bei  den 
Pariser  Altbuchhändlern  und  Buchbindern  war  er  denn  auch  ein 
hochgeschätzter  Kunde,  während  sein  Name  weiteren  Kreisen  erst 
durch  einen  von  G.  Brunet,  anläßlich  des  Erscheinens  des  achten 
Bandes  des  Katalogs  der  Morante-Bibliothek,  im  „Bulletin  du 
Bibliophile^'  veröffentlichten  Aufsatzes  bekannt  geworden  ist.  Paul 
Lacroix  erzählte  einmal,  wie  er  Motteley  traf,  der  soeben  mit  ein 
wenig  entrüstetem  Erstaunen  von  Duru  zurückkam.  „Duru  hat 
ein  paar  meiner  Einbände  liegen  lassen^',  sagte  Motteley,  ,,um 
andere  auszuführen,  die  nur  ein  ausgezeichneter  Bibliophile  bestellen 
und  ein  Fürst  bezahlen  kann.  Er  arbeitet  also  gerade  für  den  Duc 
d'Aumale  und  deshalb  bescheide  ich  mich  mit  Vergnügen.**  Als 
Motteley  nun  hörte,  der  Marquis  de  Morante  sei  jener  ihm  unbe- 
kannte Mäzen  des  langsamen  Duru,  rief  er  bewundernd  aus:    „End- 

204 


19.  JAHRHUNDERT 

lieh  lebt  also  aueh  in  Spanien  ein  Bibliophile!'*    [Ein  Ausruf ,  der 
freilich  mehr  pathetisch  als  richtig  war.]* 

Als  der  Marques  de  Morante  starb ,  enthielt  seine  Bibliothek  in 
rund  21021  Nummern  über  120000  Bände  vorzugsweise  lateinischer 
Werke;  war  also  ihrem  äußeren  Umfange  nach  eine  der  größten  im 
neunzehnten  Jahrhundert  gesammelten  Privatbibliotheken,  über 
deren  Inhalt  ein  von  ihrem  Besitzer  herausgegebenes  gedrucktes  um* 
fangreiches  Verzeichnis  Auskunft  gibt.  Eine  seltsame  Besonderheit 
des  Bücherinventars,  das  sich  der  Marques  de  Morante  drucken  ließ, 
ist  die  Aufzählung  der  vielfach  vorhandenen  Bücher.  Man  weiß  nicht 
recht,  ob  er  nur  aus  Vergeßlichkeit  oder  aus  anderen  nicht  zu  er- 
klärenden Gründen  das  gleiche  Buch  in  einer  ganzen  Anzahl  von 
Exemplaren  seiner  Bibliothek  beifügte.  So  besaß  er  bei  seinem  Tode 
von  den  sieben  meist  in  siebzehn  gebundenen  Bänden  des  Lampas 
sive  fax  Gjruters  dreizehn  Abzüge,  und  er  hat,  nach  seinem  Katalog 
zu  schließen,  jedes  Exemplar,  das  er  fand,  gekauft.  Die  Beispiele 
dafür,  daß  er  von  gar  nicht  weiter  bemerkenswerten  Büchern  Exem- 
plar zu  Exemplar  fügte,  lassen  sich  häufen.  Vielleicht  darf  man 
daraus  schließen,  daß  der  Marques  de  Morante  nicht  ganz  frei  von 
jener  krankhaften  Bücherkaufsucht  gewesen,  von  der  der  Pariser 
Notar  Boulard  am  Ende  seines  Lebens  befallen  wurde;  ja  er  hat  wie 
dieser  eine  eigenartige  Vorliebe  für  die  bändereichen  Werke  und 
großen  Bücher  bei  seinen  vielen  Mehrfacherwerbungen  gezeigt,  sich 
aber  sonst  nicht  wie  Boulard  an  ganz  sinnlosen  Ankäufen  erfreut, 
sondern  immer  Bücher  erworben,  die  er  seiner  Sammelrichtung  nach 
brauchen  konnte. 

Bei  dem  Umfange  der  Morante-Bibliothek,  bei  den  vielen  kost- 
baren Büchei'n,  die  sie  erhielt,  ist  es,  wie  Richard  Copley  Christie 
mit  Recht  hervorhebt,  bemerkenswert,  daß  ihr  die  Stücke  aller- 
ersten Ranges  fehlen.  Jene  Cimelien,  über  deren  Vorhandensein  in 
einer  berühmten  Liebhaberbücherei  die  Bibliographien  Buch  führen, 
jene  allerteuersten  Werke,  deren  hohe  Versteigerungspreise  die 
Merkmale  für  die  Auflösung  der  Sammlung  eines  ,, großen"  Biblio- 
philen zu  sein  pflegen.  Dieser  Mangel  ist  wohl  darin  begründet,  daß 
der  Marques  de  Morante  eben  nicht  den  Ehrgeiz  des  Amateurs  hatte, 

♦Abb.  12  f  205 


SPANIEN 

mehr  Gelehrter  blieb  als  er  Bibliophile  wurde.  Er  hatte  nur  zwei  nicht 
einmal  besonders  beachtenswerte  Pergamentdrucke;  die  Editiones 
principes  der  griechischen  und  römischen  Klassiker  waren,  merk- 
würdig genug  für  die  mit  einem  so  großen  Aufwände  errichtete 
Bibliothek  eines  Latinisten,  keineswegs  sehr  zahlreich,  nicht  syste- 
matisch gesammelt,  sondern  mehr  zufällig  in  die  Sammlung  gelangt. 
Beachtet  man  die  Zeit,  in  der  die  Morante-Bibliothek  entstand,  so 
ist  ein  ältester  Horaz  von  1477,  ein  ältester  Vergil  von  1492  in  einer 
hauptsächlich  der  lateinischen  Literatur  gewidmeten  Privatbiblio- 
thek eines  eifrigen  und  wohlhabenden  Sammlers  nicht  gerade  etwas 
Besonderes.  Immerhin  fand  sich  in  der  Morante- Kollektion  auch 
eine  Anzahl  Editiones  principes  von  höchstem  Wert;  ihre  Haupt- 
bedeutung liegt  aber  in  der  lateinischen  Literatur  des  sechzehnten 
bis  neunzehnten  Jahrhunderts,  die  in  solcher  Vollständigkeit  in 
keiner  anderen  Privatbibliothek  vorhanden  gewesen  ist;  di6  ge- 
wissermaßen die  Analyse  wurde,  die  ein  Büchersammler  aus  der  ge- 
waltigen internationalen  lateinischen  Literatur  bis  zu  deren  Auf- 
hören zog.  Da  der  Marques  de  Morante,  obschon  selbst  frommer 
KathoUk,  auch  die  Schriften  der  Reformationsbewegung  und  ihrer 
Vertreter,  dazu  die  atheistischen,  häretischen,  ketzerischen  Schriften 
mit  Eifer  'gesammelt  hat,  konnte  er  Ausgabenreihen  von  Werken 
auch  weniger  genannter  Vertreter  jener  großen  religiösen  Epoche 
in  seinem  Bibliothekskataloge  verzeichnen,  die  heute  zusammen  zu 
bringen  nicht  wenig  Mühe  machen  würde.  Die  Fülle  der  historischen 
Exemplare,  der  Bücher  berühmter  Abstammung  oder  mit  Ein- 
bänden berühmter  Buchbinder  ist  überraschend,  aber  sie  kommt  in 
der  großen  von  dem  Kataloge  registrierten  Büchermasse  nicht  recht 
zur  Geltung.  Sicherlich  hätte  die  Morante-Bibliothek,  wenn  sie  in 
geschickter  Weise  verzeichnet  unter  den  Hammer  gebracht  worden 
wäre,  durch  diese  Auktion  eine  Gleichstellung  mit  den  berühmtesten 
Liebhaberbüchereien  des  neunzehnten  Jahrhunderts  gewonnen.  Aber 
die  ungünstigen  Umstände,  unter  denen  sie  aufgelöst  worden  ist, 
haben  ihr  beinahe  noch  die  geringe  Berühmtheit  genommen,  die  sie 
wenigstens  zu  Lebzeiten  ihres  Sammlers  genoß.  Der  von  den  Erben 
mit  Ungeduld  betriebene  Verkauf  der  Morante-Bibliothek  war  wenig 

206 


19.  JAHRHUNDERT 

von  Glück  begünstigt.  Zwar  hatte  kaum  ein  Jahr  nach  dem  Tode 
ihres  Begründers  die  Pariser  Altbuchhandlung  Bachelin-Deflorenne 
die  ganze  Sammlung  erworben,  um  sie  zur  Versteigerung  zu  bringen, 
und  der  im  letzten  Jahrzehnt  des  zweiten  Kaiserreiches  sehr  hoch 
gestiegene  Bibliophilen-Enthusiasmus  ließ  besonders  für  die  nicht 
wenigen  Kostbarkeiten  einen  hohen  Erlös  erhoffen.  Aber  alle  diese 
Hoffnungen  zerstörte  der  Ausbruch  des  deutsch -französischen 
Krieges  und  dessen  Nachwirkungen.  Das  Ende  der  Commune  im 
Mai  1871  hatte  die  unfreiwillige  zweijährige  Ruhepause  der  großen 
Pariser  Bücherversteigerungen  unterbrochen.  Schon  sehs  Monate 
später  zeigte  Bachelin-Deflorenne  die  Auktion  eines  ausgewählten 
Teiles  der  Morante-Bibliothek  an,  von  der  eine  größere  Partie  rasch 
nach  Paris  geschafft  und  durch  den  Bibliothekar  Firmin-Didots, 
Leon  Scott  de  Martinville,  katalogisiert  worden  war.  Am  27.  Fe- 
bruar 1872  und  den  zehn  folgenden  Tagen  fand  im  Hotel  Drouot 
die  erste  Vente  Morante  statt,  deren  1909  Nummern  die  Auslese 
der  Auslese  waren.  Und  das  wurde  Bachelin-Deflorenne  zum  Ver- 
hängnis. Die  Versteigerung  war  von  ihm  überstürzt  worden,  die 
französischen  Sammler  waren  noch  nicht  recht  zur  Ruhe  gekommen, 
brachten  auch  einer  nur  teilweise  ihren  Geschmack  befriedigenden 
Kollektion  weniger  Interesse  entgegen;  in  England  hatte  der  Katalog 
nicht  genügende  Verbreitung  gefunden,  kurz,  das  stolze  Wort  von 
Bachelin-Deflorenne  in  seinem  eben  notgedrungen  eingehenden 
„Bibliophile  Frangais**,  das  Ergebnis  von  120000  Franks  habe  alle 
Erwartungen  Jübertroffen,  war  nur  eine  Notlüge.  Ungefähr  die 
Hälfte  aller  Nummern  war  zurückgekauft  worden,  viele  Bücher 
hatten  nicht  den  vom  Marques  de  Morante  selbst  bezahlten  Preis  er- 
reicht, nur  vier  waren  mit  mehr  als  1000  Franken  bezahlt  worden, 
keines  hatte  die  Summe  von  2000  Franken  erreicht,  nur  94  hatten 
mehr  als  200  Franken  gebracht.  Es  war  ein  vollkommenes  Fiasko 
gewesen  und  wenn  auch  einzelne  Stücke  später  mit  höheren  Preisen 
in  den  antiquarischen  Katalogen  von  Bachelin-Deflorenne  angesetzt 
aus  diesen  verkauft  wurden,  so  bleibt  doch  der  Eindruck  bestehen, 
daß  die  erste  Morante- Versteigerungen  ihrem  völligen  Mißlingen 
nach  sich  von  den  Auktionen  bedeutender  Liebhaberbüchereien  des 

207 


BELGIEN 

neunzehnten  Jahrhunderts  nur  der  1835  verunglückten  Londoner 
Auktion  der  Bibliothek  des  Frankfurter  Sammlers  Dr.  Kloß  ver- 
gleichen läßt.  Womöglich  noch  kläglicher  war  der  Ausfall  der  zweiten 
Versteigerung  [Mai  1872  —  1064  Nummern]  und  der  der  dritten 
Versteigerung  [Januar  1873  —  1039  Nummern].  Bis  1875  versuchte 
dann  Bachelin-Deflorenne  für  die  zurückgekauften  und  zurück- 
gebliebenen Bücher  durch  antiquarische  Kataloge  Käufer  zu  finden. 
Auch  hier  blieb  der  Erfolg  aus.  Eine  Versteigerung,  die  im  April  1875 
in  der  Salle  Sylvestre  stattfand,  begann  dann  mit  dem  Rest  der 
Morante-Bibliothek  aufzuräumen.  Ihre  Preise  blieben  sogar  für  die 
gleichen  Exemplare  noch  hinter  denen  der  Auktion  von  1872  zurück. 
Zwei  weitere  Auktionen  folgten  1878  und  1879  an  gleicher  Stelle,  das 
letzte  Drittel  der  am  wenigsten  bemerkenswerten  Bücher  war  schon 
zum  Teil  vorher  ohne  jede  Namensnennung  ihres  Vorbesitzers  ver- 
kauft worden  und  wurde  nachher  weiter  verschleudert.  Das  ist  die 
traurige  Geschichte  des  Unterganges  einer  der  besten  Privatbiblio- 
theken des  neunzehnten  Jahrhunderts,  deren .  Trümmer  so  zahlreich 
sind,  daß  man  sich  oft  kaum  die  Mühe  nimmt,  ihren  Ursprung  zu 
bestimmen.  Und  doch  verdiente  es  die  Morante-Bibliothek,  auch 
eine  Provenienz  hohen  Ranges  zu  sein,  — 

Wendet  sich  der  Blick  von  Spanien  her  den  alten  spanischen 
Niederlanden  zu,  so  erkennt  er  deutlich,  wofern  er  sich  auf  die  Be- 
ziehungen, die  die  Bibliophilie  dieser  Länder  mit  ihren  Nachbar- 
staaten verbinden,  richtet,  daß  hier  die  Brücken,  auf  denen  die 
Bücher  her-  und  hinüberkamen,  im  jahrhundertelangen  Wechsel 
ebenso  nach  Frankreich,  Italien,  Spanien  wie  nach  England  und 
nach  den  deutschen  Staaten  geführt  haben;  je  nachdem  die  po- 
litischen Umstände  sie  vernachlässigten  oder  verstärkten.  Erst  im 
neunzehnten  Jahrhundert  tritt  auch  hier  eine  klarere  Scheidung, 
entsprechend  ihrer  politischen  Trennung,  zwischen  Belgien  und 
Holland  hervor. 

Als  Philippe  le  Hardi,  Duc  de  Bourgogne  [1342—1404], 
der  vierte  Sohn  des  Königs  Johann  des  Guten  von  Frankreich  und, 
1363,  der  Stifter  des  jüngeren  Hauses  Burgund,  1384  das  Erbe  seiner 
Gemahlin  Marguerite,  der  Erbtochter  des  Grafen  Ludwig  III.  von 

208 


15.  JAHRHUNDERT 

Flandern  [Louis  de  Male]  mit  seinem  Herzogtum  vereinen  und  in 
seiner  Residenz  Dijon  eine  königliche  Hofhaltung  entfalten  konnte, 
war  ein  bücherliebender  Fürst  in  ein  bücherliebendes  Land  gekom- 
men. Angesehen  waren  schon  in  diesen  niederländischen  Staaten 
Buchgewerbe  und  Schrifttumspflege  gewesen,  unterstützt  von  den 
Herzögen  von  Brabant  und  den  Grafen  von  Flandern,  die  Büchereien 
einiger  flämischer  Klöster  waren  weitbekannt.  Beträchtlich  mehrte 
den  Bücherschatz  Karls  des  Kühnen  der  Büchernachlaß  seines 
Schwiegervaters,  er  selbst,  darin  wie  seine  Brüder,  Karl  V.,  der  Ge- 
lehrte, König  von  Frankreich  und  Jean,  duc  de  Berry,  den  Valois 
nicht  verleugnend,  ergänzte  ihn  durch  eigene  Erwerbungen  und  sein 
Sohn,  Jean  sans  Peur,  stand  hierin  dem  Vater  nicht  nach.  Aber  der 
eigentliche  Begründer  der  Bücherei  der  Herzöge  von  Burgund,  die 
heute  mit  ihren  letzten  Überresten  die  Biblioth^que  royale  in  Brüssel 
ziert,  ist  dessen  einziger  Sohn,  Philippe  le  Bon  [1396—1467]  ge- 
wesen. Er,  unter  dessen  Herrschaft  die  burgundischen  Länder  eine 
Machtstellung  europäischer  Zivilisation  gewannen,  war  ein  Bücher- 
sammler sondergleichen,  der  in  seiner  ,,librairie*^  nur  Bände  haben 
wollte,  „non  pareille  k  toutes  autres^\  Er  beschäftigte  die  be-,, 
deutendsten  Buchmaler  und  Schreiber  in  Italien  und  Portugal,  in 
England  und  Frankreich,  er  unterhielt  ein  großes  Scriptorium  in 
Brüssel,  und  die  Kopisten  und  Kompilatoren  in  seinen  Diensten 
mußten  die  besten  Bücher,  die  zu  haben  waren,  heranschaffen  oder 
herstellen,  heilige  und  weltliche.  Die  reichste  und  schönste  Samm- 
lung seiner  Zeit,  verteilt  auf  die  Städte  Antwerpen,  Brügge,  Brüssel, 
Dijon  und  Paris  nannte  er  sein  eigen,  3211  Manuskripte  hinterließ 
er,  von  denen  fast  alle,  soweit  sich  erhielten,  unter  den  Meisterwerken 
der  Miniaturmalerei  einen  außerordentlichen  Rang  haben,  seinem 
Sohn  Charles  le  temeraire,  nur  nicht  sein  Bibliophilentemperament, 
das  er  seinem  „großen  Bastard^^  Anton  von  Burgund,  Rafael  de 
Marcatellis,  vererbte,  der  als  Abt  von  Saint-Bavon  für  sein  Kloster 
eine  prächtige  Sammlung  schuf,  die  später  teilweise  in  die  Genter 
Universitätsbibliothek  kam. 

Büchereien,  denen  sich  nur  die  von  König  Ludwig  XII.  von 
Frankreich  erworbene  und  jetzt  in  der  Nationalbibliothek  in  Paris 

BOGENQ    14  209 


BELGIEN 

befindliche  des  [1492  gestorbenen]  Louis  de  Bruges,   seigneur 
delaGruthuyse  vergleichen  läßt,  die  man  wegen  ihres  Aufwandes 
das  bibliographische  Wunder  ihrer  Zeit  nannte.    Maria,  Philipp  des 
Gütigen  einzige  Tochter,  die  unter  den  sieben  um  sie  werbenden 
Prinzen  Maximilian  von  Osterreich  gewählt  hatte,  vermochte  ihr 
Erbe  nicht  zu  bewahren,  weder  Bücher  noch  Länder  konnte  sie  mehr 
zusammenhalten.     Nach  ihrem   frühen  Tode   [1482]   begannen  die 
langandauernden   Streitigkeiten  um   das   Herzogtum,   in   denen   es 
zerfiel.    Die  Bibliothek  in  Dijon  schenkte  König  Ludwig  XL  von 
Frankreich,  dem  die  Städte  in  der  Pikardie  und  die  als  Mannlehen 
eingezogene    Bourgogne    angefallen    waren,    dem    Gouverneur    der 
neuen  Provinz,  George  de  la  Tremouille,  aus  dessen  Besitz  sie 
in  den  der  Familie  Guy  de  Rochefords  und  endlich  in  die  National- 
bibliothek  in   Paris   gelangte,   während   die   anderen   Bibliotheken 
von  Maria  in  Brüssel  vereinigt  wurden,  die  sich  indessen  rasch  wieder 
über   Deutschland,   Frankreich,   Schweden  zerstreuten,     da   Kaiser 
Maximilian  I.,  ,,le  Necessiteux'^  ,,le  Sans-Argent^',  der  in  Geldnot 
schmachtende,  ihre  Kostbarkeiten  verpfänden  und  verfallen  lassen 
mußte.    Das  mag  gerade  diesem  begeisterten  Buchfreunde  ein  hartes 
Los    erschienen   sein.     Aber   vielleicht   war   eine   solche   Wendung, 
daB  der  große  Buchkunstfreund  des  sechzehnten  Jarhunderts  die 
Bücherei,   die   der   große   Buchkunstfreund   des   fünfzehnten   Jahr- 
hunderts errichtet  hatte,  an  die  Wucherer  aufgab,  auch  ein  Zeichen 
der  neuen  Zeit  gewesen,  die  die  Buchhandschrift  der  Gotik  verloren 
gehen  ließ,  um  das  Druckwerk  der  Renaissance  zu  erheben.    Kaiser 
Maximilians  I.  Tochter  Margarete  von  Osterreich,  Statthalterin  der 
Niederlande,   als   sie   den   Wiederaufbau   der  auseinandergerissenen 
Büchereien  unternahm,  vermehrte  sie  bereits  mit  den  besten  eben 
erscheinenden  gedruckten  Büchern,  ohne  deshalb  auf  den  Erwerb 
der    Buchhandschriften    zu    verzichten.       Bevor    Philipp    IL,     der 
Escorialbibliothekstifter,      die     niederländisch-burgundischen    Pro- 
vinzen verließ,  um  sich  nach  Spanien  zu  begeben,  betraute  er  1559 
den  Präsidenten  seines  geheimen  Rates,  VigUus,  damit,  die  in  den 
einzelnen     königlichen     Residenzen    aufgestellten     Büchereien     im 
Königlichen  Schlosse  zu  Brüssel  zu  vereinen.  Und  1594  erließ  Erz- 

210 


18.  JAHRHUNDERT 

herzog  Ernst  den  [Befehl,  daß  von  einem  jeden  im  Lande  gedruckten 
Buche  ein  Exemplar  im  Lederbande  der  Königlichen  Bibliothek  zu 
liefern  sei,  wovon  das  Buchdruckerprivilegium  abhängig  gemacht 
wurde.  Albert  und  Isabelle  bewiesen  der  Bibliothek  auch  noch 
einige  fördernde  Teilnahme,  dann  verfiel  sie  in  den  kriegerischen 
Wirren,  die  die  belgischen  Provinzen  heimsuchten,  vernachlässigt 
von  den  Generalstaaten,  immer  weiter.  1731  verbrannte  sie,  als  eine 
Feuersbrunst  den  Königlichen  Palast  in  Brüssel  verheerte,  mit 
vielen  ihrer  wertvollsten  Bände,  deren  in  Kellern  untergebrachten 
Reste  dort  verkamen  oder  von  den  Franzosen  unter  dem  Marschall 
von  Sachsen  bei  der  Eroberung  Brüssels  im  Jahre  1746  nach  Paris 
verschleppt  wurden.  Erst  in  der  1837  als  belgische  Nationalbibliothek 
gegründeten  Biblioth^que  royale  kam  die  Bibliothique  de  Bourgogne 
mit  ihren  letzten  Trümmern  zu  einer  neuen  Vereinigung  und  zu 
neuem  Wachstum. 

Daß  diese  neue  Bibliotheque  royale  von  Anfang  an  zu  einem 
nationalen  Bücherschatz  werden  konnte,  verdankte  sie  vor  allem 
einem  belgischen  Bibliophilen  seltener  Art,  Charles  J.  E.  van 
Hulthem  [1764—1832],*  dessen  Büchersammlung  —  sie  umfaßte 
29350  Druckwerke  in  63000  Bänden  und  1016  Handschriften  — 
1837  für  250000  Francs  von  der  belgischen  Regierung  angekauft 
wurde.  Nicht  allein  seiner  Gelehrsamkeit  und  seines  glücklichen 
Sammeleifers  wegen  genoß  Van  Hulthem  eines  weit  über  die  Grenzen 
seiner  Heimat  hinausreichenden  Rufes,  sondern  auch  wegen  der 
liebevollen  Zärtlichkeit,  die  er  seinen  Büchern  zuwendete.  Darüber 
gab  es  mancherlei  Geschichtchen  zu  hören.  Niemals  entzündete  er 
in  seinem  Bibliothekssaal  ein  Kaminfeuer  aus  Angst  für  seine  teuren 
Bände,  fror  ihn  an  den  Füßen,  dann  erwärmte  er  sie  durch  einen 
aufgelegten  Folianten.  Er  verzichtete  auf  den  Mantel,  als  er  im 
offenen  Wagen  während  eines  strengen  Winters  von  einer  Bücher- 
reise zurückkehrte,  nur,  damit  desto  bequemer  auf  seinen  Knien 
zwei  Quartanten  ruhen  konnten.  Ein  Bücher  Johannes,  wie  jener 
alte  Kanonikus  von  Gorkum,  Harius,  der,  als  er  seine  Bücher, 
die  er  nach  seinem  Tode,  1532,  Kaiser  Karl  V.  vermacht  haben  soll, 
nach  dem  Haag  überführte,  vom  Volke  ihres  großen  Vorrates  wegen 

W  *  Abb.  126  211 


BELGIEN 

diesen  Namen  erhielt.  Und  damals  in  den  Niederlanden  nicht  ein« 
mal  eine  Einzelerscheinung.  Auch  der,  1850  verstorbene,  Baron 
W.  H,  J.  Westreenen  van  Tielland,  der  seine  ein  halbes  Jahr- 
hundert hindurch  unter  dreifachem  Verschluß  gehaltene  Bücherei 
der  Stadt  Haag  hinterließ,  wo  sie,  nach  den  genauen  Bestimmungen 
seines  Testamentes  noch  heute  im  Museum  Meermanno-Westree- 
nianum*  verwaltet  wird,  hat  mit  ähnlicher  Ängstlichkeit  seinen 
Schatz  behütet  und  ihn  der  Nachwelt  zu  erhalten  gesucht.  In  dieser 
Fürsorge  kommt,  verwunderlich  vielleicht,  aber  doch  auch  wieder 
zweckvoll  die  Passion  des  Sammeins,  die  der  Sammlung  selbst  gilt, 
auf  einen  Höhepunkt.  Und  bei  aller  ihrer  Bizarrerie  möchte  sie 
eher  den  Buchfreund  kennzeichnen,  als  jene  Leichtigkeit,  mit  der 
sich  andere  Sammler  von  ihrem  Besitz  trennten  oder  gar  angestrengt 
für  den  Ruhm  einer  schönen  Versteigerung  ,arbeiteten*.  Es  sind 
Beispiele,  trotz  aller  ihrer  Verzerrungen,  eines  anderen  Sammler- 
temperamentes, das  nationale  Unterschiede  zeigt,  einer  kaltblütigen, 
ja  verbissenen  Zähigkeit,  die  in  den  angelsächsischen  und  germani- 
schen Ländern  die  großen  Büchereien  hervorrief,  die,  weil  sie  eines 
Einzelnen  Leistung  sind,  erstaunlichen  Organisationen  von  Privat- 
bibliotheken. Waren  doch  auch  in  ihrem  Buchwesen  die  nieder- 
ländischen Staaten  eine  Völkerscheide. 

Belgische  Patrioten  haben  dem  Jean  Brito  aus  Brügge  die  Buch- 
druckerfindung zuschreiben  wollen,  richtiger  scheint  jene  Ansicht, 
die  Johann  von  Paderborn  den  belgischen  Prototypographen  nennt, 
der  1473  aus  Deutschland  die  neue  Art,  Bücher  herzustellen,  in 
Belgien  einführte,  wo  um  die  Mitte  des  sechzehnten  Jahrhun- 
derts an  sechzig  Druckereiwerkstätten  bestanden  oder  bestanden 
hatten,  davon  über  die  Hälfte  in  Antwerpen,  der  damals  bedeutend- 
sten niederländischen  Stadt,  die  im  europäischen  Nordwesten  mit 
London  und  Paris  wetteiferte,  deren  wirtschaftliche  Wohlhaben- 
heit durch  Handel  und  Seefahrt  eine  Blüte  der  Gewerbe  und  Künste, 
mit  ihnen  des  geistigen  Lebens  entstehen  ließ.  In  Antwerpen  gab  es 
ein  ganzes  Buchdruckerviertel,  dessen  Großbetriebe  den  nach  Hun- 
derten zählenden  Kunstverwandten,  den  Buchbindern  und  Bücher- 
schließenherstellern,  den  Holzschneidern  und  Kupferstechern,  den 

212  *  Abb.  130 


19.  JAHRHUNDERT 

Schriftgießern  und  sonstigen  Werkstätten  eine  lohnende  Beschäfti- 
gung boten.  Sie  alle  überragte  der  aus  Frankreich  geflüchtete  Meister 
Christoph  Plantin,  der  jährlich  an  dreißig  neue  Werke  herstellte  und 
verlegte,  unter  dessen  Korrektoren  Gelehrte  wie  Kilian,  Poelman, 
J.  Lipsius  waren,  dessem  Enkel  und  Nachfolger  Balthasar  Moretus, 
ein  Rubens  die  Titelblätter  zeichnete.  Mit  den  acht  Bänden  seiner 
1568  bis  1578  veröffentlichten  Biblia  polyglotta  schuf  er  das  Gegen- 
stück des  Ximenesschen  Werkes,  wobei  seine  Opferwilligkeit  den 
Vergleich  mit  der  des  reichen  Spaniers  nicht  zu  scheuen  brauchte. 
Als  ein  Ehrendenkmal  des  außerordentlichen  Mannes  und  seines  bis 
in  das  neunzehnte  Jahrhundert  erhaltenen  Verlages  steht  das  Plan- 
tin-Moretus-Museum  in  Antwerpen,*  das  einzige  mit  seiner  alten 
Einrichtung  erhaltene  Haus,  das  von  der  Art  und  dem  Umfange  der 
großen  Betriebe  des  Buchgewerbes  im  sechzehnten  und  siebzehnten 
Jahrhundert,  die  sich  in  den  Geschlechtern  des  Aldus,  Giunta, 
Stephanus,  Elzevier  vererbten,  auch  in  unseren  Tagen  eine  hand- 
greifliche Vorstellung  gibt,  zeigt,  daß  die  Bodenständigkeit  des  Buch- 
gewerbes der  Kern  seiner  Kraft  geworden  war,  die  auch  das  Buch- 
wesen lokalisiert  und  mit  ihm  das  Büchersammelwesen,  in  dem 
sich  das  nationale  Element  nun  mehr  zum  internationalen  erweiterte, 
an  Stelle  jener  Kosmopolität  der  Humanistenzeit,  deren  Überein- 
stimmung in  einer  geistigen  Universalität  wurzelte,  die  das  Buch 
zum  Ausdruck  gebracht  hatte. 

Einer  solchen  Blüte  des  Buchgewerbes,  mochte  sie  auch  bald 
in  ihren  französischen  Verzweigungen  unter  der  alles  überstrahlenden 
Pariser  Sonne  verwelken,  entsprach  die  Bücherlust,  die  die  bel- 
gischen Büchersammlungen  zeigten,  von  der  des  Charles  duc 
de  Croy  de  Renty  [1560—1612]  und  der  mit  ihren  Anfängen  ins 
sechzehnte  Jahrhundert  zurückreichenden  der  Fürsten  von  Ligne,* 
bis  zu  der  Philipps,   Grafen   von   Flandern   [1837—1908]. 

Die  Ausbreitung  einer  nationalen  Bibliophilie  im  neuen  König- 
reiche Belgien,  das  sich  1831  von  den  anderen  Niederlanden  trennte, 
beweisen  die  seitdem  entstandenen  Büchersammlergesellschaften. 
Sie  zeigen  auch  die,  von  der  Sprachverschiedenheit  bedingte  dop- 
pelte Richtung,  in  der  sich  die  belgische  Bibliophilie  ebenso  wie  die 

*  Abb.  122,  123  213 


HOLLAND 

belgische  Literatur  seitdem  weiter  entwickelte,  sich  dabei  teils  den 
französischen,  teils  den  holländischen  Vorbildern  zuneigend,  so 
daß  die  belgischen  Privatbibliotheken  nach  Art  und  Zusammen- 
setzung bald  mehr  den  französischen,  bald  mehr  den  holländischen 
ähnlich  wurden.  Doch  blieben  die  geschichtlichen  Überlieferungen 
stark  genug,  um  gerade  in  den  größten  Liebhaberbüchereien  einen 
Ausgleich  zu  schaffen,  in  denen  ebenso  die  alten  flämischen  wie  die 
alten  französischen  Buchdenkmäler  einen  ihnen  nach  den  jeweiligen 
Neigungen  ihrer  Sammler  angemessenen  Platz  erhielten.  Bereits 
1835  entstand  in  Mons  die  Societe  des  Bibliophiles  Beiges, 
der  1839  in  Gent  die  Maatschappij  der  Vlaamsche  Biblio- 
philen folgte.  Seit  1863  bestand  in  Lüttich  die  Societ6  des 
Bibliophiles  Liegeois,  seit  1878  in  Antwerpen  die  Maat- 
schappij der  Antwerpsche  Bibliophilen.  Alle  diese  Ver- 
eine haben,  zumal  in  den  Anfängen  ihrer  Tätigkeit,  durch  ihre  Ver- 
öffentlichungen für  die  Bibliophilie  gewirkt  und  geworben,  in  ihren 
Mitgliederverzeichnissen  die  namhaftesten  belgischen  Büchersamm- 
ler des  neunzehnten  Jahrhunderts  geführt.  Seit  1909  steht  die 
Societe  des  Bibliophiles  et  Iconophiles  de  Belgiques  in 
Brüssel,  die  die  hervorragendsten  belgischen  Büchersammler  des 
zwanzigsten  Jahrhunderts  vereint,  an  der  ersten  Stelle  unter  den 
belgischen  Büchersammlergesellschaften. 

Das  Bibliotheksideal  des  sechzehnten  und  siebzehnten  Jahr- 
hunderts war  das  des  Polyhistors,  das  der  UniversaUtät,  der  Voll- 
ständigkeit. Man  suchte  nach  dem  Ausblick  in  die  Weite  einer 
Zimmerflucht,  die  die  noch  begrenzte  Bücherwelt  einteilte.  Man 
glaubte  noch  an  die  Möglichkeit,  ein  Gedankenmeer  in  Kanälen  der 
Wissenschaft  verwahren  zu  können.  Was  dem  Besitzer  und  Be- 
sucher die  Bibliothek  zeigte,  war  die  Kompilation  des  Wissens  der 
Zeit,  das,  soweit  es  nicht  die  Köpfe  herbergen  konnten,  wenigstens 
die  gedruckten  Seiten  hielten.  Bildung  und  Gelehrsamkeit  blieben 
das  gleiche,  den  Klassiker  las  man  cum  notis  variorum,  der  Huma- 
nismus nannte  sich  nun  Philologie,  die  Poesie  verlor  sich  in  den 
schönen  Wissenschaften.  Für  eine  vollständige  Bibliothek  müßte 
man    sechs    große  Zimmer    haben,    behauptete    autoritativ  Joseph 

214 


17.  JAHRHUNDERT 

Justus  Scaliger.  Die  Absichten  einer  öffentlichen  und  einer  Privat- 
bibliothek unterschieden  sich  nicht  wesentlich,  die  Bezwingung  der 
Büchermassen  erschien  durch  ihre  Aufhäufung  gewährleistet.  Ge- 
lehrsamkeit war  alles,  sogar  der  Büchereischmuck,  der  in  den  Kata- 
logen gern  als  supellex  antiquaria  verzeichnet  wurde.  Dieses  BibUo- 
theksideal  ist  freilich  nicht  häufig  verwirklicht  worden.  Wie  man 
es  sich  vorzustellen  liebte,  bezeugen  die  Exlibris-Blätter  mit  Büche- 
reiansichten, die  oft  nicht  die  Privatbibliothek,  der  sie  zugehörten, 
wiedergaben,  sondern  einen  Bächereiraum  in  seiner  erdachten  Voll- 
endung, die  Wände  mit  Bandreihen  bedeckt,  der  Büchertisch,  auf 
dem  die  gewaltigen  Globen  stehen,  in  der  Mitte  des  hohen  Saales. 
Ein  Bibliothekenparadies,  in  dem  Gelehrsamkeit  und  Schon- 
geisterei  noch  nicht  entzweit  waren,  bot  das  Holland  des  siebzehnten 
Jahrhunderts  mit  seinem  Sinn  für  behagliche  Lebensgestaltung  und 
reinliches  Sammlertum.  Der  Altbuchhandel  entwickelte  sich,  die 
Auktionen  kamen  auf,  für  die  in  Leyden  Ludwig  Elzevier  seit  1609 
das  Beispiel  gegeben  hatte.  Buchgewerblich  waren  die  Staaten  ein 
Umlegeplatz  der  Buchware,  eine  europäische  Vermittlungsstelle  und 
auch  geistig  übten  sie  einen  nicht  geringen  Einfluß.  Man  druckte 
die  in  Deutschland  und  England,  die  in  Frankreich,  Italien,  Spanien 
erschienenen  Bücher  nach,  man  druckte  aber  auch  die  in  diesen 
Staaten  verbotenen  Schriften  und  so  wurde  das  Buch  Hollands  eine 
Zeitlang  zum  Freiheitshort  der  Presse.  Andererseits  fehlte  die 
Wechselwirkung  nicht.  Auch  das  Beispiel  der  benachbarten  Län- 
dern, sich  aufstauender  Bücherüberfluß,  der  sich  verbreitete,  wissen- 
schaftliche Sammlungsziele  verbanden  sich,  um  den  Bibliotheken 
in  den  heute  holländischen  Niederlanden  einen  günstigen  Boden  ihrer 
Entwicklung  zu  verschaffen,  sie  zahlreich  werden  zu  lassen.  Bürger- 
und Gelehrtentum,  Volk  und  Vornehme  waren  weniger  voneinander 
geschieden  und  das  bedingte  auch  eine  gewisse  Gleichmäßigkeit  der 
ohnehin  einen  internationalen  Charakter  annehmenden  Privat- 
bibliotheken. Die  Atlanten  des  Blaeuschen  Verlages  standen  in  der 
Gelehrtenstube  und  gaben  bereitwillig  Auskunft,  wenn  die  Ent- 
deckungen einer  neuen  Seefahrt  das  Tagesgespräch  wurden,  der 
Handelsherr  hatte  in  seinem  Bücherzimmer  die  antiken  Klassiker 

215 


HOLLAND 

stehen.  Ein  aufkommender  Kuriositätengeschmack,  nicht  ohne 
einige  Pedanterie  gepflegt,  förderte  eine  beschauUche  Bücherlust. 
Man  hatte  ein  Kabinett,  man  nannte  es  wohl  gar  ein  Museum,  man 
freute  sich  am  Sammlerstück  und  manch  einer  verwendete  alle  seine 
Mühe  auf  ein  einziges  großes  Werk,  um  dessen  Bilderschmuck  durch 
Stiche  und  Zeichnungen  noch  reicher  zu  gestalten  als  das  schon 
Verfasser  und  Verleger  getan  hatten.  Die  bibliographische  Kritik 
verband  sich  mit  der  philologischen.  Es  gab  bald  Büoherforscher 
und  Bücherjäger,  wie  den  treffsicheren  J.  J.  Charron,  Marquis 
de  Menars,  Altbuchhändler,  die  wie  P.  van  Damme  in  Amster- 
dam bessere  Büchersammlungen  hatten  als  ihre  meisten  Geschäfts- 
freunde, große  Privatbibliotheken,  deren  Bändezahl  das  Hundert- 
tausend erreichte  wie  die  von  S.  Hulsius.* 

Der  Auktionskatalog  des  größeren  Teiles  der  Huygenschen 
Bibliothek  vom  15.  März  1688  bietet  ein  Muster  holländischer 
Bücherliebhaberei  seiner  Epoche.  Constantin  Huygens,  Herren 
van  Zelem  en  Zuylichem  [1596—1687],  als  Dichter,  mehr  noch 
als  Vater  des  hervorragenden  Mathematikers  bekannt,  war  Sekretär, 
zuletzt  Ratspräsident  bei  den  Prinzen-Statthaltern  Friedrich  Hein- 
rich, Wilhelm  II.  und  Wilhelm  III.  von  Oranien«  Seine  im  Großen 
Saale  im  Haag  versteigerte  Büchersammlung  zeigte  die  gelehrte 
Schöngeisterei  eines  vielseitig  teilnehmenden  und  unterrichteten 
Mannes,  die  bibliophilen  und  literarischen  Interessen  eines  mit  Ge- 
schmack unter  den  Büchern  seines  holländischen  Lebenskreises 
wählenden  Buchfreundes.  Den  freilich  auch  nicht  eines  Baruch 
Spinoza  [1632 — 1677]  Wissensqualen  die  Lebensruhe  nahmen. 
Anderthalbhundert  Werke  hatte  der  arme  Philosoph  besessen,  die 
nach  seinem  Tode  1679  versteigert  und  zerstreut  worden  sind.  Hätte 
der  Notar  Willem  van  den  Hove  nicht  über  diesen  armseligen  Nach- 
laß eine  genaue  Liste  errichtet  und  hätte  sich  diese  Urkunde  nicht 
erhalten,  dann  wäre  auch  die  Bibliotheksrekonstruktion  unmöglich 
gewesen,  die  der  holländische  Verein  „Het  Spinozahuis'^  versuchte, 
indem  er  in  dem  von  ihm  1899  angekauften  Hause  in  Rynsburg  bei 
Leyden,  in  dem  Spinoza  von  1661  bis  1663  gewohnt  hat,  wenigstens 
die  von  Spinoza  benutzten  Ausgaben  seiner  159  Bücher  wieder  zu- 

216  *  Abb.  128 


17.  JAHRHUNDERT 

sammenstellte,  als  Ersatz  der  verlorenen  Originalexemplare.  Spinoza 
hat  nicht  viele  Bände  besessen,  aber  sein  Bücherbesitz  war  dafür 
um  so  gewichtiger.  Die  naturwissenschaftlichen  Prunkwerke  standen 
nicht  auf  seinen  Bücherbrettern,  aber  den  Fortschritt  der  natur- 
wissenschaftlichen Erkenntnis  hat  er  ebenso  in  seiner  bescheidenen 
Büchersammlung  durch  die  Schriften  der  neuen  Weltanschauung 
gekennzeichnet  wie  er  den  kühnen,  die  Autorität  des  Dogmas  be- 
kämpfenden Philosophen  neben  denen  der  Theologen  aller  Kon- 
fessionen einen  Platz  gab,  und  wie  er  seine  Bibeln  neben  die  antiken 
Klassiker  stellte.  Es  war  eine  Bücherwarte*,  die  weit  empor  in  die 
geistigen  Höhen  ihrer  Tage  ragte  und  weit  hinaus  über  die  abge- 
messenen Bezirke  geruhsamen  holländischen  Lebens.  Eben,  weil 
sie  durch  ihre  Beschränkung  auf  nur  wenige  Bücher  um  so  mehr 
deren  Leuchtkraft  erkennen  läßt. 

Für  die  noch  dem  Gebildeten  notwendigen  Grundlagen  einer  guten 
Büchersammlung,  die  antiken  Klassiker,  sorgten  die  hoUändisTchen 
Offizinen  jener  Übergangszeit  der  humanistischen  Studien  in  die 
philologischen  aufs  beste.  Die  Elzeviers  ließen  ihre  rasch  beliebt 
werdenden  Taschenausgaben  erscheinen,  der  Apparat  der  Folianten 
und  Quartanten  lieferte  den  Bibliotheken  die  anerkannten  editiones 
optimae,  als  welche  die  gelehrten  holländischen  Prachtwerke  mit 
ihrem  reichen  Tafelnschmuck  in  Aufnahme  kamen.  Buchgelehrsamkeit 
galt  viel,  zudem  da  sie  den  Buchgeschäften  günstig  war.  Und  so 
fanden  sich  denn  in  dem  bildungsfrohen,  freigesinnten  Lande,  in  dem 
die  Ortschaften  derart  dicht  beieinander  lagen,  daß  ihre  Bürger  sich 
fast  alle  als  Nachbaren  kannten,  in  dem  Handel  und  Wandel  die 
Künste  und  Wissenschaften  hielten,  den  Reisenden  auffallende 
Bücherstilleben  auf  Schritt  und  Tritt.  Ihre  behaglichen  Schilde- 
rungen finden  sich  in  den  Reisebeschreibungen  zahlreich,  die  biblio- 
graphischen Kompilatoren,  die  literarischen  Polemiker  feierten  ihre 
nicht  gerade  bescheidenen  Triumphe  als  Kraftmänner  der  Bücher- 
wälzerei.  Das  alles  dauerte  bis  in  das  achtzehnte  Jahrhundert  hin- 
ein. Der  junge  Albrecht  von  Haller  vermerkte  1725,  daß  an  keinem 
Orte  der  Welt  soviel  Leute  von  Büchern  leben  als  in  Leyden,*  wo 
1609  Ludwig  Elzevier   die  älteste   bekannte  Büchereiversteigerung 

*Abb.  127  217 


HOLLAND 

die  der  Sammlung  G.  und  J.  Dousa,  des  ersten  Bibliothekars  der 
Universität  Leyden,  abgehalten  hatte,  eine  seitdem  sich  entwickelnde 
Einrichtung,  die  recht  eigentlich  die  Entwicklung  von  Altbuch- 
handel und  Liebhaberwert  in  ihrer  modernen  Ausgestaltung  ver- 
anlaßte.  ,, Ganze  Straßen  sind  voll  Buchhändler,  und  alle  Winkel 
voll  Druckereyen.  Auch  diese  stehn  alle  unter  dem  Schuze 
der  hohen  Schule.  [Peter]  Van  der  Aa  [seit  1682  in  Leyden  an- 
sässig] hat  unter  allen  es  am  weitesten  gebracht  und  durch  seinen 
glücklichen  und  vielen  Verlag  es  dahin  gebracht,  daß  er  das  große 
Werk  der  Alterthümern  [den  Thesaurum  Antiquitatum  Romanorum] 
bloß  zu  seines  Nahmens  Ehre  drucken  können,  da  es  doch  auf  500 
Gulden  kömmt.  Auch  ist  kein  Ort  denen  Buchhändlern  so  günstige 
wo  alles  Bibliothequen  haben  will,  und  oft,  wann  Boerhaave  deß 
Morgens  ein  Buch  gerühmt,  Nachmittags  selbiges  überall  um  dop- 
pelten Preiß  gekauft  werden  mag.  In  denen  vielen  Steigerungen 
werden  die  Bücher  etwas  wohlfeiler  bestanden,  deren  alle  Jahre  sind, 
weil  viele  vornehme  Holländer  sich  eine  Ehre  machen,  in  allen 
Sprachen  und  Wißenschaften  alles  zu  besitzen,  und  mehrmals  ein 
einziger  mehr  kauft,  als  alle  seine  Nachkommen  lesen  werden.*' 

Die  eleganten  holländischen  Juristen  und  Philologen  legten 
auch  auf  die  Eleganz  ihrer  Bibliothekenrepräsentation  einen  nicht 
geringen  Wert,  versagten,  zuYnal  im  achtzehnten  Jahrhundert,  der 
jetzt  herrschenden  Bibliophiliemode,  die  besten  Klassikereditionen 
in  der  charta  magna  oder  gar  in  der  charta  maxima  wohlgebunden 
nebeneinander  zu  reihen,  ihre  Anerkennung  nicht  und  wurden  der- 
art, als  Herausgeber  und  als  Sammler,  die  Vertreter  eines  vornehmen 
Buchgeschmackes,  der  die  Liebhaberei  und  die  Wissenschaft  aufs 
glücklichste  zusammenbrachte.  Als  das  Beispiel  eines  Bibliophilen- 
Philologen  solcher  Art  ist  H.  de  Bosch  [1740—1811]*  in  Leyden  zu 
rühmen,  dem  das  Arbeitsmittel  seiner  Bücherei  kein  leerer  Luxus 
war,  wenn  er  auch  seine  ausgewählten  Ausgaben  in  bester  Ausstattung 
zu  beziehen  wünschte  und  an  den  alten  Bänden  die  Erhaltung, 
nicht  nur  ihren  Inhalt  schätzte.  In  dem  Bibliothekskataloge,  den 
er  sich  kurz  vor  seinem  Tode  zu  eigenem  Gebrauch  drucken  ließ, 
gab  die  Vorrede  das  Bekenntnis  der  Bücherliebe  eines  Humanisten, 

218  .    *  Abb.  131 


18.  JAHRHUNDERT 

der  das  Buch  in  edler  Gestalt  verehrt,  weil  ihm  die  äußere  Buch- 
schönheit die  innere  wiederspiegelt.  In  fein  gesetzten  Worten  heißt 
es  hier:  ,,Jam  inde  a  pueritia  hanc  mihi  Bibliothecam  comparavi, 
ea  cura  ac  diligentia,  ut  nuUum  librum  in  eam  recipiendum  existi- 
marem,  nisi  qui  plenus  esset  et  integer,  nuUis  adspersus  maculis, 
neque  foedatus  lituris,  aut  vermium  dentibus  tactus,  uno  verbo, 
nuUum  codicem  admitterem  nisi  qui  nitidissime  esset  conservatus; 
quod  quam  magnam  operam  postulet  .  .  .,  facile  harum  rerum  periti 
intelligent,  neque  ego  hoc  ab  uUo  homine  fieri  posse  arbitror,  nisi 
ab  eo,  cui,  ut  mihi,  per  sexaginta  fere  annos  in  hac  re  recto  agenda 
strenue  laborare  contigit  .  .  .  Labentibus  annis  pejoris  conditionis 
Codices  ejiciendo  et  pulchrioris  substituendo  tantum  profeci,  ut  si .  .  . 
etiam  ultimae  vetustatis  libros,  ex  hac  bibliotheca  in  manum  sumas, 
recentes  e  prelo  te  tractare  existimes  .  .  .  Quod  non  necessarium  esse 
putabunt  multi  .  .  .  quibus  sordidis  digitis  impressos,  maculis, 
atramento  et  oleo  inquinatos  libros  nos  quidem  relinquimus  .  .  . 
mihi  sive  a  natura,  sive  a  parentibus  datum  ut  omnes  sordes  fugiam. . . 
Unde  evenit,  ut  meae  bene  instruendae  bibliothecae  curae  etiam 
alia  successerit  .  .  •  Haec,  praeter  interiorem  librorum  conditionem 
ad  externam  formam  spectabat.  Quoad  quidem  potui  exempla 
mihi  comparavi,  quorum  margines  essent  integrae,  nee  scissae,  i.  e. 
aratri  ferrum  non  perpessae  .  .  .  Si  quae  vero  occurrerent,  quorum 
margines  .  .  .  scindi  debere  arbiträrer,  hac  in  re  ita  versatus  sum, 
ut  is  cui  illud  munus  .  .  .  daretur,  caveret,  ne  quid  detrimenti  liber 
caperet." 

Boschs  , Carmen  in  bibliothecam  Crevennae'  feierte  in  der  er- 
lesensten Amsterdamer  Liebhaberbücherei  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts eine  der  ausgezeichnetsten  Sammlungen  ihrer  Zeit.  Be- 
gründet von  P.  A.  Crevenna,  einem  aus  Mailand  eingewanderten 
Kaufmann,  der  den  Anfängen  und  der  Ausbreitung  der  Buchdrucker- 
kunst ernsthafte  Forschungen  gewidmet  hatte,  die  sein  beschreiben- 
des, 1774  angefangenes  Bücherei  Verzeichnis,  das  er  selbst  noch  ver- 
öffentlichte, verwertete,  weitergeführt  in  gleichem  Sinne  von  seinem 
Sohn  Bolongari  Crevenna,  der  sich  noch  bei  Lebzeiten  von  ihr 
trennte  und  aus  der  Auktion  nur  eine  kleine  Auswahl  zurückbehielt, 

219 


HOLLAND 

die  nach  seinem  Tode  versteigert  worden  ist,  gehörte  sie  zu  jenen 
bedeutenden  Privatbibliotheken,  deren  rasches  Vergehen  zu  den 
unwiderbringlichen  Verlusten  gerechnet  werden  muß,  da  sie  ein 
Jahrhundert  später  in  gleicher  Vollendung  sich  nicht  mehr  wieder- 
holen ließen.  Daß  diese  buchgeschichtlichen  Forschungen  Coster 
nicht  vergaßen,  hiermit  die  nationale  Tradition  pflegten,  kann  nicht 
wundernehmen.  In  der  Costerstadt  Haarlem  hatte  im  achtzehnten 
Jahrhundert  die  Ens  che  de -Familie,  weitbekannt  durch  ihre  Buch- 
druckerei und  Schriftgießerei,  im  Anschluß  an  die  Costerstudien  ein 
Museum  Typographicum  errichtet,  das,  1867,  durch  eine  Versteige- 
rung zerstreut  wurde.*  Und  auch  in  der  Gegenwart  ist  die  nationale 
Tendenz  der  holländischen  Bibliophilie  in  der  Achtsamkeit  für  die 
alten  Bücher,  in  der  Vorliebe  für  die  eigenen  Prachtausgaben  des 
siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhunderts  hervortretend.  Ohne 
daß  deshalb  das  Büchergut  anderer  Völker  und  Zeiten  ausgeschlossen 
wäre  oder  aber  die  Bücherstuben  der  Gegenwart  verschlossen  blieben, 
gegen  die  sich  die  Beschaulichkeit  der  im  alten  Hellas  und  Rom 
lebenden  Philologen  wehrte,  wie  das  etwa  die  sozialpolitische 
Büchersammlung  zur  Frauenfrage  zeigt,  die  Frau  Gerrits en  zu- 
sammenbrachte. Einem  großen  Holländer  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts ist  die  eigene  Bücherei  allerdings  versagt  gewesen,  D. 
Dekker  [Multatuli]  durfte  sich  nur  einer  Privatbibliothek  erfreuen, 
die  ihm  Frau  A.  M.  Anderson  [die  1917  in  Mainz  starb]  geliehen  und 
nach  seinem  Tode  getreulich  verwahrt  hatte,  um  sie  zum  Grund- 
stocke eines  Multatuli-Museums  werden  zu  lassen,  ein  Plan,  der  nicht 
verwirklicht  worden  ist. 


220  *  Abb.  129 


V.  DEUTSCHLAND 

Im  Bereich  des  gewaltigen  deutschen  Siedlungsgebietes,  auf  dem 
sich  die  germanischen  Völkerverschiebungen  über  ein  Halb  Jahr- 
tausend hindurch  vollzogen,  ein  mit  der  Bemächtigung  westlicher 
Kultur  und  Zivilisationen  verbundener  Vorgang,  gab  es  sehr  lange 
keine  geistige  und  gesellschaftliche  Einheit,  kein  aus  ihr  hervor- 
wachsendes Schrifttum,  das  als  ein  Ganzes  räumlich  und  zeitlich 
zusammenhinge.  Das  erwiesen  auch  die  Büchersammlungen  des 
deutschen  Mittelalters,  die  weit  eher  die  einzelnen  Hauptorte  einzel- 
ner Literaturprovinzen  erscheinen  —  so  etwa  Korvei  für  Sachsen, 
Fulda  für  Franken  und  Hessen,  Reichenau  für  Schwaben  —  als 
die  Hauptstätten  gemeinsam  mit  den  Büchern  gepflegter  hoher 
Lebensgüter.  Und  weiterhin,  fast  alle  alten  deutschen  Bücher- 
sammlungen sind  nun  verschwunden,  haben  mit  ihren  Handschriften- 
überresten ihren  Namensruhm  zwar  noch  erhalten,  aber  keinen  Be- 
stand ilirer  Tradition.  Sie  sind  vergessen  worden,  mehr  als  nur  ver- 
schwunden. Schalkhaft  heißt  es  im  deutschen  Sprichwort:  Er 
studiert  so  fleißig  wie  die  Mönche  im  Kloster  Septimo  — die  einst  die 
Brücke  über  den  Graben,  der  ihr  Kloster  umzog,  als  sie  verfallen 
war,  durch  Folianten,  mit  denen  sie  den  Graben  ausfüllten,  ersetzt 
haben  sollen.  Doch  trifft  solche  in  mancherlei  Formen  sich  wieder« 
holende  Spottrede  nur  ein  äußerliches  Kennzeichen,  eine  einzelne 
Erscheinung,  in  der  sich  das  Geschehen  einer  geistigen  Welten- 
wende widerspiegelt.  Daß  die  Büchereien  durch  mönchische  Un- 
bildung zerfielen,  hatte  seine  tieferen  Ursachen.  Sie  waren  über- 
flüssig geworden,  da  sie  in  der  Vergangenheit  zurückgeblieben  waren, 
dem  Denken  und  Fühlen  gar  nicht  oder  doch  großenteils  nicht  mehr 
entsprachen,  das  sie  mit  Nahrung  versorgen  sollten.  Die  Bücher- 
massen hatten  sich  in  dem  lebendigen  Strom  des  Lebens  aufgestaut, 
er  durchbrach  sie  und  neue  Behälter  wurden  nötig,  seine  Kräfte  zu 
sammeln. 

Josef  Nadler  hat  es  versucht,  die  drei  räumlichen  Entwicklungs- 
züge in  der  Ausbildung  des  deutschen  Schrifttums  zu  umgrenzen. 
9, Der  eine  am  Rhein,  in  den  Ländern  der  Franken  und  Alemannen, 

221 


DEUTSCHLAND 

auf  altem  römischen  Kulturboden,  bei  den  Trägern  des  alten  deut- 
schen Reiches;  des  Sinn  dieses  Zuges  ist  die  Aneignung  des  antiken 
Kulturerbes  von  Karl  dem  Großen  bis  zu  den  Klassizisten.  Der 
andere  Zug  an  der  Donau,  in  den  Ländern  des  bayrischen  Volkes, 
auf  altem  römischen  Kulturboden,  bei  den  Trägern  des  neuen  Ost- 
reiches; der  Sinn  dieses  Zuges  ist  die  Umbildung  des  antiken  Lite- 
raturerbes und  sein  Verschmelzen  mit  volkstümlichen  Elementen 
bis  zum  Theater  des  neunzehnten  Jahrhunderts.  Der  dritte  Zug 
zwischen  Elbe  und  Weichsel,  auf  altem  slavischen  Siedelboden,  bei 
den  Trägern  des  neuen  Deutschen  Reiches ;  der  Sinn  dieses  Zuges  ist 
die  Aneignung  des  altdeutschen  Literaturerbes  für  diese  neudeutschen 
Kolonistenvölker  bis  zur  Romantik.  Jeder  dieser  Entwicklungszüge 
schreitet  über  die  drei  Stufen  eines  gesellschaftlichen,  eines  indi- 
viduellen, eines  subjektiven  Seelenlebens.^^  Diese  Bewegungen 
eines  gewaltigen  geistigen  Stromlaufes  und  seiner  Unterströmungen 
durch  die  Jahrhunderte  auch  in  der  Geschichte  der  Büchersamm- 
lungen zu  verfolgen  wäre  wohl  in  einer  klareren  Linienführung  kaum 
möglich,  da  sie  ja  vorwiegend  zunächist  die  lateinische  internationale 
Literatur,  die  Fakultätsliteratur,  herbergten  und  späterhin  sich 
auch  dem  Einfluß  der  fremden  Nationalliteraturen  willig,  meist  viel 
williger  als  in  den  anderen  Ländern,  öffneten.  Wozu  noch  die  aus 
den  politisch-sozialen  Gegensätzen  sich  ableitenden,  voneinander 
abweichenden  Richtungen  in  der  sich  aus  ihnen  ergebenden  Stellung- 
nahme der  Bibliotheken  der  deutschen  Länder  hinzukam.  Hier  soll 
eben  nur  daran  erinnert  sein,  daß  ein  einheitliches  deutsches  Bücher- 
sammelwesen  sich  solange  nicht  ausbilden  konnte,  als  das  Be- 
wußtsein eines  einheitlichen  deutschen  Schrifttums  noch  fehlte,  das 
erst  im  achtzehnten  Jahrhundert  stärker  wurde,  daß  diese  Viel- 
artigkeit von  umso  empfindlicherer  Wirkung  sein  mußte,  nachdem 
in  der  deutschen  Gelehrtenrepublik  die  Herrschaft  des  internatio- 
nalen Literaturgedankens  schwächer  geworden  war,  ohne  daß  sie 
bereits  die  Macht  einer  Nationalliteratur  ersetzt  hätte.  Das  Buch- 
ideal fehlte,  das  der  Bücherwälzerei  und  dem  Bücherwust  in  einer 
langen  Übergangszeit  hätte  leitend  werden  können.  Und  anders 
als  in  den  italienischen  Humanistenbibliotheken  standen  die  antiken 

222 


13.  JAHRHUNDERT 

Klassiker  auf  den  Bücherbrettern  der  deutschen  Sammlungen,  un- 
verbunden  mit  der  Gegenwart,  ein  abgestorbenes,  herausgerissenes 
Stück  Vergangenheit. 

Aber  die  Abgrenzung  von  ,Mittelalter*  und  , Neuzeit',  jene 
Änderungen  von  Denkrichtungen  und  Denkweisen,  die  geschicht- 
liche Umgestaltungen  größter  Reichweite  im  europäischen  Völker- 
leben herbeiführten,  ist  für  die  Bibliophilieentwicklung  unschwer 
anzugeben.  Die  Buchdruckerfindung  hat  eine  solche  äußere  Um- 
gestaltung des  Buchwesens  vorgenommen,  die  auch  dann,  wenn 
ihre  weiteren  Wirkungen  nicht  in  Frage  kommen  würden,  das  Datum, 
das  Grenzzeichen  ist,  das  für  Büchersammlungen  Mittelalter  und 
Neuzeit  scheidet.  Dazu  kommt,  daß  im  Büchersammelwesen  die 
Übergangszeit  [das  Wiegendruckzeitalter,  die  zweite  Hälfte  des  fünf- 
zehnten Jahrhunderts]  außerordenthch  kurz  war.  Man  möchte 
sagen,  daß  die  Buchhandschrift  sich  über  Nacht  in  das  Druckwerk 
verwandelte,  wenn  man  sich  vergegenwärtigt,  wie  ein  etwa  1430 
geborener  Gelehrter,  der  als  Dreißigjähriger  die  , Literatur'  fast  aus- 
schließlich in  den  Manuskripten  sah,  ein  Menschenalter  später  eine 
nach  Bändetausenden  zählende  Bücherei  hätte  verwenden  können. 
Wenn  die  tatsächliche  Umstellung  des  Büchersammelwesens  sich 
etwas  langsamer  vollzog,  die  geistigen  und  seelischen,  die  gesell- 
schaftlichen und  wirtschaftlichen  Auswirkungen  des  neuen  Buches, 
des  eigentlichen  greifbaren  Trägers  jener  Evolutionen  und  Revo- 
lutionen, die  Mittelalter  und  Neuzeit  für  die  Chronologie  eines  Histo- 
rikers trennen,  da  und  dort  durch  Hemmungen,  deren  Ursachen 
sehr  verschieden  waren,  noch  zurückgehalten  wurden:  sein  Er- 
eignis schuf  aus  dem  Begriffe  Buch  etwas  anderes  als  er  vorher  war. 
Die  Ausbildung  und  Ausbreitung  der  Druckverfahren  änderten  auch 
die  Verhältnisse  der  Menschheit  zu  ihrem  Schrifttum  von  Grund  aus. 
Inwieweit  die  anderen  Entdeckungen  und  Erfindungen  jener  Zeit, 
die  politischen,  sozialen  und  sonstigen  Unwälzungen,  die  sie  ver- 
anlaßten,  aus  dem  Buchdruck  eine  Mehrung  ihrer  Triebkräfte  ge- 
wannen, ist  häufiger  schon  untersucht  worden.  Dafür  mag  ein  Bei- 
spiel ausreichen,  der  Vergleich  zwischen  dem  Humanismus  und  Re- 
formation genannten  Bewegungen  vor  und  nach  der  Buchdruck- 

223 


DEUTSCHLAND 

erfindung.  Die  Macht  des  Buchdrucks  verkörperte  sich  nun  in  der 
,Presse^  der  sich  die  alten  Mächte  mit  ihren  Mitteln  widersetzten, 
indem  sie  einen  Preßzwang  übten.  Das  Wort  und  die  Schrift  hatten 
nicht  nur  Flügel  bekommen,  mit  denen  sie  sich  überallhin  verbreite- 
ten, die  Druckvervielfältigungen  verwahrten  sie  auch  gegen  die  Ein- 
griffe der  Zeit,  ließen  sie  die  Epochen  überdauern,  in  denen  die  Zivili- 
sationen zurückgingen,  der  Verbreiterung  und  Vertiefung  des 
Wissens,  der  der  Buchdruck  diente,  folgte  die  von  ihm  ganz  anders 
als  das  die  Buchhandschrift  gekonnt  hatte  gewährleistete  Siche- 
rung des  Wissens.  Das  Buch  als  Gedächtnisträger  der  Menschheit 
ein  Gemeingut  geworden,  ein  verbilligtes  und  verfeinertes  Ge- 
dankenwerkzeug, mußte  nun  auch  die  Bedeutung  der  Büchersamm- 
lungen erhöhen  und  verstärken.  Seine  Gewalt,  grenzenlos,  brachte 
mit  dem  Nutzen  den  Schaden,  um  nur  einen  zu  bezeichnen,  die 
Verflachung  des  Schrifttums  in  der  Vielschreiberei,  die  aufsteigende 
Bücherflut  beschleunigte  in  weit  höherem  Maße  den  mechanischen 
Prozeß  der  Bibliothekenentwicklung  als  ihren  organischen. 

Daß  auch  da  und  dort  in  Deutschland  des  dreizehnten  und 
vierzehnten  Jahrhunderts  ein  Bücherschatz  vorhanden  gewesen  ist 
der  seiner  Ausdehnung  und  Auswahl  nach  eine  Büchersammlung, 
der  aber  kein  Fürsten-  oder  Klostergut  war,  scheint  zweifellos.  Aber 
die  Nachrichten  über  diese  Privatbibliotheken  reichen  doch  nicht 
aus,  um  auf  ihnen  die  Frühgeschichte  der  deutschen  Bücherlieb- 
haberei zu  gründen.  Hugo  vonTrimberg,  seit  12.60  Magister  und 
Rektor  in  der  Theuerstadt,  einer  Vorstadt  Bambergs,  bekannt  als 
der  Dichter  des  ,Renner\  also  ein  Laie,  soll  200  Bücher  sein  eigen 
genannt  haben.  Und  als  die  beiden  Brüder  Franz  und  Niklas 
von  Vintler,  die  einem  schon  seit  dem  elften  Jahrhundert  in  Bozen 
angesehenen,  einflußreichen  Geschlechte  entstammten,  1385  die 
Ruine  Runkelstein  gekauft  hatten,  die  der  kunstsinnige  Niklas 
von  1388  ab  ausbaute,  entstand  auch  eine  von  dem  Burgkaplan 
Heinz  Sendlinger  aus  München  verwaltete  Büchersammlung  auf 
dem  Runkelstein.  Die  beiden  Beispiele,  mehr  sind  sie  nicht,  sollen 
andeuten,  in  welcher  Art  damals  deutsche  Privatbibliotheken  ent- 
standen sein  mögen,  die  eine  Gelehrtenstube  oder  ein  Schloßgemach 

224 


14.  JAHRHUNDERT 

zierten.  Nur  daß  auch  in  ihren  Ausnahmefällen  die  Bandzahl  des 
Bücherreichtums  nicht  allzu  sehr  anwachsen  konnte,  der  Hand- 
schriftenprunk sich  ohnehin  verbot,  weil  er  allein  den  wohlhabendsten 
Sammlern  zugänglich  blieb.  Möglichkeiten,  Abschriften  zu  besorgen, 
mochte  das  zu  den  Pflichten  des  Burgkaplans  gehören  oder  eine  von 
dem  Sammler  sich  selbst  auferlegte  Pflicht  sein,  boten  sich  immerhin 
genug,  soweit  sie  sich  auf  die  landläufige  Literatur  beschränkten, 
nicht  die  Entdeckungen  verlorener  Werke  erstrebten.  Gerade  in  der 
Blütezeit  der  deutschen  Dichtung  des  Mittelalters  wendeten  sich 
deren  nicht  wenige  Bücher  an  den  Unvoreingenommenen,  d.  h.  den 
unwissenschaftlich  Denkenden,  viel  würden  wir  von  den  Bücher- 
sammlern jener  Tage  wissen,  wofern  alle  die,  die  in  den  ersten  Reihen 
einer  entstehenden  neuen  Bildung  standen,  die  sich  auf  ein  ent- 
stehendes neues  Schrifttum  stützte,  hätten  lesen  und  schreiben 
können  und  die  , Literatur'  sich  schon  mehr  an  das  Auge  als  an  das 
Ohr  gewendet  hätte.  Daß  sie  sich  auf  dieses  verließ,  mag  für  die  Ent- 
wicklung von  Formsinn  und  Sprachkunst  ein  großer,  mit  der  Ver- 
allgemeinerung des  Buchgebrauches  verloren  gehender  Vorzug  ge- 
wesen sein.  Förderlich  für  das  Leben  einer  Literatur  konnte  es  nicht 
sein,  weil  es  ihren  Lebenskreis  nach  Raum  und  Zeit  einschränkte. 
Auch  in  Deutschland  gab  es  im  fünfzehnten  Jahrhundert 
Fürstenhöfe,  an  denen,  wenn  nicht  der  Humanismus  in  seiner  italie- 
nischen Prägung,  so  doch  die  von  ihm  erweckte  Bewegung,  die  von 
ihm  geschaffenen  Bücher  verstanden  und  willkommen  geheißen 
wurden.  Anders  als  in  der  stillen  Gelehrtenkammer  oder  Kloster- 
zelle, in  der  die  Auseinandersetzung  zwischen  Humanismus  und 
Scholastik  ein  geistiger  Kampf,  ein  Ringen  um  die  Wahrheit  in 
ihrem  neuen  Gewände  schien,  durfte  sie  sich  hier  in  der  Ausgeglichen- 
heit einer  neuen  gesellschaftlichen  Mode  zeigen,  mehr  an  der  Ober- 
fläche bleibend,  zu  einer  ästhetisch-literarischen  Geschmacksfrage 
werden,  die  sich  auf  die  Anerkennung  des  modernen  Buches  bezog. 
Familienbeziehungen  überlieferten  die  vornehme  Art  des  einen 
Landes  dem  anderen,  die  Kunstfreudigkeit,  die  vornehme  Sitte  der 
Anteilnahme  an  den  Wissenschaften.  Einen  solchen  Musenhof  hatte 
sich  Mechthild,  die  Tochter  des  Pfalzgrafen  bei  Rhein  Kurfürsten 

BOOEKO    15  225 


DEUTSCHLAND 

von  Bayern  und  der  Gräfin  Mathilde  von  Bayern,  die  in  erster  Ehe 
mit  dem  Grafen  Ludwig  von  Württemberg,  in  zweiter,  aus  politi- 
schen Gründen  geschlossener,  mit  dem  Herzog  Albrecht  VI.  von 
Vorderösterreich  vermählt  war,  in  ihrer  Residenz  Rothenburg  am 
Neckar  errichtet,  wo  sie,  bald  von  ihrem  Gatten  getrennt,  lebte.  Sie 
suchte  deutsche  Dichter  in  ihre  Dienste  und  in  ihre  Umgebung  zu 
ziehen,  auf  das  deutsche  Schrifttum  im  Sinne  des  neuen  Geschmackes 
einzuwirken,  eine  Bücherei  sich  einzurichten,  in  der  dessen  beste 
Vertreter  vorhanden  waren.  Um  diese  ihre  Büchersammlung 
zu  vermehren,  wandte  sie  sich  auch  an  einen  bekannten  deutschen 
Bücherliebhaber,  Jacob  Püterich,  dem  sie  eine  Liste  von  94  Werken 
mit  dem  Ersuchen  sandte,  ihr  ein  Verzeichnis  der  von  ihm  besessenen 
Bücher  zu  schicken,  damit  derart  ein  Abschriftentausch  sich  einleite. 
Der  Anfrage  der  Herzogin  fand  Püterich  in  der  fein  höfischen 
Form,  die  Minnedienst  von  einem  Ritter  verlangte,  die  Antwort  in 
seinem  1462  vollendeten  , Ehrenbrief'.  Da  reimt  er,  sich  etwas  viel 
mit  fremden  Federn  schmückend,  erst  die  erforderlichen  Liebes- 
beteuerungen und  Lobsprüche  an  die  fürstliche  Gönnerin  zusammen 
und  rollt  ihr  zu  Ehren  eine  nicht  ganz  einwandfreie  lange  Liste  des 
bayerischen  turnierfähigen  Adels  auf,  um  schließlich  den  Austausch- 
vorschlag mit  einem  Verzeichnis  seiner  Lieblingsbücher  zu  er- 
widern. Jacob  Püterich  von  Reichertshausen  [1400—1469]* 
war  nach  unruhevollen  Kriegs-  und  Wanderzügen,  die  ihn  kreuz  und 
quer  durch  Europa  geführt  hatten,  in  den  dreißiger  Jahren  in  seine 
bayerische  Heimat  zurückgekehrt,  um  1440  in  den  Staatsdienst 
getreten,  in  dem  er  hohen  Beamtenrang  gewann,  ohne  deshalb  seine 
Jugend  zu  verleugnen.  Mit  heißem  Herzen  war  er  dabei,  wenn  der 
Adel  sich  auf  den  Turnieren  erprobte,  mit  leidenschaftlicher  Liebe 
ist  er  der  deutschen  Dichtung  ergeben  gewesen.  Als  er  den  Ehren- 
brief schrieb,  durfte  er  sich  [rühmen,  seit  mehr  als  vierzig  Jahren 
zwischen  Brabant  und  Ungarn  [ihren  besten  Werken  nachgespürt 
zu  haben,  stolz  auf  den  Besitz  von  164  ausgewählten  Handschriften 
zu  sein.  „Zusam  seind  sie  geraffelt  mit  Stelen,  rauben  und  darzue 
mit  lehen,  /  geschenkt,  geschribn,  gekauft  und  dazue  funden,^*  wie 
Püterich  heiter  übertreibend,  doch  wohl  nicht  ohne  ein  allzu  kleines 

226  ♦Abb.  132 


15.  JAHRHUNDERT 

Körnchen  Wahrheit  versichert.  Seiner  Bibliophilie  ist  jedoch  der 
Ehrenbrief  ein  schönstes  Zeugnis.  In  der  persönlichen  Art,  in  der 
von  ihm  die  Aufzählung  seiner  Lieblingsbücher  vorgenommen  wird, 
stellt  er  für  das  Liebhaberbüchereiverzeichnis  ein  Muster  auf,  das 
sich  hierin  von  den  Bücherlisten  einer  nur  wissenschaftlichen  Zweck- 
bestimmung trennt.  Derart  ist  der  Ehrenbrief  der  erste  Biblio- 
philenkatalog  in  deutscher  Sprache  geworden,  ein  Katalog,  der  nicht 
den  Sammler  von  dem  Seinen  scheidet,  vielmehr  die  Bücherei  als 
eine  Erscheinung  seines  Wesens  zeigt.  Und  hierzu  ließe  sich  sogar 
ein  freilich  dem  Jacob  Püterich  selbst  sich  verbergender  huma- 
nistischer Zug  auffinden.  An  weidlichen  Neckereien  der  anderen 
Ritter,  die  die  Bücherlust  des  wackeren  Mannes  nicht  recht  ver- 
standen, hat  es  ihm  nicht  gefehlt.  Er  lebte  ja  nicht  mehr  in  der 
Zeit,  der  seine  Bewunderung  galt,  in  der  Dichtkunst  zu  verehren, 
Ritterpflicht  war.  Denn  Püterichs  Sammeleifer  erstreckte  sich 
nur  auf  die  alte  deutsche  Dichtung,  das  neue  Schifttum  galt  ihm 
nichts.  „Doch  mer  die  alten  puecher,  /  der  neuen  acht  ich  nit  zu 
keiner  stunden.*'  Es  ist  eine  ehrenfeste  Gesinnung,  die  sein  Brief 
verkündete,  wie  sie  von  Mechthild  aufgenommen  wurde,  läßt  sich 
nicht  leicht  erraten.  Die  Fürstin  bevorzugte  das  neueste  Schrifttum, 
lebte  schon  in  den  anderen  Anschauungen  einer  anderen  Zeit.  So 
kennzeichnet  der  Ehrenbrief  auch  die  Grenzen  der  alten  und  der 
neuen  Bibliophilie  in  Deutschland.  Bayern  und  Österreich  waren 
noch  im  Mittelalter  zurückgeblieben,  als  im  Südwesten  die  An- 
regungen, die  aus  Italien,  Frankreich,  den  Niederlanden  kamen, 
bereitwillig  aufgenommen  wurden.  Als  Gutenberg  mit  den  Vor- 
arbeiten seines  gewaltigen  Werkes  beschäftigt  war,  hatte  Diebold 
Laub  er,  der  Schreibmeister  im  [elsässischen  Hagenau,  noch  die 
deutschen  mittelalterlichen  Werke  vervielfältigen  lassen.  Nach 
wenigen  Jahrzehnten  waren  sie  ebenso  in  Vergessenheit  geraten  wie 
die  Schreibstuben  mit  ihrem  ausgebildeten  Betriebe,  der  schon  wieder 
auch  der  Verbreitung  billiger  Bücher  dienstbar  geworden  war.  In 
Mainz  war  die  Werkstätte  entstanden,  die  durch  die  Erfindung  der 
Schriftgießerei  in  den  Stand  gesetzt  wurde,  dem  Buchdruck  seine 
ökonomischen  und  technischen  Grundlagen  zu  sichern,  in  Frankfurt 

15*  227 


DEUTSCHLAND 

am  Main  die  Bedeutung  des  neuen  Buchgewerbes  rasch  von  den 
geschäftskundigen  Handelsherren  begriffen  worden.  Es  begann 
gegen  die  nicht  geringen  Widerstände  der  alten  Buchgewerbe  der 
wirtschaftliche  Kampf,  in  dem  sich  das  neue  Buchgewerbe  durch- 
setzte. Die  schon  in  der  Handschriftenherstellung  angebahnte  Ver- 
weltlichung des  Buchwesens  vollzog  sich  nun  schneller.  Noch 
wichtiger  wurde  die  Auffassung  des  Buches  als  eines  Massenerzeug- 
nisses auch  in  dem  Sinne,  daß  es  das  Ergebnis  einer  Gemeinschafts- 
arbeit wurde,  das  eines  Gemeinschaftsgeistes,  das  eines  Werkstatt- 
betriebes der  miteinander  wetteifernder  Werkstätten  an  einem 
Orte,  in  einem  Lande,  in  den  verschiedenen  Ländern.  Die  Ausbrei- 
tung der  Buchdruckerkunst  vollzog  sich  zunächst  als  eine  Verein- 
heitlichung des  Buchgewerbes  und  hiermit  der  Buchware,  wirt- 
schaftlich. Der  Kardinal  Nicolaus  von  Cusa  [Chryppfs,  Krebs 
aus  Cues  an  der  Mosel  1401—1464],  in  dessen  Seele  sich  der  Humanist 
und  der  Scholastiker  um  die  Geistesfreiheit  stritten,  sollte  die  Er- 
füllung seiner  Hoffnung,  es  möge  die  Buchdruckerkunst  in  Rom  ein- 
geführt werden,  nicht  erleben.  Auch  dann,  wenn  er  das  erste,  ein 
paar  Jahre  nach  seinem  Tode  in  Rom  gedruckte  Buch  hätte  in  Hän- 
den halten  können,  wäre  es  ihm  vielleicht  ebensowenig  eine  Erfüllung 
seines  Wunsches  gewesen,  den  ebenfalls  die  einzige  bekannt  ge- 
wordene auf  den  Erfinder  der  Buchdruckerkunst  zurückzuführende 
Äußerung  in  der  Schlußschrift  des  von  Johann  Gutenberg  in  Mainz 
1460  gedruckten  Catholicons  ausgesprochen  hat:  ,,et  uno  Ecclesie 
laude  Hbro  hoc  catholice  plaude.  Qui  laudare  piam  semper  non  lingue 
mariam.^^  Allein  ein  kirchlicher  Sendbote  konnte  das  neue  Buch 
nicht  mehr  sein.  Zog  es  als  ein  Prediger  der  Wahrheit  und  Wissen- 
schaft über  die  Erde,  so  verkündete  es  überall  auch  die  neuen  Worte, 
die  in  den  letzten  allgemeinen  Kirchenversammlungen  des  fünf- 
zehnten Jahrhunderts  gehört  wurden.  Die  Dante- Vorlesungen,  die 
der  Bischof  von  Fermo,  Giovanni  Bertoldi  da  Serravalle  vom  Mai 
1416  bis  zum  Januar  1417  in  Konstanz  hielt  und  die  vielen  Zuhörern 
nur  eine  Humanistenkurzweil  lateinischer  Rhetorik  gewesen  sein 
mochten,  anderen  bedeuteten  sie  mehr.  Hier,  wo  man  um  die  Ge- 
sundung von  Kirche  und  Reich  stritt,  wuchs  der  tiefere  Sinn  der 

228 


15.  JAHKHUNDERT 

Dichtung,  indem  die  italienischen  Humanisten  ihr  nationales  Ideal 
wiederfanden,  zu  einer  allgemeineren  Bedeutung,  zu  dem  Verlangen 
nach  dem  Einiger  des  sich  auflösenden  geistigen  und  gesellschaft- 
lichen Lebens. 

Die  allgemeinen  deutschen  Kirchenversammlungen  des  fünf- 
zehnten Jahrhunderts  in  Konstanz  [1414—1418]  und  Basel  [1431 
— 1449]  waren]  Humanistenkongresse,  wenigstens  ihrer  Wirksam- 
keit nach.  Denn  die  eigentlichen  Konzilaufgaben,  die  Reformen, 
lösten  sie  nur  kümmerlich.  Um  so  mehr  wurden  sie  zu  Versamm- 
lungen, die  den  Austausch  geistiger  Güter  zwischen  Deutschland 
und  Welschland  vermittelten,  wobei  Italien  keineswegs  lediglich 
der  Bringer  des  neuen  Büchergutes  war.  Ganz  im  Gegenteil,  die 
Gelegenheit,  die  den  geschulten  italienischen  Buchentdeckern  sich 
zeigten,  haben  sie  nach  Kräften  für  sich  ausgenutzt,  ohne  an  ihren 
Funden  schon  alle  Welt  teilnehmen  zu  lassen.  Die  Konzilien  be- 
günstigten die  Entstehung  einer  sehr  ausgebreiteten  Konzilien- 
literatur, die  als  ein  Vorläufer  der  Reformationsliteratur  zu  betrach- 
ten ist.  Sie  fand  bei  der  Erörterung  der  kirchlichen  Streitfragen  natur- 
gemäß eine  allgemeine  Aufmerksamkeit,  die  sehr  viel  weiter  reichte, 
als  die  Beachtung  der  antiken  Schriftsteller,  die  ja  in  Italien  selbst 
noch  ein  Vorrecht  der  Neugebildeten  geblieben  war.  Der  Biblio- 
philienmissionar  und  päpstliche  Sekretär  Poggio,  der  nicht  das 
Buch  der  Bücher,  sondern  die  Bücher  predigte,  beeilte  sich  mit 
den  Seinen,  die  in  Deutschland  gemachten  Entdeckungen  durch 
Abschriften  gewissermaßen  zu  veröffentlichen.  Darin  liegt  aller- 
dings für  sie  kein  Vorwurf.  Gelegentlich  mochten  sie  zwar  ohnehin 
ihre  Gründe  haben,  über  die  Art  ihrer  Erwerbungen  zu  schweigen. 
Aber  andererseits  beschränkte  sich  die  Bildungsgemeinschaft  des 
Humanismus  doch  noch  auf  zu  wenige  auserwählte  Kreise,  als  daß 
ihre  Erscheinung,  wie  sie  die  Konzilien  zeigten,  schon  sogleich  einen 
sich  überallhin  erstreckenden  Einfluß  hätte  üben  können,  der  ohne 
weiteres  die  allgemeine  Behauptung  rechtfertigen  würde,  Konstanz 
und  Basel  seien  zu  Einfallstoren  des  Humanismus  in  die  Länder  nörd- 
lich der  Alpen  geworden.  Trotz  alledem  setzten  die  Konzilien  die 
Büchermassen  in  Bewegung,  brachten  sie  erhebliche  Bereicherungen 

229 


DEUTSCHLAND 

für  die  Bibliotheken  Nordeuropas,  nicht  zum  wenigsten  durch  die 
angeknüpften  Verbindungen,  die  sich  festigten  und  weiteten.  Nur 
daß  die  klassischen  Texte  des  heidnischen  und  christlichen  Alter- 
tums anfangs  wenigstens  dabei  durchaus  nicht  quantitativ  im  Vor- 
dergrunde standen.  Das  Buch  spielte  auf  den  Konzilien  eine  große 
Rolle,  Bücher  wurden  als  Zeugen  aufgerufen,  Bücher  wurden  nach- 
geschlagen, Bücher  mußten  die  erforderlichen  Stoffsammlungen 
liefern,  auf  die  sich  die  Erörterungen  der  Streitfragen  gründeten. 
Konstanz  und  Basel  waren  zu  internationalen  Büchermärkten  ge- 
worden, auf  denen  Buchhändler  und  Bücherhersteller  ihre  Dienste 
den  Gelehrten  anboten,  diese  wiederum  sahen  sich  in  die  Lage 
versetzt,  durch  Abschreiben  oder  Abschriftenkauf  lang  gehegte 
Wünsche  zu  erfüllen,  Büchergut,  das  sie  sonst  nicht  hätten  erwerben 
können,  in  die  Heimat  mitzunehmen.  In  Konstanz  und  Basel  selbst 
sowie  in  ihrer  Umgebung  waren  in  den  Klosterbibliotheken  reich- 
haltige Sammlungen  vorhanden,  die  in  jenen  Jahren  gewissermaßen 
zu  Amtsbibliotheken  des  Konzils  wurden.  Ob  und  inwieweit  sie 
dabei  durch  ihre  Büchersendungen  nach  Konstanz  und  Basel  er- 
hebliche Verluste  erlitten  haben,  läßt  sich  heute  kaum  noch  mit 
Sicherheit  nachprüfen,  späteren  Berichten  darüber  fehlt  die  un 
bedingte  Zuverlässigkeit.  Wenn  aber  auch  die  bestimmten  Nach- 
richten darüber,  welche  Bücher  damals  aus  Italien  nach  den  nord- 
europäischen Staaten  über  die  Umlageplätze  Konstanz  und  Basel  ge- 
langten, nicht  ausführlich  und  zahlreich  genug  sind,  um  den  Einfluß 
der  Bibliophilie  des  Humanismus  in  jenem  Zeiträume  bibliographisch- 
statistisch festzustellen,  an  seinem  Vorhandensein  läßt  sich  nicht 
zweifeln.  Von  Anfang  an  ist  Basel  für  den  deutschen  Huma- 
nismus nicht  der  Vorort  gewesen,  der,  nachdem  die  hussitischen 
Wirren  in  Prag  seine  Festigung  verhindert  hatten,  über  Heidelberg, 
Erfurt,  Nürnberg,  Augsburg,  Schlettstadt "seinen  Umweg  nahm,  um 
nach  Basel  und  Straßburg  zurückkehrend  hier  zu  enden.*  Schon 
seinen  Abschluß  bezeichnete  Jacob  Lochers  seiner  lateinischen  Über- 
setzung von  Brants  Narrenschiff,  das  der  Büchernarr  anführt,  bei- 
gegebene Vorrede,  in  der  den  antiken  Klassikern  die  italienischen, 
Dante  und  Petrarca,  gleichgestellt  werden.* 

230  *  Abb.  136,1 


16.  JAHRHUNDERT 

Im  Anfange  des  sechzehnten  Jahrhunderts  war  dann  Basel» 
die  Stadt,  in  der  Desiderius  Erasmus  von  Rotterdam  [1467 — 
1536]*  weilte,  der  nach  Petrarca  den  weitreichendsten  humanistischen 
Ruhm  erlangte,  eine  Hochschule  des  Humanismus  in  seiner  Um- 
bildung zur  Philologie.  Denn  der  Höhepunkt  des  älteren  deutsch- 
niederländischen Humanismus  fiel  mit  den  Anfangsjahren  der  Re- 
formation zusammen,  die  für  Deutschland  die  geistige  Bewegung 
des  Humanismus  auflöste.  In  der  Form  der  Bildung  einer  aristo- 
kratischen Gesellschaft  in  der  mächtigsten  Monarchie  hatte  Frank- 
reich die  Führung  des  Humanismus  in  der  zweiten  Hälfte  des  sech- 
zehnten Jahrhunderts  übernommen,  wo  dann  auch  der  Bibliophilie 
in  Paris  ihre  Renaissanceresidenz  nicht  fehlte.  In  Basel  war  es  eher 
der  Fleiß,  der  die  Bücher  förderte,  als  der  Stolz  auf  sie.  Ein  blühen- 
des Buchgewerbe  unterstützte  dort  die  Verleger,  die  Editionen  der 
Kirchenväter  und  Klassiker  in  überall  anerkannt  werdenden  Aus«* 
gaben  besorgen  ließen,  unter  ihnen  an  erster  Stelle  der  Freund  des 
Erasmus,  Johann  Frohen.  Doch  anders  schon  als  die  Auffassung 
der  ersten  Humanisten,  die  im  Buche  noch  das  Kunstwerk  schlecht- 
hin verehrten,  war  die  Gesinnung  ihrer  Nachfolger  geworden.  „Non 
hi  mihi  libros  amare  videntur,  qui  eos  intactos  ac  scriniis  abditos 
servant,  sed  qui  nocturna  juxta  ac  diurna  contrectatione  sordidant, 
corrugant,  conterunt,  qui  margines  passim  notulis,  hisque  variis 
oblinunt'^  —  definierte  Erasmus  den  Bibliophilen  und  seine  Bücher, 
das  Handwerkszeug  der  Wissenschaften.  Der  Gesamtauffassung 
einer  geistigen  Schöpfung  tritt  in  seiner  Betonung  der  Lesarten- 
vergleichungen  schon  etwas  das  Notizenkrämertum  entgegen  und 
fast  mehr  das  Bewußtsein  einer  Buchgelehrsamkeit  als  einer  Bücher- 
weisheit scheint  in  des  Erasmus  Meinung  zu  finden  zu  sein,  eine  Gegen- 
sätzlichkeit zwischen  dem  freien  Denken  und  dem  sich  an  das 
Buch  fesselnden  Gelehrten,  ein  Philologenhochmut.  Als  er  sie  aus- 
sprach, war  die  Autorität  des  Buchwissens  längst  mit  der  Lebens- 
erfahrung in  Widerstreit  geraten,  da  die  Geisteswissenschaften,  noch 
allzu  sehr  behauptend,  noch  allzu  wenig  {begründend,  gegen  die  be- 
weisenden Naturwissenschaften  sich  stellten.  Ein  Kämpfen  um  Buch 
und  Leben,  um  Überlieferung  und  Wissen,  hatte  gerade  den  besten 

*  Abb.  140,  141  231 


DEUTSCHLAND 

deutschen  Köpfen  einen  Seelenzwiespalt  geschaffen,  die  Emp- 
findung: ich  bin  kein  ausgeklügelt  Buch,  ich  bin  ein  Mensch  mit 
allem  Widerspruch.  Und  damit  den  Anfang  einer  Autopsychologie, 
die  den  Abstand  zwischen  sich  und  den  Dingen  ermißt. 

Wenn  die  Bücherherrlichkeit  der  italienischen  Humanisten  den 
deutschen  nicht  zum  Bücherwunder  eines  Persönlichkeitsspiegels 
geworden  ist,  dann  lag  das  auch  daran,  daß  die  Gemütsstimmung 
der  Seeleneinkehr,  die  mystische  Verinnerlichung  einem  aristoteli- 
schen Enzyklopädismus  widerstrebte,  daß,  ohne  einen  Ausgleich 
mit  den  Denkwissenschaften  zu  erreichen  oder  nur  zu  erstreben,  die 
Gefühlswissenschaften  aus  dem  Mittelalter  hervordrangen  und  sich 
umbildeten.  Das  kam  zum  Ausdruck  in  den  deutschen  humanisti- 
schen Sozietäten,  in  denen  neben  dem  klassischen  Element,  das  die 
literarische  Orientierung  nach  der  Antike  hin  entwickelte,  ein 
mystisch-neuplatonisches  und  ein  national-romantisches,  das  nach 
der  deutschen  Vorzeit  hinwies,  sich  geltend  machte.  Es  schärfte 
sich  nicht  allein  das  kritische  und  linguistische  Selbstbewußtsein 
zur  Stiltechnik  der  Kunstformen  des  überdachten  Wortes.  Man  fand 
auch  das  Wort  nicht  ausreichend,  suchte  sich  durch  Bild  und  Ton 
verständlich  zu  machen.  Das  deutsche  Lied  fand  in  dem  huma- 
nistischen Musikempfinden  eine  Unterstützung,  überallhin  ver- 
zweigte sich  das  Wissen,  um  die  Gestaltungen  des  Lebens  rankend, 
ohne  endgültige  Zusammenhänge  zu  erschließen.  Die  Wandlungen 
der  Weltanschauung,  die  bestimmt  zum  ersten  Male  hervortretend 
im  Humanismus,  zu  einer  Auseinandersetzung  der  Geister  wurden, 
blieben  auf  die  Buchgestaltung  nicht  ohne  erheblichen  Einfluß. 
Es  entstand  ein  Kampf  um  das  Buch,  der  im  Formenstreit  die  Aus- 
stattung der  Druckwerke  Selbständigkeit  gewinnen  läßt.  Lebens- 
drang der  Renaissance  und  mittelalterliche  Seeleneinkehr,  diese 
die  Buchschaffung  verinnerlichend,  halten  sich  noch  die  Wage. 
Die  Wendung  zur  äußeren  Betonung  der  Persönlichkeit  macht  dann 
den  Besitzer  des  Buches  zu  dessen  Gewalthaber,  nicht  zu  dessen 
Nutzer.  Es  wird  wieder  zum  Gegenstand,  zum  Hausgerät,  zum 
Überfluß.  Der  Buchgestalt  in  ihrer  neuen  Verselbstlichung  ent- 
spricht das  Losringen  des  Werkes  aus  den  Buchformfesseln.    Die 

232 


16.  JAHRHUNDERT 

Literatur  hört  auf,  ein  Appendix  der  Bibel  oder  der  Theologie  zu 
sein.  Das  Streben  nach  Anerkennung  und  Geltung  verschafft  dem 
Schriftstellerruhm  erneuerte,  in  der  Gegenwart  schon  geltende 
Grundlagen.  Daseinsfreude,  Lebensauffassung  und  Lebensgestaltung, 
die  selbst-  und  zielbewußt  sind,  lassen  die  Buchpflege  auch  zur 
Ruhmespflege  werden.  Diese  Bücherliebe  erhöht  auch  das  Buch, 
die  Buchgeschichte  wird  in  den  Vorreden  und  Widmungen  ge- 
schrieben, das  festliche  Buch  im  Prachtgewande  sondert  sich  von 
dem  werktäglichen.  Der  Büchervertrieb  geht  ins  Weite,  Billigkeit 
und  Herstellungsschnelligkeit  sind  hier  mitbestimmende  Buch- 
schöpfer, die  die  Volkstümlichkeit  der  Buchware  sichern  sollen.  Das 
ästhetische  Gewissen  gewinnt  durch  die  hohe  Auffassung,  die  man 
vom  Buchbild-Buchschmuck  als  einer  Ausdruckssteigerung  der 
Buchsprache  hegt,  das  ethische  erhält  durch  die  Forderung  der 
eigenen  Verantwortlichkeit  vor  sich  selbst,  die  die  Reformation  er- 
hebt, als  welche  nicht  Kirchendiener  sondern  Priester  verlangt,  bis 
auch  sie  in  der  dogmatisierenden  Orthodoxie  untergeht,  einen 
mächtigen  Antrieb  und  erweckt  die  Eindringlichkeit  des  zum 
eigenen  Urteil  über  die  Bibel  aufgeforderten  Lesers.  Das  alles  be- 
stimmte neue  Buchwerte  und  Buchwertungen  in  einer  Epoche,  in 
der  die  geistige  Machtstellung  des  deutschen  Staatsbürgertums  auf 
ihren  Höhepunkt  kam. 

Wegen  der  Reisen  der  Kaufleute  sei  Nürnberg  der  Mittelpunkt  Eu- 
ropas geworden,  meinte  der  Astronom  Johannes  Möller  Regiomontanus. 
Eine  bekannte  Spruchrede  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  bemerkte, 
auch  auf  die  Verbindung  der  deutschen  Handelsstädte  mit  Welsch- 
land hinweisend :  Hätt  ich  Venedigs  Macht  /  Augsburger  Pracht  / 
Nürnberger  Witz  /  Straßburger  Geschütz  /  Und  Ulmer  Geld  /  So 
war  ich  der  Reichste  von  der  Welt !  Die  Klugheit,  die  hier  den  Bür- 
gern der  Stadt  des  Albrecht  Dürer  und  Hans  Sachs  nachgerühmt 
wird  —  später  sprach  der  gleiche  Spruch  statt  ihrer  schon  von  Nürn- 
bergs Übermut  —  verleugnete  sich  nun  zwar  nicht  in  der  verständigen 
Anerkennung  der  neuen  wissenschaftlichen  Entdeckungen  und  Er- 
findungen, die  im  fünfzehnten  Jahrhundert  Europa  revolutionierten, 
in  der  Hochschätzung  der  einheimischen  Humanisten  und  in  dem 

233 


DEUTSCHLAND 

vaterstädtischen  Stolz,  aber  trotz  der  Koberger  konnte  Nürnberg, 
wo  1492  Martin  Behaim  seinen  Globus  für  den  Nürnberger  Rat 
konstruiert  hatte,  das  letzte  Erzeugnis  mittelalterlicher  Weltauf- 
fassung, und  wo  kenntnisfroh  Hartmann  Schedel  1493  seine  von 
Koberger  gedruckte  Chronik  veröffentlichte,  das  in  manchem  Be- 
tracht erste  Buchdenkmal  ihrer  sich  vorbereitenden  Wendung,  im 
Buchgewerbe  keine  führende  Stellung  gewinnen.  Ebensowenig  fan- 
den auch  die  Verbindungen  mit  dem  italienischen  Humanismus, 
der  die  Schedel  und  Pirkheimer  zum  Dantestudium  führte,  eine  nach- 
haltige Wirkung.  Willibald  Pirkheimer  [1470-1530]*  ließ  seine 
großen  Werke  anderswo  herstellen,  für  schwierige  Aufgaben  holte 
man  von  auswärts  Unterstützung,  so  für  den  Teuerdankdruck  Augs- 
burger Buchdrucker.  WilUbald  Pirkheimer  hat  auch  ein  Menschen- 
alter nach  der  Erstveröffentlichung  der  Chronik  Schedels  [in  seiner 
1524  in  Nürnberg  veröffentlichten  Ptolemaeusausgabe]  beherzte 
Worte  zur  Abwehr  der  nichtwissenschaftlichen  Wunderlust  findend, 
sich  gegen  die  phantastischen  Buchbilder  ausgesprochen,  die  zwar  den 
Absatz  erleichterten,  weil  sie  die  Käufer  lockten,  die  jedoch  dem 
Gebildeten  lächerlich  sein  müßten.  Der  Forderung  Pirkheimers 
entsprach  das  erwachende  Verständnis  für  die  Notwendigkeit  durch 
Ordnung  Sammlungen  zu  schaffen,  mit  dem  Durcheinander  der 
Kunst-  und  Wunderkammern  der  Renaissance  nüchternen  Sinnes 
aufzuräumen,  die  künstlerische  Betrachtungsweise  einer  Sammlung 
durch  ihre  wissenschaftliche  zu  ersetzen.  Hierin  zeigten  sich  in  der 
zweiten  Hälfte  des  sechzehnten  Jahrhunderts  manche  Angehörige 
Nürnberger  Geschlechter  vorbildlich,  ein  Mann  wie  Paulus  Praun 
[1548—1616]*  bewies  nicht  geringe  Strenge  in  der  Auswahl  und  Ver- 
mehrung des  zu  erwerbenden  Sammelgutes.  Als  Bibliophile  zeigte 
er  Geschmack  in  der  Ausstattung  seiner  Bücher,  eine  der  hervor- 
ragendsten Norica  -  Privatbibliotheken  verdankte  ihm  ihre  Be- 
gründung. 

Die  bedeutende  Büchersammlung  des  Nürnberger  Arztes  Hart- 
mannSchedel,  des  Chronikautors,  war  um  die  Mitte  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  in  den  Fuggerbesitz  übergegangen.  Damals  hatte  das 
Augsburger  Geschlecht  der  Fugger  bereits  eine  Machtstellung  er- 

234  *  Abb.  142— 144,  U8 


16.  JAHRHUNDERT 

reicht,  die  sich  der  der  Medici  vergleichen  läßt  und  wie  die  großen 
italienischen  Handelsherren  waren  auch  die  deutschen  zu  Mäzenen 
von  Kunst  und  Wissenschaft  geworden.  Henri  Etienne,  den  Ullrich 
Fugger  unterstützte,  vergaß  nicht,  auf  den  Titelblättern  sich  dessen 
Typographen  zu  nennen.  Auf  ihre  kostbaren  Sammlungen  durften 
die  Fugger  stolz  sein.  Mit  der  Bibliothek  des  Kaiserlichen  Rates 
Hans  Jacob  Fugger,  die  auch  die  Bücherei  Schedels  enthielt, 
erwarb  Herzog  Albrecht  V.  von  Bayern  den  Grundstock  der 
Hofbibliothek  in  München.  So  reichen  deren  Anfänge  unmittelbar 
in  die  Blütezeit  des  deutschen  Humanismus  zurück. 

Augsburg,  begünstigt  von  Kaiser  Maximilian,*  durch  seine  enge 
Verbindung  mit  Venedig  ein  natürlicher  Vorort  des  neuen  Buches 
humanistischer  Achtung  und  künstlerischer  Ausstattung,  wurde  der 
buchgewerbliche  Mittelpunkt  der  großangelegten  Unternehmungen, 
durch  die  sich  der  kunst-  und  prachtliebende  Fürst  deiner  und  seines 
Hauses  Majestät  ein  Bücherdenkmal  sondergleichen  errichten  wollte. 
Bildzeichner  und  Formschneider  wetteiferten  hier  mit  den  Buch- 
druckern, um  Werke  zustandezubringen,  deren  rasch  entstandener 
Reichtum  die  Buchkunst  der  deutschen  Renaissance  lange  Jahre 
speiste.  Die  Buchgesinnung  Kaiser  Maximilians,  in  ihren  humanisti- 
schen Voraussetzungen  leicht  zu  erkennen,  war  aber  doch  weit  mehr 
als  die  Buchgönnerschaft  eines  das  Prunkbuch  zu  seinem  Ruhmes- 
künder  wählenden  Fürsten.  Die  Anerkennung  des  neuen  Buches, 
des  Druckwerkes  mit  Holzschnittschmuck,  mag  sie  auch  begründet 
in  den  Zeitverhältnissen  gewesen  sein,  war  eine  Tat,  um  so  mehr, 
als  das  von  der  burgundischen  Verwandtschaft  gegebene  Vorbild, 
als  die  Vorliebe  der  anderen  großen  Herren  unter  den  Büchersamm- 
lern, als  schließlich  die  eigene  Freude  an  der  mittelalterlich-ritter- 
lichen Vergangenheit  ihn  auf  die  Buchhandschrift  und  die  Buch- 
malerei zurückverwiesen.  Mag  man  daher  die  moderne  Tendenz  in 
den  auf  Befehl  Kaiser  Maximilians  entstandenen  Prachtwerken,  die 
meist  nicht  mehr  zu  ihrer  Vollendung  gekommen  sind,  auch  darin 
sehen  können,  daß  die  Buchruhmverbreitung  eben  erst  durch  die 
neuen  Buchvervielfältigungs verfahren  ermöglicht  wurde,  unbe- 
streitbar bleibt  trotzdem  nicht  allein  die  Großzügigkeit  der  Bücher- 

*Abb.  133,  134  235 


DEUTSCHLAND 

• 

plane  des  Kaisers,  sondern  auch  die  Größe,  mit  der  er  das  Druckwerk 
zum  Kunstwerk  adeln  wollte,  indem  er  ihm  die  höchsten  Aufgaben 
seiner  Ausdrucksfähigkeit  stellte,  höhere,  als  sie  sich  erfüllen  ließen, 
indem  er  aus  dem  Buchgerät  ein  Lebensfest  machte.  Anregend  und 
ausführend  stand  derart  Maximilian  inmitten  einer  vom  Buch- 
gewerbe getragenen  geistigen  und  künstlerischen  regsamen  Tätig- 
keit. Bücherschätze  der  deutschen  Vergangenheit  wurden  gehoben, 
um  in  edler  Buchform  der  Nachwelt  erhalten  zu  bleiben,  aus 
den  fremden  Sprachen  wurden  die  besten  Werke  ebenso  dem  deut- 
schen angeeignet,  dem  Bücherherren  huldigten  von  überallher  die 
nach  seinem  günstigen  Lobe  verlangenden  Widmungen.  Das,  was 
der  Bewegung  des  Humanismus  in  Italien  ihre  natürliche  Schwung- 
kraft gegeben  hatte,  der  Nationalismus,  was  sie  deshalb  in  deutschen 
Landen  entbehren  mußte,  es  würde  ihr  in  den  Bestrebungen  um  das 
deutsche  Buch,  die  vom  deutschen  Kaiser  ausgingen  und  wieder  zu 
ihm  zurückführten,  gewonnen  worden  sein,  wofern  eine  längere 
Dauer  diesen  Mühen  beschieden  gewesen  sein  würde.  Aber  einer  nur 
kurzen  Glanzzeit  folgte  ein  rascher  und  tiefer  Verfall  nach  dem  Tode 
des  Kaisers.  Das  Wort  Albrecht  Dürers,  das  1509  sein  Tagebuch 
aufnahm:  ,,Kayserliche  Majestät  ist  mir  zu  früh  gestorben"  gilt 
ebenso  für  den  größten  Meister  des  deutschen  Buchbildes  wie  für  die 
Entwicklung  des  deutschen  Buches  selbst.  Neuartig  und  vielleicht 
erst  in  einer  späteren  Zukunft  voll  zu  würdigen  sind  die  Gedanken 
Maximilians  gewesen,  das  Bild  im  Buche  mit  und  neben  der  Schrift 
zum  Träger  des  Werkinhaltes  werden  zu  lassen.  Sie  verloren  sich 
noch  im  Allegorienspiel,  verstrickten  sich  noch  in  den  Widersprüchen, 
die  ihre  Reife  zu  reiner  Buchschönheit  hemmten.  Aber  auch  hier  ist 
ein  höchstes  Ziel  gewesen,  das  durch  das  Buch  und  mit  dem  Buche 
gewonnen  werden  sollte,  die  allseitige  Ausgleichung  des  Denkens 
und  Schauens  im  Ebenmaß  eines  Kunstwerkes,  Das  Gruppenwerk, 
das  in  phantastisch  ausschweifenden  Planungen  vielgliedrig  von  allen 
Seiten  her  der  Kaiser  in  Arbeit  nehmen  ließ,  um  in  dessen  Aufbau 
die  Monumentalität  des  Buches  schließlich  zu  übersteigern,  ließ 
Maximilian  in  der  Beweglichkeit  des  Buches  das  geeignetste  Mittel 
finden,  seiner  eigenen  Unrast  zu  Hilfe  zu  kommen.   Es  war  aber  doch 

236 


16.  JAHRHUNDERT 

mehr  als  der  Ausfluß  einer  dynastischen  Selbstverherrlichung,  die 
in  der  eigenen  Subjektivität  wurzelte.  Der  Historiographen-Hof- 
dienst,  in  den  der  Kaiser  seine  Humanisten  rief,  sollte  das  imperia- 
listisch-nationale Bildungsideal  verherrlichen,  einen  Einfluß  auf  die 
öffentliche  Meinung  gewinnen.  Der  antifranzösischen  kaiserlichen 
Politik  diente  die  Betonung  des  deutschen  Volksgedankens,  die 
geistigen  Kräfte,  und  ebenso  die  künstlerischen,  die  Maximilian 
wachrief,  sollten  publizistisch  wirken.  Das  ist  die  moderne  Tendenz 
in  diesen  allein  als  eine  Verherrlichung  mittelalterlicher  Ritter- 
romantik vielfach  noch  geltenden  Werken.    Conrad  Celtis  [1459 

—  1508],*  der  unermüdliche  Vorkämpfer  des  deutschen  Humanis- 
mus und  der  Gründer  der  Hofbibliothek  in  Wien,  dachte  an  eine 
Beschreibung  Deutschlands  nach  Landschaften,  an  die  Buchreihe 
einer  , Germania  illustrata'.  Ein  Gedanke,  der  deutlicher  den  Realis- 
mus erläutert,  den  unverkennbar,  obschon  unter  phantastisch-poeti- 
sierenden  Verhüllungen,  auch  die  kaiserlichen  Prachtwerke  zeigen. 
Die  meisten  Bände  des  bibliographischen  Organon,  das  der  Kaiser 
nach  seinen  eigenen  Plänen  für  sich  selbst  herstellen  lassen  wollte 
und  das  in  seiner  Vollendung  ein  Höhepunkt  des  humanistischen 
Buchideals  geworden  sein  würde,  sind  nicht  zu  Ende  gekommen. 
In  Augsburg  bestand  für  sie  ein  von  Konrad  Peutinger  [1465 

—  1547]*  geleitetes  förmliches  Buchamt,  das  mit  der  Verarbeitung 
und  Verwirklichung  der  verzweigten  Aufträge  des  Kaisers  für  die 
Herstellung  seiner  Ehrenbücher  betraut  war.  1517  ist  der  ,Teuer- 
dank'  veröffentlicht  worden,  die  Beschreibung  der  burgundischen 
Hochzeitsfahrt  Maximilians.  Doch  die  Schilderung  seines  Lebens 
und  seiner  Regierung  in  dem  Fürstenspiegel  des  ,Weißkunig*,  die 
seiner  Ritterlichkeit  im  ,Freydair  blieben  mit  den  anderen  in  An- 
griff genommenen  Bänden  nach  seinem  Tode  unvollendet.  Und 
auch  das  für  den  St.  Georgenritterorden  bestimmte  , Gebetbuch*,  diese 
unvergleichliche  Schöpfung,  in  der  die  Buchkunst  der  deutschen 
Renaissance  gipfelt,  ursprünglich  dazu  ausersehen,  für  den  Kreuz- 
zug zu  werben,  kam  zu  keiner  endgültigen  Ausführung. 

Das  Beispiel  dieser  Art  kaiserlicher  Buchpflege  blieb  nicht  ohne 
jede  Nachahmung,  doch  über  die  Nähe  der  Umgebung  des  Herr- 

*  Abb.  137-139  237 


DEUTSCHLAND 

Sehers  reichte  es  nicht  weit  hinaus.  So  hat  der  kaiserliche  Protonotar 
Florian  Waldauf  jvon  Waidenstein  der  Hertellung  bild- 
geschmückter schöner  Bücher  auf  seine  Kosten  tatkräftige  Unter- 
stützung verliehen,  wobei  ihm  Maximilian  einmal  wenigstens,  soweit 
wir  es  wissen,  zur  Seite  stand.  Bedeutsamer  ist  es  für  die  Ausbreitung 
des  Büchersammelns  geworden.;jDie  Beschäftigung  mit  dem  Buche 
in  ritterlich  vornehmer  Weise,  die  Beispiele  edler  'Bücherliebe  und 
Bücherlust,  die  der  Kaiser  gab,  machten  Maximilians  I.  Buchpflege 
zum  nächsten  Vorbilde  höfischer  Kreise.  Das  Geschenk  seines 
jTheuerdank*  mag  zum  Grundstock  mancher  Adelsbibliothek  ge- 
worden sein.  Aber  auch  die  .'Bibliotheca  Palatina  Vindo- 
bonensis,  die  Hofbibliothek  in  Wien,  hat  in  seinem  Namen  ihren 
eigentlichen  Ausgangspunkt.  Sie  blieb  eine  Verkörperung  der 
Bibliophilietradition  weiterhin,  vornehmlich  derjenigen  Wiens,  von 
dessen  geschätzten  Privatbibliotheken  nicht  wenige  ihr  zufielen. 
Zwar  hatte  schon  Kaiser  Friedrich  III.  [1440—1493]  seinen 
Handschriftenbesitz  von  Aeneas  Sylvius  Piccolomini,  dem 
späteren  Papste  Pius  IL,  sichten  lassen.  Aber  erst  seines  Sohnes 
Auftrag  an  Conrad  Celtis  [1459 — 1508],  den  noch  von  Friedrich 
preisgekrönten  Dichter,  dessen  „Quatuor  libri  amorum"  Dürers 
Zeichnungen  schmückten,  den  Herausgeber  der  Opera  Roswithae 
und  den  Entdecker  der  Tabula  Peutingeriana,  die  Büchersammlung 
zu  ordnen  und  zu  verwalten,  wobei  dann  auch  die  Bücherei  des 
Geltes  nach  dessen  Tode  in  der  kaiserlichen  aufging,  bezeichnete  den 
Beginn  einer  bestimmten  Bibliotheksentwicklung.  Unter  des  Geltes 
Nachfolger  Johannes  Cuspinianus  [Spieshaym  aus  Schwein- 
furt] [1443—1529],  ebenfalls  einem  ausgezeichneten  Bibliophilen  und 
Humanisten,  kamen  neben  manchem  Klosterbesitz  auch  die  Über- 
reste der  Bibliotheca  Corvina  von  Ofen  nach  Wien.  Diesem 
folgten  in  der  Aufsicht  der  kaiserlichen  Büchersammlung  Caspar 
vonNydpruck  und  der  Leibarzt  Kaiser  Ferdinands  L,  Wolf  gang 
Lazius  [1504—1555],  dessen  eigene  Büchersammlung  1608  in  die 
Hofbibliothek  gelangte.  Unter  seiner  Leitung  vermehrte  sich  diese 
vor  allem  durch  den  Erwerb  der  [teilweise  in  die  Bibliothek  des 
St.  Nikolaus- Kollegiums  gelangten]  mit  der  des  Johann  Alexander 

238 


16.  JAHRHUNDERT 

Brassicanus  [1500—1539]  verbundenen  berühmten  Büchersamm- 
lung  des  Bischofs  von  Wien  Johannes  Faber  [Heigerlin  1478 
— 1541],-  des  gelehrten  und  redlichen  Mannes,  der  seinen  Bänden 
einen  gedruckten  oder  geschriebenen  Besitzvermerk  einzuverleiben 
pflegte,  in  dem  er  erklärte,  er  habe  sie  nicht  aus  seinen  bischöf- 
lichen Einkünften  erworben,  sondern  mit  durch  andere  ehrliche 
Arbeit  verdientem  Gelde.  Damals  ist  auch  die  Bücherei  des 
Johannes  Dernschwamm  von  Hradiczin  in  die  kaiserliche  auf- 
genommen worden.  Die  240  Handschriften,  die  A.  von  Busbecke 
von  seiner  Gesandtschaft  aus  Konstantinopel  heimgebracht  und  die 
Kaiser  Maximilian  II.  der  Hofbibliothek  zugeführt  hatte,  kamen  in 
einer  dem  Abschluß  ihrer  humanistischen  Periode  folgenden  Ruhe- 
zeit in  die  Sammlung,  die  erst  wieder  der  erste  beamtete  Bibliothekar 
Hugo  Biotins  [aus  Delft]  zu  neuem  Leben  erweckte,  weshalb 
Lipsius  die  elegantesten  Philologenhöflichkeiten  in  der  Widmung 
seiner  Tacitusausgabe  an  den  Kaiser  nicht  sparte.  ,,Una  Viennensis 
aula  Tua  plures  eruditos  habet  quam  aliorum  tota  regna^\  schrieb 
er  dem  Monarchen,  hinzufügend:  „quibus  et  Bibliothecam  jam 
instruxisti  sie  adfluentem  omni  genere  monumentorum,  ut  certamine 
cum  Philadelpho  et  Pergamenis  regibus  instituto  vel  superare  eos 
posse  videaris,  vel  certe  aequare."  Die  2618  Bände  Druckwerke  und 
Handschriften,  die  die  Bibliothek  des  Arztes  und  Kaiserlichen  Rates 
Johannes  Sambucus  [Sambuky  1531—1583]  bildeten,  brachten 
eine  Büchersammlung,  die  sich  eines  großen  Rufes  in  Wien  erfreut 
hatte,  nach  dem  Tode  dieses  Bibliophilen  in  die  Hofbibliothek,  die 
allerdings  in  der  Amtszeit  des  Biotins  durch  dessen  allzu  große  Nach- 
sicht bei  der  Benutzungserlaubnis  auch  manches  Buch  verloren 
hatte,  weshalb  ihm  der  Freiherr  Richard  Strein  von  Schwar- 
zenau  und  nach  ihm  Sebastian  Tengnagel  sein  Nachfolger,  bei- 
geordnet wurden.  Aller  drei  Bibliothekare  Privatbibliotheken  sind 
nach  ihrem  Tode  der  Hofbibliothek  zugeführt  worden,  die  Streinsche, 
1600,  die  des  Biotins  und  die  4000  Bände  enthaltende  kostbare 
Sammlung  Tengnagels  1636.  Zwischen  1651  und  1667  bereicherten 
bedeutende  Büchersammlungen  die  kaiserliche,  die  aus  Augsburg 
für  15000   Gulden  erworbene  ebenso  viele  Bände  zählende   Rai- 

239 


DEUTSCHLAND 

mund  Fuggerische,  Bestände  der  Bibliothek  Tycho  Brahes, 
die  6000  Bände,  die  1665  aus  Schloß  Ambras  nach  Wien  gebracht 
wurden  und  die  auserlesene  Lambeckische  Privatbibliothek,  sowie 
diejenige  des  spanischen  Marques  Gabrega.  Als  dem  Petrus 
Lambeck  [aus  Hamburg,  gestorben  1680]  von  Kaiser  Leopold 
1663  sein  Büchersaal  anvertraut  wurde,  fand  ihn  der  gelehrte  Lite- 
rarhistoriker  in  keiner  guten  Ordnung.  Sein  Verdienst  war  es,  sie 
wiedefKerzustellen,  dazu  in  einem  umfangreichen,  unvollendeten 
Werke,  ,,Commentarii  de  Augusta  Bibliotheca  Caesarea*',  den  Wert 
ihrer  80000  Bände  für  die  Schrifttumsgeschichte  zu  erläutern.  Lam- 
becks  bibliothekarisch-literarhistorische  Tätigkeit  bezeichnet  für 
die  Hofbibliothek,  die  nun  aus  ihrer  humanistischen  und  ihrer  philo- 
logischen Periode  in  die  enzyklopädische  gelangte,  den  Anfang 
eines  raschen  Anwachsens,  das  allerdings  erst  im  achtzehnten  Jahr- 
hundert auch  zu  einer  äußeren  Geltung  kam  in  der  höfischen  Pracht- 
entfaltung eines  Prunkbaues,  um  dessen  Vollendung  sich  die  italie- 
nischen Bibliothekare  Kaiser  Karls  IL,  sein  Leibarzt  Nicolaus 
Pius  Garelli  [gestorben  1739]  und  Alexander  Riccardi  [ge- 
storben 1726]  bemüht  hatten.  In  den  weitberühmt  werdenden 
Büchereiraum  kamen  nun  große  Liebhaberbüchereien,  die  [1730]  aus 
den  Niederlanden  herangeschaffte  des  Freiherrn  von  Hohen- 
dorf ,  die  editiones  optimae  der  antiken  Klassiker  enthaltend,  in  aus- 
gesuchten Abzügen  und  Einbänden  [6731  Bände  Druckwerke, 
252  Handschriften],  die  Cardonische  Bibliothek  aus  Spanien 
[4000  Bände],  die  ähnlich  der  Hohendorfischen  ausgewählte  Bücher- 
sammlung des  Prinzen  Eugen  von  Savoyen  [1738].  Es  war 
die  Zeit,  in  der  die  allgemeinere  öffentliche  Benutzung  der  Hof- 
bibliothek einsetzte,  ihr  öffentlichwerden.  Diese  ihre  Umstellung 
nach  bibliothekstechnischen  Gesichtspunkten  zur  Leistungsfähig- 
keit einer  wissenschaftlichen  Zentralbibliothek  durchgeführt  zu 
haben  ist  das  Verdienst  des  [1772  gestorbenen]  Bibliothekars  und 
Leibarztes  der  Kaiserin  Maria  Theresia,  Freiherrn  Gerhard  von 
Swieten.  Er  gab  die  doppelten  überflüssigen  Werke  an  die  Uni- 
versitätsbibliotheken in  Prag  und  Innsbruck,  sowie  an  verschiedene 
Mendikantenklöster  ab,  er  ließ  die  Bestände  binden  und  einordnen, 

240 


16.  JAHRHUNDERT 

er  suchte  sie  durch  Ankäufe  systematisch  zu  ergänzen,  er  zeigte,  daß 
die  Einrichtung  einer  öffentlichen  und  wissenschaftlichen  Bibliothek 
in  derjenigen  Verwaltung  ihres  Bücherschatzes  einen  Betriebs- 
mittelpunkt habe,  der  ihre  Verwertung  erschließt.  Seitdem  sind  noch 
manche  Privatbibliotheken  von  Rang  in  die  Hofbibliothek  aufgenom- 
men worden,  so  diejenigen  der  Kaiser  Leopold  I.,  Karl  VI., 
Josef  II.  und  Leopold  IL,  die  gräflich  Starhembergische  aus 
Grätz,  die  Handschriftensammlung  des  Freiherrn  von  Schwach- 
heim, die  Dissertationenkollektion  des  Freiherrn  von  Sencken- 
berg  im  achtzehnten  Jahrhundert,  die  orientalischen  Manuskripte 
des  Freiherrn  J.  von  Hammer-Purgstall  und  die  Papyrus- 
sammlung Erzherzog  Rainers  [100000  Papyri]  im  neunzehnten. 
Die  Abgabe  von  Pflichtexemplaren  aus  der  ganzen  österreichischen 
Monarchie  hatte  Kaiser  Franz  L,  der  seine  Büchersammlung  von 
derjenigen  der  Hofbibliothek  trennte,  am  9.  Juni  1808  angeordnet, 
nachdem  aus  der  Hauptstadt  des  alten  deutschen  Reiches  die  Kaiser- 
stadt des  österreichischen  Staats  geworden  war.* 

Anders  als  in  Italien,  wo  das  Band  der  auch  nationalen  Be- 
wegung des  Humanismus  die  Buchfreunde  vereinte,  anders  als  in 
Frankreich,  wo  schon  die  Hauptstadt  die  beispielgebende  Führung 
des  Buchwesens  übernahm,  blieb  im  Deutschland  des  fünfzehnten 
Jahrhunderts  das  Büchersammelwesen  ohne  einen  festeren  Zu- 
sammenhang. Die  Ursache  dafür,  dafi  BibUophilen  und  Bibliophilie 
hier  lange  lokalisierte  Erscheinungen  gewesen  sind,  dafi  etwa  ein  Buch- 
freund im  Osten  seine  Bücherei  nach  den  Mustern  einrichtete,  die  er 
von  Welschland  heimgebracht  hatte,  ein  anderer  im  Westen  sich 
keineswegs  eine  ähnliche  Bücherei  sammelte  wie  ein  dritter  in  der 
Nachbarstadt,  ist  indessen  keineswegs  allein  aus  der  staatlichen  Zer- 
rissenheit der  deutschen  Lande  oder  aus  der  deutschen  Vorliebe  für 
fremdländisches  Wesen  zu  erklären.  Kulturell,  nicht  nur  politisch, 
war  Deutschland  noch  derart  vielgestaltig,  dafi  selbst  Süddeutschland 
nicht  als  ein  ganzes  Gebiet  deutschen  Geisteslebens  gelten  konnte. 

Das  unstete  Wanderleben,  das  manche  deutsche  Humanisten 
führten  oder  führen  mufiten,  war  ruhigem  Sammeln  nicht  zuträg- 
lich.  Ullrich  von  Huttens  [1488—1523]*  Antwort  an  die  Mainzer 

BOOEKO    16  *  Abb.  147,  167—169  241 


DEUTSCHLAND 

Bürger  auf  ihre  Drohung,  seine  Bücher  verbrennen  zu  wollen: 
„Verbrennt  ihr  meine  Bücher,  verbrenne  ich  eure  Stadt"  beleuchtet 
solche  Fährlichkeiten,  in  die  allzuleicht  humanistisch-reformatorische 
Streitlust  den  Buchfreund  führen  konnte.  Wurde  doch  sogar  der 
bedachtsame  Johannes  Reuchlin  [1455 — 1522],  der  seine  Bücherei 
seiner  Vaterstadt  Pforzheim  vermachte,  durch  seine  Bücherlust  in 
den  Kölner  Judenbücherstreit  verwickelt.  Allzu  rasch  flammten 
auch  die  Bücherscheiterhaufen  auf,  wenn  es  galt,  dem  Gegner  die 
Waffen  seines  Wortes  zu  zerstören.  Und  die  Kämpfe  der  politisch- 
religiös-sozialen Wirrungen  schonten  mit  anderem  Besitz  die  Bücher- 
sammlungen nicht.  Wie  viele  von  ihnen  hat  nicht  allein  der  Bauern- 
krieg zerstört. 

Der  gelehrte  Reisende  war  seit  dem  fünfzehnten  Jahrhundert 
eine  gewohnte  Erscheinung.  Lehrend,  lernend  und  sammelnd  be- 
suchte er  die  Musensitze  in  den  verschiedenen  Ländern  und  knüpfte 
Beziehungen  an,  die  ein  gelehrter  Briefwechsel  festhielt.  Der  Begrün- 
dung von  Büchersammlungen  waren  derartige  Reisen  günstig,  blieben 
doch  bis  in  das  achtzehnte  Jahrhundert  die  ausgedehnten  Bücher- 
reisen das  hauptsächliche  Mittel  einer  Büchereivermehrung  größeren 
Umfanges,  weil  der  Altbuchhandel  allein  in  den  bedeutenderen 
Städten  eine  eigene  Geschäftsentwicklung  gewonnen  hatte  und  die 
Bestellungen  durch  Bezugsschwierigkeiten  gehemmt  wurden.  Der 
später  vielleicht  fernab  von  den  Verkehrswegen  lebende  Student 
benutzte  deshalb  auch  die  Studienjahre,  um  den  für  seinen  Beruf 
nötigen  Bücherschatz  zusammenzutragen,  für  dessen  Vermehrung 
er  weiterhin  nicht  mehr  mit  solcher  Freiheit  der  Bücherwahl  sorgen 
konnte.  Wenn  seine  Mittel  und  seine  Neigungen  ihm  die  Ausbil- 
dung eines  feineren  Buchgeschmackes  gestatteten,  bildete  er  sich  in 
der  Fremde  wohl  auch  zum  Bücherliebhaber  wie  die  deutschen  Stu- 
denten Damianus  Pflug  aus  dem  Hause  Knauthayn,  der  in  den 
vierziger  Jahren  des  sechzehnten  Jahrhunderts  in  Leipzig,  Paris 
und  Bologna  war,  und  der  ihm  etwa  gleichalterige,  von  1542 — 1548 
in  Bologna  studierende  Nicolaus  von  Ebeleben,*  deren  Namen 
durch  die  schönen  Einbände,  die  sie  sich  fertigen  ließen,  bekannt 
geworden  sind.    Aber  im  allgemeinen  blieb  doch  der  von  Sebastian 

242  *  Abb.  146 


16.  JAHBHUNDEBT 

Brant  schon  1494  in  heiterem  Selbstspott  seinem  Narrenreigen  voran- 
gestellte deutsche  Büchergeck  mehr  ein  Quantitäts-  als  ein  Qualitäts- 
sammler. Ausnahmen  bestätigen  diese  Regel.  Zu  ihnen  hatte  der 
jung  verstorbene  schlesische  Humanist  Thomas  Rehdiger  [1540 
—  1576]  gehört,  ein  Schüler  Melanchthons  und  Freund  des  Cujacius, 
der  auf  seiner  Bücherfahrt  in  Frankreich,  Italien  und  den  Nieder- 
landen seit  1561  manches  Prachtstück  aufzufinden  wußte.  Die 
Bibliotheca  Rehdingeriana  hinterließ  er  seiner  Vaterstadt  Breslau, 
wo  sie  erhalten  blieb.  Den  Büchersammlungen  des  Fürstbischofs 
[1573]  und  Stifters  der  Universität  von  Würzburg,  Julius  Echter 
von  Mespelbrunn  [1545—1617]*  ist  das  Geschick  nicht  so  günstig 
gewesen,  sie  sind  im  Dreißigjährigen  Kriege  zerstreut  worden.  Sonst 
würde  dieser  durch  Gelehrsamkeit  und  Geschmack,  Macht  und  Mittel 
ausgezeichnet  gewesene  Mann  mit  seinem  Namen  unter  den  berühm- 
ten Buchfreunden  des  sechzehnten  Jahrhunderts  nicht  zu  Unrecht 
vergessen  worden  sein.  Anders  als  der  Einbandliebhaber  Petrus 
Ugelheimer*  aus  Frankfurt  a^  M.,  der  seit  1483  als  Geschäfts- 
genosse des  Druckers  Nicolas  Jenson  in  Venedig  weilte,  anders  als 
die  im  Auslande  sich  bereichernden  buchkunstfreudigen  Studenten 
hat  er  auch  die  Einbandkunst  deutscher  Werkstätten  gefördert. 

Die  Autorität  des  Buches,  von  den  Humanisten  neu  auf  die 
seines  Verfassers  gegründet,  hatte  durch  Luthers  Reformation  seine 
schwerste  Erschütterung  erfahren.  Dem  Index  der  von  Rom  ver- 
botenen und  verdammten  Bücher  stellte  sich  eine  andere  Liste 
solcher  Bücher  entgegen,  ein  Bücherstreit  sondergleichen  entfachte 
sich  an  den  Flammen  des  Scheiterhaufens,  in  dem  am  10.  Dezember 
1520  die  Bannbulle  des  Papstes,  die  vom  Papste  anerkannten 
Kirchen-  und  Rechtslehrer  in  effigie  mit  den  Blättern  ihrer  Bücher 
verbrannten.  Auch  ein  äußerer  Umschwung  im  Schrifttum  vollzog 
sich  nun,  die  Bände  schwerfälliger  Gelehrsamkeit  wichen  den  be- 
weglichen Streitschriften,  den  Trägern  der  öffentlichen  Meinung, 
mit  ihr  entwickelten  sich  die  Begriffe  der  Presse  und  der  Preß- 
freiheit. Den  Geistlichen  und  Gelehrten  war  das  Buch  von  den  Hu- 
manisten fortgenommen  worden,  um  es  den  Gebildeten  zu  geben, 
die  Reformatoren  gingen  noch  einen  Schritt  weiter  oder  zurück,  sie 

16*  *Abb.  156,  158, 145  243 


DEUTSCHLAND 

wollten  es  den  Einfältigen,  den  Nichtgebildeten,  den  Nichtgelehrten 
schenken,  dem  Volke.  Nicht  das  Buch,  denn  das  Buch  ist  nun  nur 
eine  Waffe,  sondern  das  Wort.  Ein  Rückgang  des  Schrifttums,  der 
wissenschaftlichen  Veröffentlichungen  war  zunächst  die  Folge,  eine 
mehr  buchgewerbliche  als  geistesgeschichtliche  Erscheinung,  die 
aus  der  erst  allmählichen  Überwindung  des  entstandenen  Zwie- 
spaltes zwischen  Buch  und  Presse  hervorging.  Denn  neue  Bahnen 
waren  der  Bibelverbreitung  als  der  eines  Volksbuches  geöffnet,  neue 
Wege  dem  Denken  freigemacht  worden.  Und  wie  die  Reformation 
den  deutschen  Norden  und  Süden  trennte,  verschob  sie  auch  das 
Schwergewicht  des  deutschen  Buchwesens  nach  Norden,  ließ  von 
Wittenberg  her  ein  neues  deutsches  Buchland  sich  ausbreiten,  in- 
dessen im  Süden  die  Dürre  eben  sich  entfaltenden  Blütenreichtum 
vernichtend  traf.  Erst  die  Gegenreformation  und  die  Jesuiten 
schufen  einen  Ausgleich  durch  neu  sich  bewährende  Buchpflege. 
Bildungsstätten  und  Büchersammlungen  pflegen  in  engster 
Verbindung  miteinander  zu  stehen.  Der  Betrieb  der  Wissenschaften 
in  seinem  Zusammenhange  mit  dem  Buchwesen  bewirkt  die  natür- 
lichen Voraussetzungen  für  die  Privatbibliotheken,  die  abhängig 
sind  nicht  allein  von  den  Beschaffungsmöglichkeiten  der  Bücher, 
sondern  auch  von  den  Auffassungen,  die  über  die  Gelehrsamkeit 
gelten.  Das  gilt  wenigstens  überall  da,  wo  Bildung  und  Gelehrsam- 
keit noch  untrennbar  verbunden  scheinen,  wo  also  andere  als  wissen- 
schafthche  Büchereien  nicht  angelegt  werden,  im  gewissen  Sinne  bis 
heute  noch.  Denn  mag  auch  die  Buchverbilligung  und  Buch- 
verbreitung durch  die  Erfindung  Gutenbergs  die  Büchersammlungen 
vermehrt  haben,  mögen  auch  Bibel  und  Gesangbuch  durch  die  Re- 
formation volkstümlich  geworden  sein,  mag  auch  die  Entstehung  der 
Fachwissenschaften,  die  Einschränkung  der  internationalen  lateini- 
schen Literatur  durch  die  Nationalliteraturen,  die  buchhändlerische 
Verkehrsentwicklung  eine  Allgemeinbildung  ausgebreitet  und  durch 
sie  bedingte  und  bestimmte  Büchersammlungen  hervorgerufen 
haben:  solange  deren  Vorhandensein  nicht  der  Ausdruck  einer  Welt- 
anschauung wurde,  die  der  Einteilung  der  Wissenschaften  eine  feste 
Richtung  gab,  konnten  sie  Selbständigkeit  als  solche  nicht  erreichen. 

244 


16.  JAHRHUNDERT 

Die  bibliographische  Systematik,  die  die  Beherrschung  der  Bücher- 
massen durch  bibliothekarische  Technik  zu  erreichen  strebt,  ist  der- 
art untrennbar  mit  der  Metaphysik  und  Erkenntnistheorie  verbunden. 
Wenn  in  der  Philosophie  und  Religion  diese  höchsten  Probleme  um- 
stritten werden,  ohne  daß  eine  herrschende  Meinung  sich  durch- 
zusetzen vermag,  kann  es  auch  keine  allgemeiner  gültige  Systematik 
geben,  die  ausgleichend  den  Büchersammlungen  Halt  verleiht.  Dann 
herrscht  eine  von  dem  einzelnen  nur  zu  überbrückende,  nicht  zu 
überwindende  Unsicherheit  in  den  Wissenschaften. 

Die  Bedeutung  kirchlicher  Bildungsstätten  hatte  sich  ge- 
mindert, je  mehr  die  weltlichen  Wissenschaften  zu  weltUchen  Be- 
rufen wurden  und  den  Umkreis  der  Universitäten  weiteten,  die  die 
Autorität  eines  unabhängig  vom  Glauben  werdenden  Wissens 
verstaatUchten.  Der  geistige  Kampf,  in  dem  die  Kirchenlehre  und 
die  gegen  sie  gerichteten  Loslösungsbestrebungen  sich  auseinander- 
setzten, dauerte  jahrhundertelang,  ist  nach  Form  und  Inhalt  eine 
so  verschiedenartige  Wandlung  der  Denkrichtungen  und  Denk- 
weisen gewesen,  daß  seine  Kennzeichnung  durch  einige  Schlagworte 
mißglücken  muß.  Auch  sein  Ausbruch  oder  Ausklang  läßt  sich 
nicht,  so  verlockend  es  wäre,  symbolisch  in  dem  Ortsnamen  Witten- 
berg zusammenfassen.  Nicht  nur,  daß  die  Reformation  kein  bloßer 
Religionsstreit  gewesen  ist,  daß  ihre  politischen  und  sozialen  Trieb- 
kräfte sie  zu  einer  Revolution  werden  ließen,  nicht  nur,  daß  in  ihrem 
Verlaufe  dogmatische  Erneuerungen  von  amtUchen,  von  Fakultäts- 
wissenschaften sich  vollzogen,  die  längst  schon  vorbereitet  waren, 
weist  auf  das  Durcheinander  schwer  zu  umgrenzender  innerer 
Widersprüche,  sie  erscheint,  mag  das  in  der  Wendung,  die  sie  auf 
die  Gesetze  der  Wirklichkeit  hin  nimmt,  auch  zurücktreten,  in  einem 
Polaritätsproblem  wurzelnd,  dem  der  Denkwissenschaft  und  der 
Gefühlswissenschaft,  als  welche  man  die  Mystik  in  ihrem  eigentlichen 
Sinne  bezeichnen  muß.  Daraus  aber  ergeben  sich  derart  mannig- 
fache, in  die  Vergangenheit,  in  die  Zukunft  der  Reformationsepoche 
führende  Beziehungen,  daß  ihre  Einflüsse  auf  das  Buchwesen  in 
seiner  Vertiefung  auf  den  Horizont  der  Weltanschauungsbilder  zu 
sich  kurz  nicht  erkennbar  machen  lassen.    Doch  auch  eine  äußere, 

245 


DEUTSCHLAND. 

lokale  Orientierung  ist  nicht  ohne  weiteres  gegeben.  Die  Begründung 
von  Hochschulen,  von  Vororten  geistigen  Lebens,  ist  weit  weniger 
als  die  von  wirtschaftlichen  Gemeinwesen  von  natürlichen  Vorbedin- 
gungen bestimmt,  die  ihnen  ihre  Lage  auf  der  Landkarte  anweist. 
Andere  Einflüsse  entscheiden,  die  bedeutende  Persönlichkeit,  die 
die  Sage  gern  zum  Städtegründer  wählt,  ist  für  die  Anstalten,  die 
einen  Bildungshöhe-  und  -mittelpunkt  weisen  sollen,  mögen  sie  Uni- 
versitäten oder  sonstwie  heißen,  sehr  viel  wesentlicher.  Wenn  in 
den  deutschen  Landen  im  Südwesen  die  Universitäten  früher  und 
zahlreicher  vorhanden  gewesen  sind  als  im  Norden  und  Osten,  ent- 
spricht das  dem  Fortschreiten  der  Zivilisation.  Und  wenn  dann 
die  im  Nordosten  entstehenden  Universitäten  auch  die  Burgen  der 
Reformation  geworden  sind,  ist  diese  ihre  Eigenart  ihnen  auch  aus 
ihrer  |staatlichen  Zugehörigkeit  zu  den  Ländern  reformierender 
Fürsten  erwachsen.  Seitdem  in  den  politischen  Auswirkungen  der 
Reformation  Nord-  und  Süddeutschland  die  engere  geistige  Gemein- 
schaft verloren,  fiel  die  eigentliche  Führung  im  deutschen  Geistes- 
leben vorübergehend  den  norddeutschen  Bildungsstätten  zu  und 
mit  ihnen  verbanden  sich  die  großen  Namen  einer  neuen  Blütezeit 
des  deutschen  Schrifttums. 

Lange  sind  Erfurt  [gegründet  1392]  und  Leipzig  [gegründet  1409] 
mit  dem  abgelegenen  Rostock  [gegründet  1419]  sowie  Greifswald  [ge- 
gründet 1456]  und  dem  polnischen  Krakau  [gegründet  1401]  die 
nicht  allzustarken  Bollwerke  des  geistigen  Deutschland  im  Nord- 
osten geblieben.  Um  1400  gehörte  Leipzig  schon  den  Wettinern, 
nicht  viel  später  gelangte  die  alte  |sächsische^Kurwürde  an  eine  ihrer 
Linien,  der  das  Herzogtum  Sachsen- Wittenberg  zufiel.  In  der  zweiten 
Hälfte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  kamen  alle  Wettinischen  Län- 
der noch  einmal  in  der  Hand  ;zweier  gemeinsamsam  regierenden 
Brüder  zusammen.  Aber  bereits  1485  teilte  sich  das  Gesamthaus  in 
die  beiden  Hauptlinien  der  Ernestiner  und  Albertiner.  Diese  er- 
hielten durch  die  Teilung  Leipzig,  jene,  im  Besitze  der  Kurwürde, 
blieben  ohne  Hochschule.  Anregungen  des  Kaisers  Maximilians  L, 
der  Bildungsdrang,  |hervorgerufen  durch  den  Humanismus,  Rück- 
sichten auf  das  Staatswesen,  sie  alle  werden  bei  der  Begründung 

246 


16.  JAHBHUNDEBT 

Wittenbergs  [im  Jahre  1502]  durch  den  Kurfürsten  Friedrich  den 
Weisen  mitgewirkt  haben.  Dem  Beispiel  folgend,  das  die  Fürsten- 
höfe ItaUens  boten,  wollte  dieser  Herrscher  einen  Musenhof  aus 
seiner  kleinen  Residenzstadt  schaffen.  Ließ  sie  sich  an  Reichtum 
auch  den  großen  Städten  Süddeutsclhands  nicht  vergleichen,  war 
sie  auch  abgelegen  von  den  Wegen,  auf  denen  sich  rasch  die  Stätten 
damaliger  Kunst  und  Wissenschaften  verbanden,  Ehrgeiz  und 
Prunkliebe  vermochten  viel.  Aufträge  und  Berufungen  gaben  den 
gefeiertsten  Künstlern  der  Zeit  Beschäftigungen,  die  kurfürstlichen 
Hofbauten  begannen  das  arme  Land  zu  schmücken.  Aber  alles  das 
blieb  nur  eine  kurze  Glanzzeit  hindurch,  die  ihr  Ende  in  den  Re- 
formationskriegen fand.  Und  Johann  Friedrich  L,  der  Großmütige, 
der  1552  aus  der  Gefangenschaft  heimkehrte,  wählte  Weimar  zum 
Aufenthaltsorte  seines  Hofstaates. 

Als  Martin  Luther,  im  Wintersemester  1508/09,  in  Witten- 
berg immatrikuliert  wurde,*  zeigte  die  Universität  und  ihr  Unter- 
richtsbetrieb zwar  äußerlich  noch  das  Formengepräge  des  Mittel- 
alters. Immerhin  machte  der  neue  Geist  sich  in  größeren  und  kleine- 
ren Änderungen  bemerkbar.  In  der  Artistenfakultät  bemühten  sich 
die  Humanisten  um  die  Verbesserung  der  lateinischen  und  auch  der 
griechischen  Sprachstudien,  in  der  Philosophie  war  von  den  drei 
führenden  Aristotelesschulen  im  Jahre  vorher  ein  Occamist,  ein 
Vertreter  der  gegenüber  dem  Thomismus  und  Scotismus  modernen 
Richtung,  berufen  worden.  Die  Auslegung  der  Bibel,  auf  die  seit 
1509  das  Lehramt  des  Doktors  der  Theologie  Luther  sich  gründete, 
brachte  von  neuem  das  Buch,  das  schon  in  der  frühchristlichen  Zeit 
der  Mittelpunkt  aller  Büchersammlungen,  die  sich  nach  ihm  richten 
sollten,  gewesen  war,  auf  diesen  Platz  und  veränderte  so  von  Grund 
aus  das  Gefüge  des  Schrifttums.  Einmal,  indem  es  den  alten,  vom 
Humanismus  überwundenen  Gegensatz  christlicher  und  heidnischer 
Werke  in  einen  neuen  Gegensatz  zwischen  katholischen  und  refor- 
matorischen verwandelte  und  derart  bald  eine  auf  alle  Fakultäten 
sich  erstreckende  Bibliothekenscheidung  herbeiführte.  Dort  wurden 
die  ketzerischen  Bücher  den  Lesern  verboten,  hier  ihnen  die  päpst- 
lichen verwiesen.    Dazu  kam,  daß  auch  ein  rasch  sich  verbreiternder 

*  Abb.  149  247 


DEUTSCHLAND 

Riß  den  Aufbau  der  Wissenschaften  zerstörte.  Gegen  des  Aristo- 
teles Autorität  wendete  sich  die  Gnadenlehre  Luthers,  seine  Hin- 
neigung zu  Augustinus  gegen  die  Scholastiksysteme.  Gab  man  im 
humanistischen  Klassikerkanon  der  Bibel  den  ersten  Platz,  so  fanden 
auch  gleichzeitig  die  Realien  in  dem  Bestreben  Luthers,  die  Bibel 
sachhch  zu  erläutern,  einen  festen  Stützpunkt,  der  in  dieser  Epoche 
der  Entdeckungen  und  Erfindungen  mit  ihrer  Erweiterung  des  Welt- 
bildes zum  Träger  anderer  Weltanschauungen  erstarkte,  die  die 
Geisteswissenschaften  von  den  Naturwissenschaften  trennte.  All- 
mählich beginnen  die  sich  ansammelnden .  Büchermassen  ihre  Lage- 
rung zu  verschieben,  die  Büchersammlungen,  deren  Auswahl  Längs- 
und Querschnitte  durch  sie  zeigt,  heben  nach  und  nach  die  einzelnen 
Schichten  der  sich  nun  abgrenzenden  Fachwissenschaften  schon  deut- 
lich hervor,  eine  Entwicklung,  die  freilich  erst  mit  dem  Ende  des 
siebzehnten  Jahrhunderts  einen  Abschluß  findet,  in  einer  Zeit,  in 
der  ausgebildete  oder  sich  eben  ausbildende  Nationalliteraturen 
einerseits  eine  Scheidung  der  schönen  und  der  sonstigen  Wissen- 
schaften, der  Bildungs-  und  der  Gelehrsamkeitsliteratur  bestimmen, 
andererseits  der  Gelehrtenrepublik  mit  ihrer  lateinischen  Sprache 
die  internationale  Geltung  nehmen.  Die  Beschränkung  auf  die 
Bibel  hätte  leicht  von  neuem  eine  Einschränkung  der  anderen 
Wissenschaften  auf  bloße  Hilfswissenschaften  herbeiführen  können. 
Daß  die  Exegese,  die  Philologie,  die  jetzt  vor  der  Philosophie,  der 
Spekulation,  einen  Vorrang  gewann  und  die  mit  der  Einfügung  des 
Hebräischen  in  die  akademischen  Studien  eine  Aufnahme  der  Lite- 
raturen des  Orients  vorbereitete,  nicht  im  Banne  der  Theologie 
blieb,  sondern  ihren  Anschluß  an  die  Forschungsgebiete  suchte,  die 
von  den  Humanisten  gefunden  waren,  daran  hatte  der  neben  Luther 
angesehenste  Prof essor  Wittenbergs ,  Philipp  Melanchthon,  einen 
nicht  hoch  genug  zu  schätzenden  Anteil.  Als  Ausgangspunkt  der 
Bewegung  der  Reformation,  als  ihr  Hort,  der  bis  zu  Luthers  Tode 
und  darüber  hinaus  der  kleinen  nordischen  Universitätsstadt  für 
das  Reformationsgebiet  die  Stellung  gab,  die  sich  derjenigen  der 
Hauptstadt  des  Katholizismus,  Roms,  vergleichen  läßt,  war  Witten- 
berg auch  für  das  Buchwesen  der  Reformation  maßgebend  geblieben, 

248 


16.  JAHKHUNDERT 

mit  dem  Ende  der  Ernestinischen  Macht  [1547]  minderte  sich  darin 
ihr  Ansehen,  obschon  der  Albertiner  Moritz  Leipzigs,  seiner  alten 
alten  Universität  Nebenbuhlerin,  die  Unterstützung  nicht  versagte. 
Eine  große,  vielbesuchte  Bildungsstätte  ist  bis  zu  den  dreißigjährigen 
Kriegswirren  Wittenberg  geblieben.  Aber  allgemach  verlor  es  die 
ausschlaggebende  Bedeutung,  die  ihm  in  Luthers  Tagen  zugekommen 
war.  Mehr  und  mehr  wurden  die  reformatorischen  Streitigkeiten 
zu  theologischen  Angelegenheiten,  verblaßten  die  reUgiösen  Fragen, 
zu  deren  Herolden  sich  die  Reformatoren  gemacht  hatten,  hinter 
den  politischen  und  sozialen,  zu  deren  Lösung  die  Reformation 
führen  sollte. 

Wenn  die  mit  der  Universität  1502  gegründete  Universitäts- 
bibliothek in  Wittenberg*  nicht  die  Bücher  der  Reformations- 
literatur in  sich  vereinigte  und  späteren  Jahrhunderten  verwahrte, 
so  lag  das  vor  allem  an  den  besonderen  politischen  Verhältnissen, 
aber  doch  auch  daran,  daß  damals  die  Aufgaben  und  die  Bestim- 
mung einer  solchen  wissenschaftlichen  Büchersammlung  keines- 
wegs klar  umgrenzt  waren.  An  Eifer  ließen  es  weder  Friedrich  der 
Weise  noch  der  Wittenberger  Bibliothekar  Georg  Spalatin 
[Burckhard  1484 — 1545]  fehlen,  eine  Akademiebibliothek  hohen 
Ranges  zu  schaffen.  Mit  Aldus  Manutius  traten  sie  für  den  Bücher- 
kauf in  unmittelbare  Verbindung,  der  Büchersaal  im  Schlosse  er- 
freute sich,  auch  das  war  damals  nicht  die  Regel,  einer  wohlan- 
ständigen Ordnung.  Aber  die  3000  Bände  dieser  „alten"  Universitäts- 
bibliothek Wittenberg  wurden  als  Besitz  der  Ernestiner  1548  in  das 
Gymnasium  nach  Jena  überführt,  das  zehn  Jahre  später  zur  Uni- 
versität erhoben  wurde,  der  neuen  blieb  eine  rechte  Entwicklung 
versagt,  allein  der  Anfall  einer  kostbaren  Privatbibliothek,  der  des 
1812  gestorbenen  Geheimen  Kriegsrates  v.  Po  nick  au,  in  Dresden, 
12000  Bände  zur  sächsischen  Geschichte,  die  dieser  Sammler  ihr 
am  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  schenkte,  vermehrte  sie 
mit  wertvollem  Büchergut,  das  nun  in  der  1696  entstandenen  Uni- 
versitätsbibliothek Halle  verwahrt  wird.  Es  konnte  nicht  fehlen, 
daß  neben  diesem  wissenschaftlichen  Sammeleifer  auch  solche 
Äußerungen  der  Bibliophilie  zu  ihrem  Rechte  kamen,  die  dem  Buche 

*  Abb.  150  249 


DEUTSCHLAND 

der  Reformation  die  höchsten  Ehren  zuerkennen  wollten,  die  einer 
kostbaren  und  künstlerischen  Ausstattung  verdankt  werden.  Hatte 
schon  der  Bildschmuck  neuer  volkstümlicher  Art,  den  die  Drucker, 
unterstützt  von  ausgezeichneten  Holzschnittmeistern,  den  Bibel- 
werken und  Flugschriften  mitgaben,  die  Ausbildung  eines  eigenen 
Stils  für  das  Buch  der  Reformation  gefunden,  so  bereicherte  die 
schöne  Übung,  mit  Bücherwidmungen  für  die  neue  Lehre  zu  werben, 
auch  die  Bücherliebhaberei.  Standen  doch  die  Reformatoren  selbst 
durch  Schriftensendungen  untereinander  in  reger  Verbindung  und 
waren  sie  doch  für  ihre  fürstlichen  Gönner  die  Vertrauensleute  von 
deren  neuen  Büchersammlungen,  die  dafür  zu  sorgen  hatten,  daß 
diese  mit  den  echten  Ausgaben  versehen  wurden,  wie  sie  selbst  auf 
solche  Wert  legen  mußten.  Derart  verbanden  sich  hier  biblio- 
graphische und  theologische  Fürsorge  zu  einer  Art  des  Bücher- 
sammelns,  die  auch  weiterhin  die  maßgebende  für  die  Reformations- 
literatur sein  mußte. 

Denn  diejenige  Begleiterscheinung  der  Reformation,  die  buch- 
gewerblich und  auch  für  das  Büchersammelwesen  außerordentlich 
folgenreich  war,  ist  der  Nachdruck.  Nicht  allein,  daß  er  den  Ver- 
fassern und  Verlegern  die  rechtswirtschaftliche  Herrschaft  über  ihre 
Bücher  entzog,  ein  um  so  fühlbarer  werdender  Umstand,  je  mehr 
Schriftstellertum  und  Verlegertätigkeit  zu  besonderen  Erwerbs- 
zweigen wurden,  denen  erst  das  Urheberrecht  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts Rechtssicherheit  verleihen  sollte.  Auch  die  Überlieferung 
eines  Werkes  wurde  damit  unsicher  und  zweifelhaft,  die  Leser 
wußten  nicht  mehr,  ob  sie  noch  die  echten  Texte  vor  sich  hatten, 
die  für  die  Humanisten  ^die  besten  Rezensionen  gewesen  waren,  die 
jetzt  aber  schon  in  der  Anerkennung  des  getreuen  Wortlautes  einer 
Druckschrift  bestanden.  Kirchliche  und  wissenschaftliche  Zensur 
approbierten  nun  wohl  schon  die  gereinigten  Texte  der  guten  Aus- 
gabe. Indessen  blieb  das  Vertrauen  auf  sie  gering,  wenn  in  dem 
Briefwechsel  der  Reformatoren  die  Klagen  über  Nachdruckverfäl- 
schungen der  rechten  ^Überlieferung  eines  Werkes  immer  wieder- 
kehrten, Klagen,  die  die  echten  Ausgaben  sammeln  und  suchen  ließ. 
Derart  entwickelte   sich   an   den  Lutherautotypen  der  Begriff  der 

250 


16.  JAHRHUNDERT 

bibliographisch  aufgefaßten  Originalausgabe,  der  der  Druckwerk- 
vervielfältigung entsprach,  ein  neues  Sonderungsverfahren  der  guten 
und  schlechten  Bücher  nach  ihren  guten  und  schlechten  Ausgaben; 
der  guten  Ausgaben,  die  ein  Verfasser  selbst  geleitet  oder  doch  ge- 
nehmigt hatte  und  der  ohne  seine  eigene  Mitwirkung  entstandenen 
schlechteren. 

Als  das  Beispiel  der  ;Bibliophilie  des  Reformationszeitalters 
können  die  Fürstenausgaben  gelten,  so  die  auf  Bestellung  Königs 
Christian  III.  von  Dänemark  und  seines  Schwiegersohnes  Kurfürst 
August  von  Sachsen  [1526—1586]*  1559  ausgeführten  Bibel- 
pergamentdrucke. Die  mit  Geschmack  und  Liebe  gesammelte, 
großenteils  in  seinem  Schlosse  Annaberg  bei  Torgau  untergebrachte 
Prachtbibliothek  dieses  bücherliebenden  Fürsten  zeichnete  sich  vor 
allem  durch  ihren  Einbandprunk  aus,  dessentwegen  Kurfürt  August 
der  deutsche  Grolier  heißen  könnte.  Denn  für  ihn  war  als  sein  Hof- 
buchbinder von  1566  bis  1585  ^'der  Zwickauer  Jacob  Krauße* 
tätig,  der  Meister  des  deutschen  Renaissancebandes.  Zwar  haben 
viele  der  4000  Bände,  die  nach  des  Kurfürsten  Tode  nach  Dresden 
kamen,  wo  sie  zum  Grundstock  der  heutigen  Sächsischen  Landes- 
bibliothek wurden,  in  Samt,  Seide,  Atlas,  in  weißes,  grünes,  rotes 
Pergament  gebunden,  ihren  alten  Glanz  verloren.  Aber  noch  immer 
bezeugen  die  auch  farbig  verzierten,  im  reichsten  Goldschmuck 
strahlenden,  bald  mit  kursächsischem  Wappen  oder  dem  der  Kur- 
fürstin Anna,  bald  mit  dem  Bildnis  des  Sammlers,  bald  mit  dem 
Buchtitel  ausgeschmückten  Kalblederbände  den  künstlerischen 
Reichtum  ihres  Schöpfers  und  verweisen  auf  einen  Höhepunkt  deut- 
scher Einbandkunst  und  Einbandliebhaberei,  der  um  so  auffallender 
ist,  als  er  vereinzelt  weit  über  die  sich  ausbreitende  buchgewerbliche 
Verflachung  jener  Zeit  hinausragt. 

Die  Aufhebung  der  jKlöster,  die  die  Reformation  veranlaßte, 
verweltlichte  auch  deren  Büchersammlungen,  die,  den  Landesherren 
zufallend,  fürstlich  wurden,  und  solcherart  zumeist  in  die  gegen- 
wärtigen Landes-  und  Universitätsbibliotheken  gelangt  sind,  ein 
Vorgang,  den  die  Säkularisationen  1803  wiederholten,  diesmal  er- 
folgreicher, weil  einerseits  die  bessere  bibliothekstechnische  Organi- 

*Abb.  isx,  152—154  251 


DEUTSCHLAND 

sation  die  Zentralisation  erleichterte,  andererseits  die  an  alten  Be 
ständen  reicheren  süddeutschen  geistlichen  Teritorien  betroffen 
wurden.  Ähnlich,  allerdings  in  Unordnung  und  unter  Verlusten,  er- 
gab sich  als  eine  Folge  der  großen  Revolution  in  Frankreich  die 
Beschlagnahme  auch  des  Büchergutes  der  Kirche  für  den  Staat, 
während  im  neunzehnten  Jahrhundert  Spanien  und  zuletzt  das 
Königreich  Italien  die  geistlichen  Bibliotheken  für  ihre  öffent- 
lichen Sammlungen  gewannen.  Auf  die  Einzelheiten  einzugehen, 
erübrigt  sich  hier,  obschon  durch  freihändige  Verkäufe  geldbedürf- 
tiger geistlicher  Anstalten  heimlich  manch  kostbares  Stück  den 
büchersuchenden  Liebhabern  verkauft  worden  ist  —  die  bibUo- 
graphischen  englischen  Expeditionen  auf  dem  Kontinent  seit  dem 
sechzehnten  Jahrhundert  machten  sogar  eine  Methode  aus  diesem 
Buchgeschäfte  —  und  der  |Altbüch,ermarkt  bei  den  Dubletten- 
auktionen der  öffentlichen  Bibliotheken  noch  späterhin  Nutzen  aus 
diesen  ehemals  geisthchen  Schätzen  zag.  Damit  sind  die  in  modernen 
Privatbibliotheken  häufigen  kirchlichen  Provenienzen  erklärt.  Im 
übrigen  ist  durch  Umstände  besonderer  Art  da  und  dort  eine  ,alte 
Klosterbibliothek^  diese  recht  weitgehende  Bezeichnung  ist  nicht 
gerade  immer  so  romantisch  wie  sie  scheint^  den  Bücher  Sammlern 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  vorbehalten  worden.  Derartige  Ge- 
legenheiten sind  auch  in  früheren  Jahrhunderten  zahlreich  gewesen, 
aber  ihre  Ausnutzung  begegnete  noch  nicht  dem  bibliophilen  Inter- 
esse an  der  Provenienz,  das  für  die  Handschriftenherkunftnach- 
weisung  ein  allgemeinwichtiges  wissenschaftliches  ist.* 

Die  deutschen  Schul-  und  Stadtbibliotheken  entstanden  eben- 
falls meist  aus  den  aufgehobenen  Klosterbibliotheken.  Die  alten 
Dom-  und  Klosterschulen  hatten  keine  eigenen  Sammlungen  gehabt 
uod  die  seit  dem  fünfzehnten  Jahrhundert  da  und  dort  entstandenen 
RatsbibUotheken  waren  kaum  mehr  als  juristische  Handbibliotheken 
für  den  Gebrauch  der  Ratsherren  gewesen.  In  den  Jahrzehnten  der 
Reformation  kam  es  dann  mit  dem  Freiwerden  alter  Büchervorräte 
auch  zu  größeren  neuen  selbständigen  Vereinigungen  von  solchen, 
aus  denen,  je  nach  Lage  der  örtlichen  Umstände,  Kirchen-, 
Schul-  und  Stadtbibliotheken  hervorwuchsen.    Das  Bildungsmittel 

252  *Abb.  163,  165,  i66 


16.  JAHRHUNDERT 

der  Büchersammlungen  wollte  Luther,  denn  die  Jugend  sollte  dem 
Reformationsgedanken  gewonnen  werden,  den  Schulen  aneignen, 
sein  Sendschreiben  an  die  Bürgermeister  und  Rathserren  empfahl: 
„Auch  ist  dies  wohl  zu  bedenken  allen  denjenigen,  so  Liebe  und 
Lust  haben,  daß  solche  Schulen  und  Sprachen  in  deutschen  Landen 
aufgerichtet  und  erhalten  werden,  daß  man  Fleiß  und  Kosten  nicht 
spare,  gute  Bücherhäuser,  sonderlich  in  den  großen  Städten,  die 
solches  wohl  vermögen,  zu  beschaffen.  Denn  wenn  das  Evangelium 
und  allerlei  Kunst  bleiben  soll,  muß  es  in  Bücher  und  Schrift  gefaßt 
und  wohl  bewahrt  sein.  .  .  .  Aber  mein  Rat  ist  nicht,  daß  man  ohne 
Unterschied  allerlei  Bücher  zusammenraffe  und  nur  an  die  Menge 
denke.  Ich  wollte  die  Wahl  darunter  haben  und  mit  rechtschaffenen 
Büchern  meine  Librarei  versorgen  und  gelehrte  Leute  darüber 
zu  Rate  ziehen.  Erstlich  sollte  die  Heilige  Schrift  auf  lateinisch, 
griechisch,  hebräisch,  deutsch  und  ob  sie  noch  in  mehr  Sprachen 
vorhanden  wäre,  darinnen  sein.  Danach  die  besten  Ausleger  und 
solche  Bücher,  die  dazu  dienen,  die  Sprachen  zu  erlernen,  als  die 
Dichter  und  Redner,  ferner  die  Bücher  von  den  freien  Künsten,  zu- 
letzt auch  der  Rechte  und  der  Arznei  Bücher.  Zu  den  vornehmsten 
aber  sollten  die  Chroniken  und  Geschichtsbücher  gehören.  Denn 
dieselben  sind  wunder  nütze,  der  Welt  Lauf  zu  erkennen  und  zu 
regieren,  ja  auch  Gottes  Wunder  und  Werke  zu  sehen."* 

Daß  die  scharfe  Scheidung  des  deutschen  Nordens  und  Südens, 
deren  Ursache  die  Reformation  war,  am  Ende  eine  Absonderung  der 
süddeutschen  Schrifttumsbewegung  von  der  norddeutschen  herbei- 
iührle,  daß  die  weniger  starken  Hemmungen  unterliegende  nord- 
deutsche Kulturentwicklung  zur  deutschen  Kulturentwioklung  über- 
haupt wurde,  während  die  geistige  Kultur  des  „Reiches"  mehr  und 
mehr  zurückblieb,  zeigt  sich  auch  in  der  Entwicklung  der  Bücherlieb- 
haberei seit  dem  Ende  des  siebzehnten  Jahrhunderts.  Von  den  in 
Verzeichnissen  gedruckten  oder  in  anderen  Werken  beschriebenen 
vorzüglichsten  Privatbibliotheken,  die  Klemms  Geschichte  der 
Sammlungen  mit  ihrer  Jahreszahl  angibt,  kommen  auf  die  Zeit  vom 
Ausgange  des  siebzehnten  Jahrhunderts  bis  zum  Jahre  1739  73  Biblio- 
theken und  davon  entfallen  zehn  [13  ®/o]  auf  den  Süden  und  .Westen. 

♦Abb.  i6i.  162,164  253 


DEUTSCHLAND 

Das  lutherische  Mittel-  und  Norddeutschland  und  die  freie  Stadt 
Frankfurt  a.  M.  sind  die  Vormacht  des  bibliophilen  Deutschland 
im  achtzehnten  Jahrhundert  geworden. 

In  dem  Dreißigjährigen  Kriege,  der  die  deutschen  Sitten  ver- 
wildert, die  deutsche  Wirtschaft  zerstört  hatte,  ist  auch  das  Be- 
wußtsein einer  deutschen  Bildung  und  das  Selbstbewußtsein  auf  sie, 
die  nationale  Einheit,  die  aus  der  Sprache  hervorgeht,  vermindert 
worden.  Eine  unmittelbare  Folge  der  Kriegswirren  ist  jene  Ver- 
fallszeit der  deutschen  Dichtung-  und  des  deutschen  Schrifttums 
jedoch  nicht  gewesen,  schon  im  ersten  Viertel  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts waren  sie,  ein  Vorzeichen  politischer  Wirkungen,  zu  ihrem 
Tiefstand  gekommen,  aus  dem  sie  zu  erhöhen  Opitz  und  die  Sprach- 
gesellschaften genannten  literarischen  Vereine  vergeblich,  weil  mit 
falschen  Mitteln  versuchten.  Büchersammlungen,  die  in  diesen  bis 
in  das  achtzehnte  Jahrhundert  sich  hinziehenden  geistigen  Einöden 
schon  einen  eigenen  nationalen  Charakter  gewonnen  hätten  wie  in 
England,  in  den  Niederlanden,  in  den  romanischen  Staaten,  konnten 
nicht  entstehen.  Die  Gelehrten  wohnten  noch  in  der  internationalen 
lateinischen  Republik  und  diejenigen  Buchfr.eunde,  die  geschmack- 
voll sich  auf  die  Schätzung  geistiger  Schöpfungen  verstanden,  blick- 
ten mehr,  obschon  vielleicht  neidvoll,  auf  das  Ausland.  Denn  un- 
bekannt war  ihnen  auch  die  deutsche  Vergangenheit.  Ein  Mann  wie 
Michael  Moscherosch  [1601—1669],  der  die  Fremdtümelei,  den 
Mangel  einer  nationalen  Gesinnung  ^n  Leben  "und  Literatur  rügte, 
mußte  in  fremden  Schriften  das  Vorbild  der  eigenen  suchen  und  in 
seiner  Bücherei  eben  jene  Schriften  vereinen,  rfuf  die  er  sich  stützen 
wollte.  Die  Büchersammlung,  die  er  hinterlie^ßf  war  von  ihm  schon 
in  seiner  Schulzeit  angefangen  worden,  er  hatte  sie  sich,  auch  ferner- 
hin eifrig  für  ihre  Vermehrung  sorgend,  dank  seiner  leidlichen  Wohl- 
habenheit trotz  der  bösen  Zeitläufte  erhalten  können,  so  daß  sie 
das  Beispiel  einer  ansehnlichen  und  auserlesenen  deutschen  Biblio- 
philenbibliothek  aus  der  ersten  Hälfte  des  siebzehnten  Jahrhunderts 
gibt.  Nicht  das  Arbeitsmittel  eines  Gelehrten,  sondern  eines  Schrift- 
stellers, standen  in  ihr  ebenso  die  Bände,  die  von  den  Bemühungen 
der  Mitstrebenden  zeugten,  deutsche  Sprache  und  deutsches  Schrift- 

254 


17.  JAHRHUNDERT 

tum  wiederzugewinnen  wie  diejenigen,  in  denen  sich  die  ausländi- 
schen Muster  boten,  die  für  die  wichtigsten  gehalten  wurden.  Ein 
anderer  Bücherfreund,  Landgraf  Ludwig  II.  von  Darmstadt,  auch 
er  Mitglied  der  fruchtbringenden  Gesellschaft  gleich  Moscherosch,  er- 
warb für  600  fl.,  die  er  dazu  leihen  mußte,  die  Büchersammlung,  um 
sie  mit  der  eigenen  zu  verbinden ;  sie  kam  in  neun  Fässern  verpackt, 
noch  in  Moscherosch  Todesjahr  aus  Frankfurt  nach  Darmstadt,  um 
hier,  in  der  Hofbibliothek,  eine  dauernde  Unterkunft  zu  finden. 

Frankfurt,  die  freie  Reichsstadt  am  Main,  ist  durch  seine  Messen 
früh  schon  ein  Vorort  des  deutschen  Buches  oder  doch  des  deutschen 
Buchhandels  gewesen.  Der  Büchermarkt  der  alten  Handelsstadt  reicht 
bis  in  die  Anfänge  der  Buchdruckerfindung  zurück,  in  der  seine  weit- 
blickenden und  weitherrschenden  Kaufleute  die  neue  Buchware,  die 
in  den  Mainzer  Werkstätten  erzeugt  wurde,  durch  ihre  Geldgeschäfte 
zu  monopolisieren  strebten.  Und  das  Emporium  Francfortiense, 
das  Henri  Etienne  rühmte,  ist  auch  nach  der  Ausbreitung  der  Buch- 
druckerkunst der  grofie  internationale  Buchumlageplatz  geblieben. 
Die  Buchgestaltung  war  durch  das  Druckwerk  internationalisiert, 
Buchhandel  und  Buchherstellung  jedoch  keineswegs  im  gleichen 
Umfange.  Das  Absatzgebiet  des  Mittelalters  war  das  kirchlich- 
lateinische Europa  gewesen,  die  lokalen  Beziehungen  bei  der  Buch- 
herstellung hatten  eine  engere  Verbindung  mit  den  Autoren  eines 
Gebietes  und  seiner  Geistesgeschichte  aufrechterhalten.  Darin  war 
eine  Änderung  eingetreten,  seitdem  das  Buch  dem  Warenhandel  ein- 
bezogen wurde,  der  sich  vom  Buchgewerbe  löste,  die  Buchhändler 
mit  ihren  Lagern  seßhaft  werden  ließ,  die  Großbetriebe  in  selb- 
ständige Verlage  wandelte,  deren  Erzeugnisse,  nicht  aber  die  Geistes- 
werke selbst,  Privilegien  schützten,  soweit  sie  reichten.  Das  Buch 
verbilUgte  sich  und  verschlechterte  sich  zugleich  in  wirtschaftlicher 
Zwangslage,  die  zu  erleichtern  der  Buchhandel  festere  Verkehrs- 
formen suchte.  Im  Buchhandel  und  in  der  Bucherzeugung  Deutsch- 
lands hatte  Frankfurt  um  die  Mitte  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
die  Führung  übernommen.  1564  erschien  hier  der  erste  Meßkatalog. 
[Der  letzte  zur  Ostermesse  1750.]  1635  war  der  Buchhandel  in 
Deutschland  auf  seinem  Tiefstand   angelangt,   etwa  ein  Halbjahr- 

255 


DEUTSCHLAND 

hundert  später  hatte  das  deutsche  Buch  sich  gegen  das  lateinische 
durchgesetzt,  in  einer  Epoche,  in  der  die  polyhistorischen  Privat- 
bibliotheken mit  ihren  Folianten-  und  Quertantenmassen  das  ge- 
lehrte Schrifttum  durch  seine  Unbeweglichkeit  fast  zum  Stillstand 
verdammten.  Weitausschauende  Geister,  wie  Leibniz,  bestrebten 
sich  nun,  das  Buchwesen  für  die  Entwicklung  der  Wissenschaft  zu 
reformieren,  indessen  der  Buchhandel  seinen  Mittelpunkt  von 
Südwesten  nach  Nordosten  verschob.  Gleichzeitig  mit  dem  Vor- 
dringen des  Buches  in  deutscher  Sprache,  um  1680,  wird  Leipzig  die 
leitende  deutsche  Buchhandelsstadt,  um  die  Mitte  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  ist  schon  die  Schöngeisterei  und  die  Vielschreiberei  an 
die  Stelle  der  Vieleswisserei  getreten,  sind  Lesegesellschaften,  die 
rasch  zu  Leihbibliotheken  werden,  sind  Flugschriften  und  Zeit- 
schriften zu  neuen  Buchgewalten  „die  Lesesucht  zum  beynahe  un- 
entbehrlichen und  allgemeinen  Bedürniß^*  [Kant,  Über  die  Buch- 
macherey.  1798]  geworden.  An  der  Schwelle  dieses  anbrechenden 
papierenen  Zeitalters,  das  bis  dahin  ängstlich  gehütete  Buchwerte 
aufgibt,  die  eben  entstehenden  aber  ihrer  Massenhaftigkeit  und  ihrer, 
im  Sinne  einer  ernsten  Buchgewichtigkeit,  Minderwertigkeit  wegen 
auch  nicht  überschätzt,  steht  der  berühmte  Frankfurter  Sammler 
Uffenbach. 

Zacharias  Conrad  von  Uffenbach  [1683 — 1734],*  einer 
angesehenen  und  wohlhabenden  Frankfurter  Patrizierfamilie  ent- 
stammend, hatte  in  Straßburg  und  Halle,  wo  er  1702  unter  Christian 
Thomasius  Doktor  der  Rechte  geworden  war,  studiert.  Aber  trotz 
aller  Hinneigung  zur  Polymathie  im  Zeitgeschmack,  zur  Aufspeiche- 
rung des  Wissens  und  dessen  Verwechselung  mit  den  Wissenschaften, 
blieb  er,  als  „Büchergeck*\  um  in  seiner  Sprache  zu  reden,  und  als 
Gelehrter,  ein  klarer  Kopf  und  lebenssicherer  Weltmann,  der  wesent- 
liches zu  erkennen  wußte.  Seine  bibliographische  und  bibliotheka- 
rische Praxis  hat  den  Aufbau  seiner  Büchersammlung  außerordent- 
lich gefördert,  sie  blieb  nicht  in  den  Kuriositäten-  und  Raritäten- 
spielereien stecken,  mit  denen  sich  nicht  wenige  deutsche  Biblio- 
gnosten  seiner  Tage  vergnügten.  Seine  Bücherei  wurde  eine  Privat- 
bibliothek, die  nicht  nur  qualitativ  und  quantitativ  eine  beispiel- 

256  *Abb.i72,i73 


18.  JAHRHUNDERT 

gebende  deutsche  Liebhaberbücherei  im  ersten  Drittel  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  war.  Sie  wurde  auch  eine  benutzungsfähige  Bücherei, 
die  den  Gedanken  einer  Buchpflege  durch  Büchersammeln  nicht  bloß 
im  Zusammentragen  von  allerlei  Bänden  durchzuführen  sich  mühte, 
sondern  auch  in  deren  Verbindung  zur  Einheit  einer  geordneten, 
gut  verwalteten  Privatbibliothek.  Die  Aufschließung  seines  Bücher- 
schatzes durch  dessen  Einrichtungen  zu  erleichtern,  war  ein  Zacharias 
Conrad  von  Uffenbach  ständig  beschäftigendes  bibliotechnisches 
Problem  gewesen,  das  er  klarer  aufzufassen  verstand  als  damals  das 
selbst  in  den  meisten  großen  öffentlichen  Bibliotheken  versucht 
wurde.  Bereits  dem  jungen  Studenten  hatte  seine  Bücherliebhaberei 
zu  einem  rasch  anwachsenden  Bücherschatz  verhelfen.  Ihn  zu 
mehren,  unternahm  er  nach  langen  Vorbereitungen,  die  er  bereits 
in  Halle  mit  der  Aufstellung  eines  Desideratakataloges  in  der  Form 
eines  umfassenden  Reisehandbuches  begonnen  hatte,  1709—1711 
seine  große  deutsch-holländisch-englische  Bücherreise,  die  auch  auf 
Frankreich  und  Italien  auszudehnen  ihn  die  Kriegswirrnisse  hin- 
derten. Immerhin  vermehrte  sie  mit  4000  Bänden  seine  Bücher- 
sammlung ;  eine  Zahl,  die  auch  deshalb  hoch  ist,  weil  Herr  von  Uffen- 
bach sich  nicht  mit  den  ersten  besten  Ausgaben  und  Werken  zu- 
frieden gab,  weil  er  mit  bibliographischer  Kritik  sammelte  und 
sichtete,  weil  er  durch  Abschriften,  die  er  selbst  besorgte  oder  sich 
besorgen  ließ,  auch  noch  Unbekanntes,  Unveröffentlichtes  heimzu- 
bringen verstand,  weil  er  wissenschaftlich  vorging.  Außer  seiner 
großen  Bücherreise,  auf  der  ihm  sein  Bruder  Johann  Friedrich 
[1687 — 1769]  ein  angenehmer  Gefährte  war,  hat  Herr  von  Uffen- 
bach noch  eine  Anzahl  kürzerer  „Lust-  und  Spazierreisen**  aus- 
geführt, die  ihn  in  die  Niederlande  [1705;  1718]  und  in  eine  Reihe 
deutscher  Städte,  in  manche  zu  wiederholten  Malen,  geführt  haben. 
Auf  allen  diesen  Reisen  hat  er  die  Gelegenheiten,  Bücher  und  Bücher- 
sammlungen kennen  zu  lernen,  unermüdlich  Tagebücher  führend, 
wahrgenommen.  Dabei  ergänzten  dann  wohl  der  Bibliograph  und 
der  Bibliophile  einander,  dieser  Bücher,  jener  Büchernachrichten 
sammelnd.  Nachdem  Zacharias  Conrad  von  Uffenbach  auf  seinen  ur- 
sprünglichen Plan,  sich  dauernd  für  einen  gelehrten  Lebensberuf  in 

BOOENO    17  257 


DEUTSCHLAND 

Oxford  niederzulassen,  verzichtet  hatte,  um  nach  seiner  Verheiratung 
den  tätigsten  Anteil  an  der  Verwaltung  seiner  Vaterstadt  zu  nehmen, 
als  deren  Schöffe  er  gestorben  ist,  blieb  ihm  seine  Büchersammlung 
das  eigentliche  Ergebnis  seines  Forschens.  Daß  er,  mit  Rücksicht  auf 
seine  Kinder,  die  Bücherei-Veräußerung  noch  vor  seinem  Tode  in  die 
Wege  leitete,  zeigt  seine  Einsicht  in  das  deutsche  Buchwesen  seiner 
Zeit.  Der  Ausverkauf  zu  festen  Preisen,  nach  einem  von  ihm  be- 
arbeiteten Kataloge,  verhütete  wenigstens,  daß  nachlässige  Ver- 
steigerungen den  Bücherschatz  weit  unter  seinem  Werte  zerstreuten, 
ließen  ihm  die  Möglichkeit,  die  besten  Stücke  in  gute  Hände  kommen 
zu  lassen.  So  war  auch  die  Auflösung  dieser  12000  Bände  bergenden 
Bücherei  noch  eine  Handlung,  die  die  Bücherliebe  Zacharias  Conrad 
von  Uffenbach  lobte.  Als  ein  archivalisches  und  literarhistorisches 
Studium  hatte  er  die  Handschriftenkunde  betrieben,  sich  ein  eigenes 
Abbreviaturenlexikon  anlegend.  An  Gelegenheiten  fehlte  es  nicht, 
konnte  er  doch  einmal  eine  ganze  Kahnladung  von  Manuskripten, 
die  als  Pergament  von  rheinischen  Klöstern  verkauft  wurde,  großen- 
teils retten.  Doch  auch  hier  vertraute  er  seinem  Sichten  und  Suchen, 
nicht  dem  Zufall.  Seine  große  Briefsammlung,  die  in  198  FoUanten 
und  Quartanten.  35000  Briefe  von  6700  Brief  Schreibern  meist  des 
sechzehnten  und  siebzehnten  Jahrhunderts  in  Abschriften,  Ent- 
würfen, Urschriften  vereinigt  hatte,  verkaufte  er  1730  dem  Ham- 
burger Professor  und  Hauptpastor  an  St.  Katharinen,  Johann 
Christian  Wolf,  der  seine  und  seines  Bruders  Büchersammlung, 
mehr  als  ein  Viertelhunderttausend  Bände,  der  Hamburger  Stadt- 
bibliothek überließ.  Das  waren  die  Ausmessungen,  die  die  bedeuten- 
den deutschen  Privatbibliotheken  um  1700  hatten.  Denn  die  Uffen- 
bach und  Wolf  sind  durchaus  nicht  die  einzigen  Sammler  gewesen, 
die  zu  einem  solchen  Büchervorrat  gelangt  waren,  der  einen  Ver- 
gleich nach  seiner  Zahl  mit  den  meisten  Bibliotheken,  die  in  gegen- 
wärtiger Geltung  zu  den  öffentlichen  gehören  würden,  zuließ.  Da 
konnte  es  nicht  fehlen,  daß  von  vornherein  die  Absicht  der  Begrün- 
dung einer  Privatbibliothek  sich  auf  die  Bibliotheksstiftung  richtete, 
wenn  hierfür  günstige  Umstände  sie  veranlaßten,  wie  das  im  acht- 
zehnten Jahrhundert  in  Dresden  der  Fall  gewesen  ist. 

258 


;18.  JAHRHUNDERT 

Am  Anfange  dieses  Jahrhunderts  waren  Bücherkunde  und 
Bücherliebhaberei  in  der  Hauptstadt  Kursachsens  sehr  verbreitet. 
Das  Beispiel  Augusts  IL,  der  die  Bibliothek  in  Dresden  zu  einer  er- 
neuerten Blüte  brachte,  die  erwachende  Sammelfreude  ließen  über- 
all Büchersammlungen  entstehen,  die  Bürger  und  Gelehrten,  die  Hof- 
leute  und  Staatsbeamten  ahmten  das  Muster  der  großen  Privat- 
bibliotheken nach,  die  sie  entstehen  sahen.  Seit  1750,  seit  dem 
Siebenjährigen  Kriege,  verschwanden  viele  dieser  Büchereien  wieder, 
aber  die  drei  hervorragendsten  Sammlungen,  die  der  Grafen  Bünau, 
Brühl  und  Kaiserling,  kamen  in  der  Königlichen  Bibliothek  zu- 
sammen. 

Graf  Heinrich  von  Bünau  [1697—1762],*  der  Geschichts- 
schreiber der  „Teutsch^n  Kayser-  und  Reichshistorie**,  der  recht- 
liche Staatsmann,  hatte  hauptsächlich  in  seinem  Fache,  eine  Bücherei 
gesammelt,  deren  äußeren  Wert  ihr  Kaufpreis,  40000  Taler,  kenn- 
zeichnete, für  den  sie  nach  seinem  Tode  der  Königlichen  Bibliothek 
in  Dresden  zugeführt  werden  konnte.  Der  Brühischen '  Bücherei 
ließen  sich  ihre  CimelienkoUektionen  nicht  vergleichen,  die  Eleganz 
der  Hoymschen  Liebhaberbücherei  in  Paris  erreichte  sie  nicht. 
[Da  Graf  Hoym  nach  seiner  Herkunft  den  Buchfreunden  Deutsch- 
lands, nach  seiner  Stellung  dem  polnisch-sächsischen  Hofe  zugehörte, 
da  er  auch  gewünscht  hatte,  seine  Privatbibliothek  nach  Deutsch- 
land zu  überführen,  darf  sein  ^^amen  in  dem  Bibliophilendreigestirn 
ebenfalls  erglänzen,  das  mit  nicht  allzulangem  Glänze  im  Bücher-' 
lande  Sachsen  leuchtete.]  Was  die  Bünausammlung  auszeichnete, 
war  ihre  innere  Geschlossenheit,  ihre  wissenschaftliche  Bedeutung, 
deren  heute  noch  bewundertes  Buchdenkmal  ihr  Katalog  wurde. 
Das  Arbeitsmittel,  das  er  für  seine  Reichsgeschichte  brauchte  und  die 
Idee  einer  Universalbibliothek,  die  er  sich  vorstellte,  machten  den 
Grafen  Bünau  seit  etwa  1725  zu  einem  planmäßigen  Sammler.  Er 
entwarf  ein  bibliographisches  System,  dessen  Ausführung  er  seinem, 
1740  von  ihm  angestellten,  1775  gestorbenen  Bibliothekar  J.  M. 
Franke  übertrug,  der  sie  in  dem  besten  Kataloge  einer  deutschen 
Privatbibliothek  des  achtzehnten  Jahrhunderts  verwirklichte.  Das 
Bedürfnis  des  Grafen  Bünau  war  es  gewesen,  von  dem  Fächer-  und 

!?•  ♦Abb.  193— 195  259 


DEUTSCHLAND 

Formatzwange  freizukommen,  ein  Generalregister  über  seine  Bücher 
in  seinem  Kataloge  zu  haben.  Alle  einzelnen  Werke  sollten  auf- 
geführt werden  und  nicht  nur  diese,  sondern  auch  die  in  Sammel- 
und  Zeitschriften  zerstreuten  Aufsätze.  Mit  großer  Gründlichkeit 
und  Überlegung  war  ein  solches  Verzeichnis  von  dem  Grafen  vor- 
bereitet worden.  „Das  System,  welches  Bünau  Franke  übergab, 
übertraf  alles,  was  man  damals  aufweisen  konnte,  obwohl  es  an 
einer  zu  großen  Förmlichkeit  in  den  Unterabteilungen  leidet.  Die 
Art  aber,  in  welcher  Franke,  der  ohne  alle  Vorbereitung  in  diese 
Tätigkeit  hineingekommen  war,  dasjenige  arbeitete,  was  seiner 
eigenen  Tätigkeit  und  Einsicht  überlassen  blieb,  sichert  ihm  auf 
immer  den  Namen  des  ersten  Bibliothekars,  den  Deutschland  auf- 
zuweisen hatte.''  [F.  A.  Ebert.]  Die  Bibliothekstechnik  hat  seitdem 
durch  ihre  Entwicklung  auch  das  Bünau- Franke- System  überholt 
und  verbessert,  es  hat  heute  schon  deshalb  nur  einen  geschichtlichen 
Wert,  weil  auch  die  Auffassung  und  Einteilung  der  Wissenschaften 
sich  geändert  hat  und  weiterhin  ändern  wird.  Trotzdem  aber  ist 
das  Bemühen  des  Grafen  Bünau,  sich  allseitig  die  Büchersammlung 
zu  erschließen,  und  damit  eine  Vermehrung  ihrer  Verwendungs- 
fähigkeit zu  erzielen,  vorbildlich  s^uch  für  die  Büchersammler  und 
Büchersammlungen  der  Gegenwart.  Es  bezeichnet  mit  seinem  Grund- 
gedanken klar  die  höchste  Leistungsfähigkeit  einer  Privatbibliothek 
und  das  Verfahren,  diese  Leistungsfähigkeit  zu  gewinnen,  die  eigent- 
liche und  erste  Zweckbestimmung  einer  Bücherei,  ihrem  Sammler 
zu  dienen,  wie  er  es  braucht  und  wünscht.  Zwischen  der  Aufhäufung 
der  Büchermassen  in  den  Fächern  der  Gelehrtenbibliotheken,  und 
der  Aussonderung  der  Schaustücke  in  den  Liebhaberbüchereien,  die 
lose  ein  allgemeines  System  zusammenhält,  findet  es  für  die  Aus- 
wahl, die  durch  die  Büchermenge  notwendig  geworden  ist  und  durch 
die  Vervielfältigung  der  Formen  literarischer  Veröffentlichungen, 
einen  Weg,  wenigstens  der  Privatbibliothek  ihren  inneren  Zusam- 
menhang zu  wahren,  der  sie  als  ein  wissenschaftliches  Ganzes,  als 
eine  auf  ihrem  innerem  Gleichgewicht  beruhende  Sammlung  be- 
stehen läßt.  Während  seiner  Tätigkeit  an  der  Bibliotheca  Buna- 
viana  hat  auch  J.  Winckelmann  zu  den  Katalogmitarbeitern  gehört. 

260 


18.  JAHRHUNDERT 

Dafi  der  Katalog  mit  seinen  sechs^  1750  bis  1756  erschienenen,  Teilen 
nicht  vollendet  worden  ist,  daß  seine  Fortsetzung  durch  den  Sieben- 
jährigen Krieg  für  immer  unterbrochen  wurde  und  durch  die  Auf- 
lösung der  Bünausammlung  in  der  Königlichen  Bibliothek  zu  Dresden, 
mindert  nicht  seinen  Ruhm,  eines  der  ausgezeichnetsten  Denkmale 
der  Bücherliebhaberei  Deutschlands  zu  sein.  Graf  Bünau  hat  groß- 
zügig, ohne  Liebhaberwerten  nachzujagen,  aber  auch  ohne  mit  den 
reichen  ihm  zur  Verfügung  stehenden  Mitteln  zu  sparen  die  Aus« 
gestaltung  seiner  Bücherei  vorgenommen,  für  die  er  von  größeren 
Sammlungen  die  Cypriansche  aller  1717  erschienenen  Refor- 
mationsjubelschriften und  1744  die  Engeische  mit  ihren  Raritäten 
erwarb,  die  ihm  4000  Taler  kostete.  Vergeblich  waren  seine  Ver- 
suche gewesen,  die  Leichenpredigtenreihe,  die  die  der  fürstlichen 
Bibliothek  in  Stolberg-Stolberg  gehört,  anzukaufen,  trotzdem  sein 
Gebot  hier  bis  auf  8000  Taler  stieg,  eine  damals  und  in  Deutschland 
ganz  ungewöhnlich  hohe  Summe.  Die  Bibliotheca  Bunaviana,  die 
bis  1740  in  sechs  Zimmern  des  Dresdener  Palastes  aufgestellt  ge^ 
Wesen  war,  wurde  bei  Bünaus  Eintritt  in  die  Dienste  Karls  VII. 
nach  seinem  eine  Stunde  von  der  Hauptstadt  entfernt  gelegenen 
Schlosse  Nöthnitz  überführt  und  hier  in  zwei  großen  übereinander 
gelegenen  Räumen  untergebracht.  Der  Eingang  zur  Treppe  nach 
dem  oberen  Saal  war  durch  eine  Verkleidung  versteckt,  die  aus 
hölzernen,  mit  Leder  überzogenen  Bücherrücken  bestand,  mit 
Titeln  verlorener  Werke  nach  Fabricius.  In  diese  der  Arbeit  ge- 
weihten Bibliothek  waren  aus  Dresden  die  Gelehrten  gern  gekommen 
und  gern  willkommen  geheißen  worden,  bis  die  Bücher  endgültig 
nach  Dresden  zurückgeführt  wurden. 

„Brühl,  der,  wie  Winckelmann  sagt,  in  allen  Stücken  brillieren 
wollte,  beneidete  Bünaus  literarische  Berühmtheit;  unfähig,  in  dieser 
Richtung  mit  ihm  in  die  Schranken  zu  treten,  suchte  er  sich  ihm 
wenigstens  als  Büchersammler  gleichzustellen  und  ließ  ebenfalls 
einen  Katalog  seiner  Bibliothek  drucken."  [C.  Justi.]  Die  Biblio- 
thek Heinrichs,  Reichsgrafen  von  Brühl  [1700—1763],* 
ist  eine  Repräsentationsbibliothek  gewesen,  letzten  Endes  ebenfalls 
ein    Erzeugnis    der   Hab-    und  Verschwendungssucht   des  Ministers 

*Abb.i9i,  192  261 


DEUTSCHLAND 

Augusts  III.,  Königs  von  Polen  und  Kurfürsten  von  Sachsen. 
Der  Anteil,  den  Brühl  selbst  an  ihrem  Auf-  und  Ausbau  ge- 
nommen hat,  war  wenig  persönlich,  die  Bestimmung,  die  er  ihr 
im  Dienste  der  Öffentlichkeit  zu  geben  wünschte,  keine  Äußerung 
seiner  Bücherliebe,  sondern  seiner  Prachtliebe  und  seines  Stolzes. 
Der  Begründer  einer  der  kostbarsten  und  kostspieligsten  Privat- 
bibliothek seiner  Zeit  begnügte  sich  damit,  daß  auch  dieser  Besitz 
seinen  Namen  trug,  seine  Bibliophilie  mit  der  Drucklegung  eines 
Verzeichnisses,  das  nicht  fertig  wurde.  Und  ganz  gewiß  ist  der  An- 
kauf der  62000  Bände  der  Bibliothek  Brühl  für  die  Königliche 
Bibliothek  in  Dresden,  so  wichtig  er  sie  förderte,  nicht  die  Einlösung 
einer  Dankesschuld  gewesen.  Anderes  gilt  für  den  1764  erfolgten 
Erwerb  der  42139  Bände  mit  149  Handschriften,  die  der  Bücher- 
nachlaß des  Grafen  Heinrich  von  Bünau  umfaßte.  Den  Abschluß 
der  Vereinigung  der  beiden  berühmten  Bibliotheken  in  der  Dresde- 
ner Sammlung  bildete  dann  die  große,  teilweise  noch  von  dem  [seit 
*1764]  kurfürstlichen  Bibliothekar  Francke  selbst  geleiteten  Du- 
blettenauktion der  Jahre  1775,  1776,  1777,  deren  dreibändiges  Ver- 
zeichnis daran  erinnert,  daß  das  Aufgehen  der  Privatbibliotheken 
in  eine  öffentliche  fast  immer  einer  Auflösung  jener  Sammlungen 
selbst  gleichkommt,  weil  ihre  Bestände  verteilt  oder  teilweise  sogar 
wieder  zerstreut  werden.  Damit  mag  manche  Sammelarbeit  verloren 
gehen.  Doch  ihr  bestes  Ergebnis,  ihr  kostbarstes  Sammelgut  bleibt 
erhalten. 

Deutsche  Familienbibliotheken,  die  Geschlechter  jahrhunderte- 
lang überdauernd  sich  vermehrten,  finden  sich  hauptsächlich  unter 
den  fürstlichen  Hausbibliotheken.  Das  ist  kein  Zufall.  Denn  die 
Erhaltung  und  Erweiterung  dieser  Sammlungen  setzte  voraus,  daß 
sie  durch  Erbteilungen  nicht  zerrissen  wurden,  an  einem  Orte  zu- 
sammenblieben. Allmählich  verbanden  sich  den  Archiven  derartige 
Bibliotheken,  indem  ein  bücherliebendes  Familienmitglied  die  sich 
ansammelnden  Druckwerke  zur  Aufstellung  und  Ordnung  brachte, 
ihre  planmäßigere  Vermehrung  einleitete  und  die  Bücherei  einem 
Familienvermögen  zuführte.  Gelegentlich  wechselten  auch  wohl  die 
Besitzer  einer  Familienbibliothek,  ohne  daß  sie  ihren  Ort  verließ 

262 


18.  JAHRHUNDERT 

und  sie  wurde  zur  alten  Schloßbibliothek.  Die  Art  ihrer  Ent- 
stehung erklärt  es,  daß  fast  alle  berühmten  noch  bestehenden  deut- 
schen Familienbibliotheken  in  das  sechzehnte  Jahrhundert  oder 
früher  zurückreichen,  aber  ihre  eigentliche  Entwicklung  erst  nach 
dem  Dreißigjährigen  Kriege  fanden,  als  der  Familienstand  fester 
geworden  war,  die  gesellschaftlichen  und  wirtschaftlichen  Zustände 
wieder  sicherer  wurden.  Eine  Ausnahme  bilden  die  Büchersamm- 
lungen der  großen  regierenden  Häuser.  Ursprünglich  schon  in  den 
Hauptstädten,  in  den  Residenzen  vorhanden,  wandelten  sie  sich 
mit  dem  Entstehen  der  öffentlichen  Bibliotheken  leicht  in  solche, 
bis  dann  die  endgültige  Trennung  zwischen  dem  Familienbesitz 
und  dem  Staatsbesitz  erfolgte,  wofern  sie  nicht  schon  vorher  durch 
eine  ausdrückliche  Stiftung  erklärt  war.  Wie  denn  überhaupt  die 
altbedeutenden  deutschen  Familienbibliotheken  durch  ihren  Um- 
fang, der  eine  eigene  Verwaltung  bedingte,  mehr  und  mehr  den  per- 
sönlichen Charakter  einer  Privatbibliothek  einbüßen  mußten. 
Andererseits  bemühten  sich  deshalb  einzelne  Familienmitglieder  um 
besondere  Sammlungen  für  den  eigenen  Gebrauch.  Auch  derartige 
Büchereien  gelangten  wohl  gelegentlich  in  die  Familien-Stamm- 
bibliothek, in  welcher  Weise  sich  die  neuen  Familienbibliotheken  der 
großen  regierenden  Häuser  wieder  auffüllten.  Häufiger  noch  wurden 
sie  zerstreut.  Und  da  es  kaum  jemals  eine  Bibliophilengeneration 
gab,  die  vom  Vater  auf  den  Sohn  den  Bücherbesitz  vererbend,  eine 
ununterbrochene  Reihe  von  Bücherkennern  und  Büchersammlern 
war,  ist  die  Bedeutung  der  Familienbibliotheken  für  die  Geschichte 
des  Büchersammel Wesens  der  der  öffentlichen  Bibliotheken  ähnlich. 
Nur  daß  einzelne  als  Buchfreunde  hervorragende  Persönlichkeiten 
auch  Familienbibliotheken  teilweise  und  zeitweilig  ein  eigenes  Ge- 
präge verliehen.  Ihr  Bild  erscheint  im  Rahmen  der  von  ihnen  be- 
reicherten, bestehenden  Familienbibliothek,  der  ihre  Sammeltätig- 
keit zuteil  wurde,  als  ein  Bibliophilenporträt  eigener  Geltung. 

Die  älteren  Büchersammlungen  des  Hauses  HohenzoUern  sind 
dadurch,  daß  Friedrich  Wilhelm,  der  Große  Kurfürst,  1661  seine  im 
Ostflügel  des  Berliner  Schlosses  über  der  Hofapotheke  aufgestellte 
Privatbibliothek  in  eine  öffentliche  umwandelte,  eine  Stiftung,  aus 

263 


DEUTSCHLAND 

der  die  ehemalige  Königliche  Bibliothek  in  Berlin,  die  heutige 
Preußische  Staatsbibliothek,  hervorging,  aus  dem  Besitz  dieses 
Fürstengeschlechtes  gekommen,  das  erst  wieder  im  Jahre  1862  mit 
der  Begründung  der  Königlichen  Hausbibliothek  im  Berliner  Schlosse 
eine  neue  Familienbibliothek  gewann,  die  freilich  ihre  eigentUchen 
Grundlagen  in  den  bereits  vorhandenen  Sammlungen  einiger  bücher- 
liebenden Könige,  vor  allen  denen  Friedrichs  IL  und  Friedrich 
Wilhelms  IV.  hatte.  Aus  dem  kaum  allzu  reichen  Bücherschatze  des 
ersten  Preußenkönigs,  Friedrichs  L,  sind  nur  einige  wenige  Werke 
in  der  Hausbibliothek  noch  vorhanden.  Und  daß  Friedrich  Wilhelm  I. 
mit  seiner  Abneigung  gegen  Bücherwissen  und  Gelehrtentum  außer 
Bibel  und  Gesangbuch  und  Militärreglement  keinen  Bücberüberfluß 
kennen  konnte,  verstand  sich  für  die  sparsame  Art  dieses  wirtschaft- 
lichen Monarchen  von  selbst.  Hat  er  doch  sogar  die  Bücherliebe 
seines  großen  Sohnes  unterdrücken  wollen,  indem  er  1730  nach  ihrer 
Entdeckung  die  ersten  heimUchen  Büchersammlungen  des  jungen 
Prinzen  ihm  fortnehmen  und  verkaufen  ließ. 

Die  Beziehungen  Friedrichs  des  Großen*  zu  den  Büchern  sind 
sehr  mannigfacher  Art  gewesen,  denn  der  große  König  ist  nicht  nur 
ein  geistvoller  Leser  gewesen,  nicht  nur  ein  fleißiger  Sammler,  ein 
bedeutender  Schriftsteller,  ein  geschickter  Herausgeber  und  der 
zweite  Stifter  der  Berliner  Königlichen  Bibliothek,  auch  die 
äußere  Erscheinung  seiner  Bücher  hat  er  nicht  für  gleichgültig  oder 
nebensächlich  gehalten.  Er,  der  als  Verleger  seiner  Privatdrucke 
die  vielleicht  schönsten  deutschen  Liebhaberausgaben  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  veranstaltet  hat,  er,  der  gerade  als  Leser  an 
die  äußeren  Eigenschaften  seiner  Bücher  ganz  bestimmte,  wohl  über- 
legte Anforderungen  zu  stellen  pflegte  und  ihren  Einbänden  eine 
Sorgfalt  zuwenden  ließ  —  sie  wurden  in  rotes  Ziegenleder  gebunden 
und  je  nach  ihrem  Aufstellungsort  mit  einem  kleinen  Buchstaben- 
Supralibros  versehen,  die  seine  Büchersammlung  heute  [abgesehen 
von  den  Beständen  einiger  öffentUchen  Bibliotheken]  wohl  zu  der 
umfassendsten  an  einer  Stelle  vorhandenen  Kollektion  französischer 
Werke  des  achtzehnten  Jahrhunderts  in  Maroquinbänden  ihrer 
Zeit  macht  —  er  hat  sich  als  Bibliophile  auch  in  dieser  Art  der  Buch- 

264  *Akb.  180—187 


18.  JAHRHUNDERT 

pflege  gezeigt.  Darin  liegt  ja  nun  keineswegs  der  Hauptwert  seiner 
Privatbibliotheken.  Aber  da  eine  Anzahl  berühmter  Bibliophilen 
des  Auslandes  ihr  Ansehen  in  der  Geschichte  der  Bücherliebhaberei 
dem  Aufwände  verdanken,  den  sie  für  die  Einbände  ihrer  Sammlun- 
gen nicht  scheuten,  so  ist  das  Beispiel  eines  ihnen  darin  ebenbürtigen 
deutschen  Buchfreundes  des  achtzehnten  Jahrhunderts  in  diesem 
Zusammenhange  ebenfalls  nicht  zu  verschweigen. 

Freilich,  ein  Büchersammler,  der  die  besten  Werke  in  ihren 
besten  und  schönsten  Ausgaben  in  möglichster  Vollständigkeit  an- 
einanderreihen möchte,  der  allerlei  Liebhaberwerte  schätzt,  wie  den 
kunstvollen  Pracht  band  und  die  Kuriosität  oder  die  Rarität,  ist 
Friedrich  der  Große  nicht  gewesen.  Der  Vielbeschäftigte,  der  „mit 
stürmischem  Eifer  den  Umgang  mit  großen  und  guten  Geistern 
aller  Zeiten  suchte*^  wollte  sich  als  Leser  begeistern  und  belehren 
lassen ;  von  der  Buchform,  die  ihm  den  Inhalt  wertvoller  Werke  ver- 
mitteln sollte,  verlangte  er  nur,  daß  sie  diesen  Inhalt  unverfälscht 
berge  und  ihm  in  ihrem  Äußeren  angenehm  sei.  Besonders  in  den 
späteren  Lebensjahren  steigerten  sich  seine  Ansprüche  an  das  Buch 
für  die  Bequemlichkeit  des  Lesens :  er  forderte  ein  handliches  Format 
und  großen  Druck  für  Bücher,  die  er  gündlich  benutzen,  in  denen  er 
auch  selbst  sich  auskennen  wollte.  Und  wie  er  die  Oktavbände  be- 
vorzugte, so  ließ  er  sich  auch  zu  umfangreiche  Bücher  in  mehrere 
Bände  binden. 

Über  den  literarischen  Geschmack  Friedrichs  des  Großen,  den  seine 
Urteile  aus  den  letzten  Lebensjahren  bezeugen,  unterrichtet  kurz 
aber  zutreffend  eine  Zusammenstellung  der  hierher  gehörigen  [ita- 
lienischen] Aufzeichnungen  des  Marchese  Lucchesini  [1751 — 1825],  der 
sich  1779  dem  Könige  hatte  vorstellen  lassen,  und  von  ihm  den 
Kammerherrenschlüssel  und  einen  Platz  in  der  Tafelrunde  zu  Sans- 
souci erhielt.  War  doch  Lucchesini,  nach  Goethes  Urteil  zu  schließen, 
der  1787  in  Neapel  viel  Freude  hatte,  den  Marchese  kennen  zu  ler- 
nen, zum  zuverlässigen  Berichterstatter  besonders  geeignet  als  einer 
von  den  Menschen,  ,,die  einen  guten  moralischen  Magen  haben,  um 
an  dem  großen  Welttische  immer  mitgenießen  zu  können,  anstatt 
daß  unsereiner,  wie  ein  wiederkäuendes  »Tier,  sich  zu  Zeiten  über- 

265 


DEUTSCHLAND 

füllt,  und  dann  nichts  weiter  zu  sich  nehmen  kann,  bis  er  eine  wieder- 
holte Kauung  und  Verdauung  geendigt  hat". 

Auch  Friedrich  der  Große  hatte  sich  beizeiten  überfüllt,  auch  er 
war  in  dem  französischen  Zeitgeschmack  seiner  Jugendjahre  zurück- 
geblieben. Daraus  erklärte  sich  sein  Verhältnis  zu  der  in  seinen 
späteren  Lebensjahren  aufblühenden  deutschen  Dichtung,  die  er 
nicht  kannte,  ohne  Teilnahme  für  ihr  Wachstum  und  doch  von  dem 
Wunsche  beseelt,  sie  möge  gedeihen,  den  seine  Schrift  ,sur  la  littera- 
ture  allemande'  aussprach,  deren  frühe  und  früheste  Wurzelungen 
zu  beurteilen  er  zu  alt  geworden  war,  weshalb  sein  bekannter  Brief  an 
den  Prof  essor  Myller  über  dessen  ,, Sammlung  deutscher  Gedichte  des 
XII.,  XIII.,  XIV.  Jahrhunderts**  vom  22.  Februar  1784  sie  verwarf. 
Aber  damals  begegnete  sich  Friedrich  der  Große  in  der  Ablehnung 
der  älteren  deutschen  Dichtung  mit  dem  Geschmack  der  meisten 
seiner  Zeitgenossen,  denen  die  ihnen  neueste  ebenfalls  noch  nicht  als 
die  Auswirkung  einer  ,klassischen  Literaturperiode*  erschien.  So 
bleibt  von  dem  Vorwurfe,  Friedrich  der  Große  habe  die  Förderung 
des  deutschen  Schrifttums,  wenn  sie  auch  nicht  verhindert,  so  doch 
jedenfalls  versäumt,  nicht  viel  mehr  übrig  als  diese  Forderung, 
er,  der  Gönner  der  Künste  und  Wissenschaften,  er,  der  geniale 
Mensch  und  mächtige  Monarch,  hätte  sich  einen  deutschen  statt 
seines  französischen  Musenhofes  erfreuen  müssen.  Der  Marchese 
Lucchesini  berichtete:  Während  der  König  mit  den  Meisterwerken 
der  italienischen  und  französischen  Literatur  und  manchem  schönen 
englischen  Werk  sich  zufrieden  erklärte  [2.  Oktober  1780],  sprach 
er  von  der  deutschen  Literatur  mit  Verachtung  und  sagte,  solange 
man  keine  klassischen  Schriftsteller  besitze,  um  der  Sprache  Glanz 
und  Licht  zu  geben,  würden  wenig  Fortschritte  gemacht  werden. 
Doch  gab  er  zu,  daß  damit  endlich  ein  Anfang  gemacht  worden  sei. 
Die  französische  Sprache  habe  allgemeinen  Eingang  gefunden,  sie 
sei  durch  die  Akademie  der  Vierzig  festgestellt  worden.  Die  italie- 
nische Sprache  dagegen  habe  noch  mancherlei  Kämpfe  durchzu- 
machen [24.  Mai  1783].  Über  die  Sitte,  viele  Sprachen  zu  lernen, 
äußerte  er  sich  so:  Wer  nicht  von  Beruf  ein  Mann  der  Wissen- 
schaft ist,  soll  lieber  die  43inge  studieren,  als  mit  Erlernung  einer 

266 


18.  JAHRHUNDERT 

größeren  Anzahl  Sprachen  die  Worte;  es  sei  besser,  einen  Schrift- 
steller in  einer  guten  Übersetzung  zu  lesen,  als  ihn  in  seiner  eigenen 
Sprache  nur  mittelmäßig  zu  verstehen.  Allemal  müsse  man  doch 
annehmen,  daß  der,  welcher  einen  Teil  seines  Lebens  darauf  ver- 
wandt hat,  die  Übersetzung  anzufertigen,  den  Sinn  besser  verstehen 
wird,  als  der,  welcher  den  Schriftsteller  zum  erstenmal  liest.  [24.  Mai 
1783.]  Da  er  vom  Latein  so  gut  wie  nichts  versteht,  so  kann  er  über 
die  Schönheiten  des  Horaz  nur  insoweit  urteilen,  als  die  Übersetzung 
sie  ihm  wiedergibt.  So  kommt  es,  daß  er  vielen  schönen  Oden  un- 
recht tut,  deren  Hauptwert  in  dem  Ausdrucke  beruht.  Die  Ars 
poetica  liebt  er  nicht,  weil  sie  zuviel  Unzusammenhängendes  ent- 
hält. Besser  als  alles  übrige  gefallen  ihm  die  Satiren  [21.  Juni  1783]. 
Homers  Ilias  gefällt  ihm  viel  weniger  als  Vergils  Äneide  [28.  Juli  1783]. 
Er  findet  Aristophanes  langweilig,  weil  die  griechischen  und  la- 
teinischen Lustspiele  keinen  inneren  Zusammenhang  haben  und  man 
genötigt  ist,  eine  lange  Reihe  mittelmäßiger  Sachen  hinunterzu- 
schlucken, um  irgendeine  Schönheit  aufzufinden.  [7.  April  1781.] 
Die  Lektüre  der  griechischen  Trauerspiele  macht  einen  schlechten 
.Eindruck,  die  lateinischen  Lustspiele  sind  von  schlechtem  Ge- 
schmack, die  Anzahl  guter  italienischer  Trauerspiele  ist  gering,  die 
deutsche  Bühne  dürftig,  das  französische  Theater  vollendet.  [2.  Ok- 
tober 1780.]  Den  Kanzler  Bacon  stellt  er  wegen  seines  Novum 
Scientiarum  Organum  sehr  hoch,  und  macht  sich  mehr  aus  ihm,  als 
aus  Plato  und  anderen  Philosophen  des  Altertums.  Cicero  liebt  er 
sehr.  [7.  Juli  1783.]  Er  glaubt  nichts  von  all  den  Wunderdingen, 
die  man  von  der  Wissenschaft  des  Archimedes  zu  erzählen  weiß. 
Sein  mangelhaftes  Wissen  in  den  Elementen  der  Mechanik  ver- 
anlaßt ihn  zu  dem  Glauben,  daß  diese  Wissenschaft  sehr  wenig  wert 
sei.  In  diesem  Fache  ist  er  voll  von  Vorurteilen.  [2.  August  1783.] 
Der  König  hat  beschränkte  und  falsche  Vorstellungen  von  der  Natur- 
geschichte.  Die  Wissenschaften,  welche  sich  auf  die  Erfahrung  grün- 
den, sind  dem  Könige  unbekannt.  Das  ist  seine  wissenschaftliche 
Achillesferse  [13.  August  1783].  Da  er  von  Naturkunde  nichts  ver- 
steht, hat  er  auch  vor  den  Bestrebungen  anderer  keine  Achtung. 
Von  dem   System  der  Welt  macht  er  sich  sehr  oberflächliche  Vor- 

267 


DEUTSCHLAND 

Stellungen.  Bei  der  Erörterung  des  Haushaltes  der  Natur  ent- 
wickelt er  Ansichten,  die  mehr  dichterisch  als  sonst  etwas  sind. 
Überall  blitzt  indessen  das  Genie  durch,  nur  das  Wissen  in  diesen 
Sachen  mangelt  sehr.    [20.  Juni  1783.] 

Die  Vorliebe  Friedrichs  des  Großen  für  die  griechischen  und 
römischen  Klassiker,  die  bei  ihm  im  späteren  Alter  um  so  stärker 
wurde,  als  ihm  auch  die  neuen  Erscheinungen  der  französischen 
Literatur  seiner  eingehenden  Teilnahme  nicht  mehr  wert  erschienen 
[Brief  an  Voltaire  vom  16.  Januar  1773],  galt  mehr  den  Prosaikern 
als  den  Poeten.  Einmal,  weil  er  die  antike  Poesie  durch  die  Brille 
Boileaus  beurteilte,  sodann  weil  die  Übersetzungen  der  prosaischen 
Schriften  immerhin  auch  die  formalen  Schönheiten  besser  bewahren 
konnten,  als  das  bei  Umdichtungen  möglich  war.  Angewiesen  auf 
die  Vermittlung  der  antiken  Literatur  durch  französische  Über- 
setzungen mußte  jeder  neue  Versuch  einer  französischen  Über- 
tragung griechischer  oder  römischer  Schriften  Friedrichs  des  Großen 
Aufmerksamkeit  erregen  und  mancher  Ehrgeizige  mochte  die  Autor- 
schaft einer  französischen  Bearbeitung  irgendeines  Klassikers  nicht 
mit  Unrecht  für  eine  vorzügliche  Empfehlung  beim  Könige  halten. 
Immerhin  nahm  dieser  die  ihm  zugänglichen  Übersetzungen  nicht 
kritiklos  hin.  So  ist  letzten  Endes  als  Buchfreund  auch  Friedrich 
der  Große  ein  Humanist  gewesen  und  gerade  seine  in  das  antik- 
heroische hineinwachsende  Persönlichkeit  läßt  der  Frage  nachdenken, 
worin  denn  eigentlich  die  ungeschwächte  Wirkung  der  antiken 
Klassiker  auf  die  bedeutenden  Menschen  anderer  Völker  und  Zeiten, 
von  anderer  psychologischer  Struktur  beruhte.  Man  wird  diese 
Frage  vielleicht  dahin  beantworten  wollen,  daß  es  der  Realismus  der 
antiken  Welt  ist,  ihre  tiefe  Sachlichkeit,  der  der  christliche  Dualis- 
mus des  Gut  und  Böse  noch  unbekannt  war,  deren  Werke  in  irgend- 
einem moralischen  Sinne  nicht  unbewußt  Partei  nahmen.  Und  gerade 
hierin  einen  Aufschluß  über  die  Nachwirkungen  des  Humanismus 
in  der  BibUophilie,  die  in  ihren  Einzelheiten  nicht  überallhin  leicht 
zu  verfolgen  sind,  finden  wollen. 

Da   Friedrich  der  Große   im  allgemeinen   keine   Zeitungen  las 
[Lucchesini  15.— 17.  Dezember  1780],  wohl  auch  weil  sein  eigener 

268 


18.  JAHRHUNDERT 

Nachrichtendienst  ein  besserer  und  zuverlässigerer  als  der  ihm  so- 
gleich nach  ihrem  Erscheinen  zugänglichen  Zeitungen  war  und  da  er 
es  sich  stets  zur  Regel  gemacht  hatte,  nicht  zwei  verschiedene  Arten 
der  Lektüre  durcheinander  zu  mengen  [Lucchesini,  25.  Oktober  1780], 
so  ermöglichen  die  vielen  vorhandenen  Einzelnachrichten  über  seine 
Lektüre  eine  weitaus  genauere  Bestimmung  ihres  Fortganges,  als 
sie  für  viele  andere  großen  Geister  vorgenommen  werden  kann. 
Der  König  hatte  die  an  rechter  Stelle  nicht  hoch  genug  einzu- 
schätzende Gewohnheit,  laut  zu  lesen,  um  sich  den  Klang  der  Worte, 
den  Rhythmus  ihrer  Aneinanderreihung  besonders  deutlich  zu  ver- 
sinnlichen. Die  Stellung  des  Vorlesers  war  bei  ihm  ein  Vertrauens- 
posten. Die  Vorleser  mußten  nicht  nur  einen  guten  Vortrag  haben, 
sie  mußten  auch  für  das  Aussuchen  der  vorhandenen,  das  Bestellen 
neuer  Bücher  rasch  bei  der  Hand  sein  und  auf  der  Stelle  allerlei  kleine 
literarische  Auskünfte  geben  können.  Den  alten  Buchfreund  hat 
sein  letzter  Vorleser,  C.  Dantal,  geschildert:  ^D'e  Ordnung,  die  der 
König  in  allen,  auch  in  den  geringfügigsten  Dingen  beobachtete, 
gibt  ein  nachahmungswürdiges  Beyspiel.  Sie  zeigte  sich  nicht  nur 
in  der  getroffenen  Eintheilung  seiner  Stunden,  sondern  auch  sogar 
in  der  Einrichtung  seiner  Bücher.  —  Außer  den  verschiedenen 
Bibliotheken,  die  Er  auf  den  Schlosse  in  der  Stadt  [Potsdam],  in 
Sans-Souci,  und  in  dem  neuen  Palais  besaß,  hatte  Er  noch  eine 
Handbibliothek,  die  Er  auf  allen  seinen  Reisen  mitnahm  und  von 
jeder  war  auch  ein  Bücher- Verzeichniß  da.  Diejenigen  Bücher,  die 
nicht  Platz  darin  finden  konnten  oder  die  Er  öfters  selbst  brauchte, 
lagen  auf  dem  Tische  oder  auf  den  Fenstern  seines  Wohnzimmers, 
wo  niemand  es  wagen  durfte,  etwas  anzurühren;  oder  Er  mußte 
jemanden  aufgetragen  haben.  Ihm  ein  Buch  darunter  zu  suchen, 
das  Er  zu  lesen  verlangte,  und  dennoch  erinnerte  er  dabey  immer, 
nichts  in  Unordnung  zu  bringen.  —  So  oft  ich  ein  Buch  aus  der 
Bibliothek  nahm,  mußte  ich  an  den  leeren  Raum  ein  Blättchen 
Papier  hinlegen,  um  den  Ort  wieder  zu  finden,  wo  es  gestanden 
hatte;  und  da  alle  Bücher  auf  dem  Tische  aufrechtstanden,  so 
mußten  hingegen  alle  diejenigen  flach  liegen,  die  ich  ausgelesen 
hatte.  —  Jede  Gattung  von  Werken  hatte  ihr  eigenes  Spinde:    Das 

269 


DEUTSCHLAND 

eine  war  für  die  Geschichte,  das  andere  für  die  Litteratur  und  Poesie, 
und  das  dritte  für  Übersetzungen  der  Alten  bestimmt.  —  Die  Ord- 
nung, nach  welcher  sie  gestellt  waren,  war  weniger  für  das  Auge  als 
für  den  Verstand,  weil  die  Stellung  derselben  bloß  nach  dem  wich- 
tigen oder  unwichtigen  Inhalte  eingerichtet  war:  ohne  dabey  Rück- 
sicht zu  nehmen  auf  die  ungleiche  Größe  der  neben  einander  stehen- 
den Bücher,  worauf  die  mehresten  Bibliothekenbesitzer  am  vor- 
züglichsten zu  sehen  pflegen.  Der  König  hatte  zu  seiner  eigenen  Be- 
quemlichkeit sich  lauter  Oktavbände  angeschaft,  statt  der  Folian- 
ten und  Quartbände,  die  Er  nachher  in  die  öffentUche  Bibliothek  zu 
Berlin  bringen  ließ.  Es  war  daher  wirklich  für  das  Auge  ein  beleidi- 
gender Anblick,  wenn  man  neben  diesen  Oktavbänden  Folianten 
und  Quartbände  gestellt  sähe,  wovon  Er  noch  keine  Handausgaben 
hatte  erhalten  können  und  die  Er  deshalb  noch  so  lange  stehen  ließ 
Dis  war  auch  es  was  ihn  bewog,  die  Logik  und  die  Metaphysik  von 
Bayle  durch  den  Druck  in  eine  Handausgabe  zu  verwandeln.  Auch 
machte  er  deswegen  einen  Auszug  von  Bayle  Lexikon  und  von  der 
Kirchengeschichte  des  Fleury.  Alle  seine  guten  Bücher  ließ  Er  in 
roth  Saffian  mit  einem  goldnen  Schnitt  einbinden.  Auf  dem  Deckel 
eines  jeden  Buches  befand  sich  ein  Buchstabe,  welcher  den  Ort  der 
Bibliothek  anzeigte,  wo  es  hingehörte.  Auf  dem  Deckel  der  auf  dem 
Potsdamschen  Schlosse  befindlichen  Bücher  war  ein  P.,  auf  denen 
von  Sans-Souci  ein  V.,  weil  er  diesen  Ort  Vignes  (Weinberge)  nannte, 
und  auf  denen  vom  neuen  Palais  war  ein  S.,  weil  Er  diesem  Palais 
eigentlich  den  Nahmen  Sans  Souci  beilegte."  —  Mehr  als  mit  Menschen 
hat  Friedrich  der  Große  mit  seinen  Büchern  als  Freunden  verkehrt. 
Er  ist  bis  zum  Lebensende  seinen  Worten  treu  geblieben:  Bücher 
sind  kein  geringer  Teil  des  Glücks  —  die  Literatur  wird  meine  letzte 
Leidenschaft  sein. 

Die  im  Berliner  Schlosse  aufgestellt  gewesene  Bibliothek  Fried- 
richs L  nahm  König  Friedrich  Wilhelm  IL*  in  die  eigene  Bücher- 
sammlung auf,  die  er  ebenfalls  an  zwei  Stellen  untergebracht  hatte, 
etwa  1400  Bände  im  Berliner  Schlosse  und  etwa  1000  Bände  in 
einem  besonderen,  im  neuen  Garten  errichteten  Bibliotheksgebäude, 
einem  gotisierenden  Kleinen  Pavillon  von  zwei  Stockwerken.    Auch 

270  *Abb.  i88 


18.  JAHRHUNDERT 

er,  ein  eifriger  Leser,  legte,  wie  der  große  König,  auf  die  Buchpflege 
einigen  Wert  und  ließ  für  gewählte  grüne  Ziegeniederbände  seiner 
Bücher,  deren  Deckel  seinen  Namenszug  und  ein  N[euer]  G[arten] 
tragen,  sorgen  und  unter  denen  er,  im  Gegensatz  zu  Friedrich,  auch 
die  der  deutschen  Dichter  nicht  vergaß.    Ein  besonderer  Bücher- 
freund   ist     König     Friedrich    Wilhelm     III.    nicht    gewesen    und 
der   Bestand   seiner   Berliner,   im   sogenannten    Kronprinzenpalais, 
verwahrten    Bibliothek    ist    in    der    des    Kaiser    Friedrich    aufge- 
gangen, die  Prinz  Heinrich  erbte,  nachdem  schon  vorher  der  Kaiser 
eine  größere  Anzahl  der  Bücher  König  Friedrich  Wilhelms  III.  der 
Königlichen   Hausbibliothek  überwiesen  hatte,   die  ihm  auch  ihre 
Sammlung  aller  Ausgaben  der  Schriften  Friedrichs  des  Großen  ver- 
dankte.    Eine    zweite,    noch    erhaltene,    3000    Bände    umfassende 
Bibliothek    König   Friedrich   Wilhelms    III,    stand    im   Charlotten- 
burger Schlosse.    Anders  als  ihr  Gemahl  hatte  die  Königin  Luise 
ein  näheres,  persönlicheres  Verhältnis  zu  ihren  Büchern.    Sie  besaß, 
neben  der  gemeinsamen  großen  Privatbibliothek  im  Kronprinzen- 
palais noch  eine  eigene  kleine,  etwa  ein  halbes  Tausend  Bände  zäh- 
lende Büchersammlung  in  ihren  Gemächern  im  Potsdamer  Stadt- 
schloß.    Ein   außerordentlicher   Buchfreund   war   wiederum    König 
Friedrich  Wilhelm  IV.,  dem  es  allerdings  mehr  auf  eine  mög- 
lichst  umfassende,   in   den   wissenschaftlichen    Fächern   mit   ihren 
Hauptwerken   vollständige    Bücherei   ankam    als    auf    einen    auch 
nach  außen  hin  seinen  Bücherschatz  kennzeichnenden  Glanz.     In 
ihrem  Äußeren  entsprechen  die  20000  Bände,  die  der  König  in  seinen 
Wohnräumen    des    Berliner    Schlosses    untergebracht    hatte,    den 
anderen    Berliner    Privatbibliotheken    jener    Zeit.      Und    obschon 
König  Friedrich  Wilhelm  IV.,  den  sein  Adjutant  Gustav  v,  Below 
auch  mit   den   Kreisen   der   damaligen   deutschen   Büchersammler 
verband,    die   Gelegenheit   nicht   verschmähte,    ein   kostbares   oder 
seltenes  Stück  zu  erwerben,  so  ist  das  alte  Buch,  wie  es  die  Ro- 
mantiker verehrten,  ihm  doch  kein  Gegenstand  eines  Sammeleifers 
geworden.    Sein  Büchernachlaß,  der  auch  die  von  ihm  erworbene 
Privatbibliothek    des   Geheimen   Legationsrates   Renfner  enthielt, 
wurde  1862  der  Mittelpunkt  der  Königlichen  Hausbibliothek,  die 

271 


DEUTSCHLAND 

durch  die,  obschon  nicht  räumliche,  Zusammenfassung  aller  Bücher- 
sammlungen des  königlichen  Hauses  und  durch  die  ihr  von  den  drei 
HohenzoUernkaisern  gemachten  Überweisungen  auf  etwa  100000 
Nummern  anwuchs,  unter  denen,  neben  den  historischen  Privat- 
bibliotheken, die,  1862  aus  den  Beständen  der  Musikalien  Friedrichs 
des  Großen  und  Friedrich  Wilhelms  IL  entstandene  Musiksammluns 
von  besonderem  Werte  ist.  — 

Eine  scharfe  Scheidung  des  gelehrten  Schrifttums  von  allen 
anderen  sonstigen  Schrifttumserzeugnissen  war  noch  selbstverständ- 
lich im  siebzehnten  Jahrhundert.  Die  gelehrte  Bildung  mußte 
schließUch  auch  noch  polyhistorisch  sein,  aus  praktischen  Gründen 
die  Ausdehnung  und  nicht  bloß  die  Ausnutzung  der  Privatbiblio- 
theken verlangen,  solange  die  Benutzung  der  öffentlichen  Biblio- 
theken sich  versagte,  solange  der  gelehrte  Briefwechsel,  dessen  gegen- 
seitiger Nutzen  aus  seiner  Vielseitigkeit  hervorging,  der  Ersatz  war 
für  ein  ausgebildetes  Verkehrswesen  auf  wissenschaftlichem  Gebiete, 
das  mit  den  ersten  Vorgängern  wissenschaftlicher  Zeitschriften  eine 
entscheidende  Wendung  zu  gegenwärtigen  Zuständen  nahm.  Ari- 
stoteles, der  Polyhistorie  Ur-  und  Vorbild,  hatte  noch  den  ganzen 
Kosmos  übersehen,  ja  recht  eigentlich  erst  das  Gerüst  zu  dessen  Be- 
trachtung konstruiert.  Verließ  man  es  oder  versagte  es,  war  wieder 
ein  Chaos  da,  auch  ein  bibliographisches  Chaos,  das  von  neuem 
zu  gestalten  die  klügsten  Männer  nicht  verschmähten,  wie  die  hier- 
her gehörigen  von  Gottfried  Wilhelm  von  Leibniz  [1646 — 1716] 
gemachten  Vorschläge  zeigen.  Noch  einmal  war  mit  ihm  um  die 
Jahrhundertwende  die  Erscheinung  eines  Polyhistors  glänzend  her- 
vorgetreten, eines  Gelehrten,  eines  Genies,  eines  Weltmannes.  Aber 
die  blendendsten  seiner  Vorzüge  waren  schon  die  eines  Schöngeistes, 
während  seine  weitwirkenden  wissenschaftlichen  Leistungen  die 
eines  Fachmannes  waren  und  die  Umwandlung  in  den  Philosophen 
aus  dem  Polyhistor,  die  er  zeigte,  man  möchte  sagen  aus  dem  Be- 
dürfnis einer  [versöhnenden]  Weltanschauung  sich  ergab,  die  die 
Regelung  der  Wissenschaften  gestattete.  Das  achtzehnte  Jahr- 
hundert gewann  seinen  Bestand  aus  Anregungen  und  Widersprüchen, 
in  der  Politik,  wo  Absolutismus  und  Kosmopolität  sich  auseinander* 

272 


18.  JAHRHUNDERT 

setzten,  in  der  Theologie,  wo  asketische  Mystik,  Pietismus  und 
Rationalismus  widereinander  sich  kehrten  und  in  den  anderen 
Fakultäten,  in  denen  sich  die  neuen  Richtungen  trennten  und  ver- 
banden, in  den  ,Teutschbüchlein\  die  am  Anfange  des  Jahrhunderts 
ein  Zeugni3  fleißiger  Übung  waren  und  an  seinem  Ende  Hervor- 
bringungen romantischer  Willkür.  Unter  solchem  unaufhörlichen 
Wechsel  konnten  auch  die  Büchersammlungen  nicht  eine  Einheit- 
lichkeit gewinnen,  die  dem  deutschen  geistigen  und  gesellschaft- 
lichen Leben  mangelte. 

Als  Zacharias  Conrad  von  Uffenbach  um  die  Jahreswende  1709 
nach  Wolfenbüttel  kam,  wurde  das  neue  „zur  Bibliothek  aufge- 
baute^* Gebäude  eben  fertig.  ,,Es  ist  ein  ziemlich  großes  und  an- 
sehnliches viereckigtes  Gebäude,  daran  aber  zwey  Hauptfehler,  der 
eine,  daß  es  von  Holz,  und  für  die  Bibliothek  nicht  sicher  ist,  wozu 
der  zweyte  Fehler  noch  kommt,  daß  unten,  welches  sich  nun  gar  nicht 
für  ein  solches  Gebäude  zu  schicken  scheinet,  Stallungen  für  die  Herr- 
schaftliche Pferde  sind**  urteilte  dieser  ausgezeichnete  Kenner  von 
Büchern  und  Büchersammlungen.  Aber  daß  damals  ein  Bau  schon  von 
vornherein  dazu  bestimmt  war,  eine  bedeutende  Büchersammlung 
aufzunehmen,  gehörte,  nicht  nur  in  Deutschland,  zu  den  Ausnahmen. 
Eben  jener  Leibniz,  in  dem  die  Polyhistorie  zur  Universalität  einer 
Weltanschauung  der  Wissenschaften  emporgewachsen  war,  hatte  die 
Leitung  der  von  dem  gelehrten  Herzog  August  dem  Jüngern 
von  Braunschweig  um  1604  auf  dem  Schlosse  Hitzacker  ge- 
gründeten, 1644  nach  Wolfenbüttel  überführten  Sammlung,  die 
eine  europäische  Bibliothek  ersten  Ranges  heißen  konnte.  Zählte 
sie  doch  bereits  1661  rund  120000  Bände  mit  2000  Handschriften. 
In  Leibniz  selbst,  den  er  in  Hannover  traf,  und  dem  ersten  Biblio- 
thekar in  Wolfenbüttel,  Rat  Hertel,  fand  Herr  von  Uffenbach 
Männer,  die,  obschon  zum  Mißvergnügen  des  abschreibelustigen 
BibUophilen,  sich  mühten,  eine  noch  ungewöhnliche  Ordnung  auch 
in  der  Verwaltung  ihnen  anvertrauter  Bibliotheken  aufrecht  zu  er- 
halten. 1770  erhielt  das  Amt  des  Hauptbibhothekars  in  Wolfen- 
büttel ein  Mann,  in  dessen  Persönlichkeit  sich  ebenso  wie  in  der- 
jenigen Leibnizens  eine  Epoche  fortschreitender  Entwicklung  deut- 

BOOENO    18  273 


DEUTSCHLAND 

sehen  geistigen  Lebens  verkörperte:  Lessing.  Die  antiquarisch- 
bibliographische Gelehrsamkeit  Gotthold  Ephraim  Lessings 
[1729—1781]  war  groß,  wie  seine  Schriften  zeigen,  die  P.  Albrecht,  der 
aus  kritischer  Monomanie  selbst  zum  unermüdlichen  Büchersammler 
wurde,  sogar  als  von  überallher  zusammengelesen  erweisen  wollte. 
Aber  die  Belesenheit  Lessings  entsprang  der  Leidenschaftlichkeit 
seiner  Wißbegierde  und  ihr  entsprach  in  seinen  früheren  Jahren 
auch  das  Bemühen  um  den  Besitz  einer  eigenen  gewählten  Bücher- 
sammlung, in  dem  wenigstens  er  seiner  Gegner  Job.  Chr.  Gott- 
sched [1700-1766]*  und  Job.  Melch.  Goeze  [1717-1786]  Ge- 
sinnungsgenosse gewesen  ist.  Daß  ihm  das  Amt  des  Bibliothekars 
als  endgültige  Lebensstellung  zuteil  wurde,  konnte  den  Buchmann 
über  sich  nicht  erfüllende  Hoffnungen  trösten.  Die  ,, gewisse  Über- 
zeugung" des  jungen  Leipziger  Studenten,  ,,daß  sein  ganzes  Glück 
in  den  Büchern  bestehe''  wandelte  sich  freilich  zuerst,  als  er  in  den 
Neuberischen  Theaterbann  geriet,  in  diese,  die  ein  Brief  vom  20.  Ja- 
nuar 1749  der  Mutter  erläuterte:  ,,Ich  lernte  einsehen,  die  Bücher 
würden  mich  wohl  gelehrt,  aber  nimmermehr  zu  einem  Menschen 
machen."  Aber  mit  der  notgedrungenen  Übersiedlung  nach  Witten- 
berg erwachte  die  Bücherlust  von  neuem  und  der  allzu  beeilte 
Büchererwerb  trieb  ihn  in  Bücherschulden.  Nach  einem  halben 
Jahre  schon  mußte  er,  nach  Berlin  fliehend,  die  kleine  Privatbiblio- 
thek in  der  Lutherstadt  zurücklassen.  Der  Vater  löste  die  Bücher 
aus,  um  dem  Sohn  ihre  Titel  vorzuwerfen.  Der  wehrte  sich,  es  be- 
fänden sich  höchstens  zwei  Komödien  unter  den  nach  Camenz  ge- 
retteten Werken.  ,,Der  größte  Teil  besteht  aus  statistischen  Schriften, 
die  Ihnen  ganz  natürlicher  Weise  hätten  können  schließen  lassen, 
daß  ich  künftig  gesonnen  wäre,  ebensoviel  in  der  Welt  und  in  dem 
Umgange  mit  den  Menschen  zu  studieren  als  in  Büchern.^'  Und  aus 
dem  Bestreben,  sich  in  seiner  wenig  günstigen  Berliner  Lage  weiter- 
zuhelfen, kam  die  Klage  ins  Elternhaus:  „Es  fehlt  mir  jetzo  nichts 
als  meine  Wäsche  und  meine  Bücher.  Ich  habe  Ihnen  den  Katalogen 
davon  schon  überschrieben  und  erwarte  sie  mit  größtem  Verlangen, 
Sie  können  leicht  erachten,  wie  schwerlich  es  sei,  sich  mit  geborgten 
Büchern  zu  behelfen."      Von    dem   Bibliophilen   Lessing  während 

274  *Abb.  177,  178 


18.  JAHRHUNDERT 

seines  Literatenlebens  in  Berlin,  wo  eine  seiner  ersten  lohnenden  Be- 
schäftigungen die  ihm  von  Mylius  verschaffte  Ordnung  der  Biblio- 
thek des  Buchhändlers  Rüdiger  war  und  ihm  später  das  Amt  des 
Bibliothekars  an  der  Königlichen  Bibliothek  entging,  und  in  Leipzig, 
das  ihm  das  Jahrzehnt  1750—1760  ausfüllte,  wissen  wir  nichts.  Erst 
die  Berufung  nach  Breslau  als  Sekretär  des  Generals  Tauentzien  gab 
Lessing  vermutlich  wieder  die  Möglichkeit,  Bücher  sammeln  zu  dürfen 
und  seit  1760  überließ  er  sich  einer  Büchersucht,  die  seiner  Spiel- 
sucht verglichen  wurde.  ,,Die  zweite  Sünde,  deren  er  in  Breslau 
von  seinen  Freunden  beschuldigt  wurde,  war  das  viele  Bücherkaufen. 
Es  war  Spekulation  und  Liebhaberei.  Die  Bücher  gingen  damals 
in  schlechtem  Gelde  fast  wohlfeiler  weg  als  sonst  im  guten ;  er  wußte, 
daß  er  Bücher  besser  verwahren  konnte,  als  Baarschaften,  die  ihm 
der  erste  beste  Dürftige  ab  jammerte,  und  sie  waren  auch  das  Einzige 
von  Erheblichkeit,  das  er  aus  Breslau  nach  Berlin  zurückbrachte,**  be- 
richtet der  Biograph  und  Bruder  Carl  Gotthelf  Lessing  darüber 
und  ein  anderer  Freund  vermerkt:  ,, Sobald  er  vom  General  voni 
Tische  kam,  welches  gewöhnlich  um  vier  Uhr  war,  ging  er  entweder 
in  einen  Buchladen  oder  in  eine  Auktion.**  Lessing  sammelte  syste- 
matisch, seine  Ankäufe  beschränkte  er  nicht  auf  den  Breslauer 
Büchermarkt,  sondern  nahm  die  anderswo  sich  bietenden  Gelegen- 
heiten, stets  zu  hohen  Geldopfern  bereit,  wahr.  In  Berlin  war 
Friedrich  Nicolai  [1733—1811]*  der  Vertrauensmann,  der  die  Auf- 
träge besorgen  mußte  und  dem  er  einmal  schrieb:  ,,Auf  beiliegendem 
Zettel  stehen  Bücher,  die  ich  mir  aus  dem  Baumgartenschen  Cata- 
lögo  —  —  gezogen  habe  und  die  ich  alle  haben  muß.  Seien  Sie  also 
so  gut  und  lassen  Sie  mir  sie  erstehen.  —  Sehen  Sie,  wenn  ich  jetzt 
auch  noch  so  viel  vergesse,  ich  behalte  doch  wenigstens  die  Bücher, 
wo  ich  es  wieder  finden  kann.  Und  kann  ich  mir  nun  die  Bücher 
vollends  selber  kaufen,  das  kann  ich  jetzt,  so  gewinne  ich  ja  offenbar 
im  Verlieren.  Denn  in  den  Büchern  steht  sicherlich  mehr,  als  ich 
vergesse.  Geben  Sie  nur  acht,  je  mehr  ich  vergesse,  desto  gelehrter 
werde  ich  werden!  Und  ein  dickes  Buch  bekömmt  die  Welt  nach 
meinem  Tode  —  vielleicht  auch  noch  vor  meinem  Tode,  gewiß  noch 
von  mir  zu  sehen.    Nämlich  Bibliothecam  Lessingianam  seu  Cata- 

18»  *  Abb.  179  275 


DEUTSCHLAND 

logum  librorum  quos  dum  sapere  legere  vivere  desiisset,  coUegit  vir 
cum  paucis  sie  stultis  comparandus,  Gotth.  Ephr.  Lessing  etc.  Aus 
diesem  Catalogo  habe  ich  vor  der  Hand  nichts  gezogen  —  sondern 
aus  dem  Baumgartenschen  Catalogo  .  .  .  Sie  gehen  also  in  die  Auc- 
tion  und  erstehen  mir  die  Bücher,  —  Hier  werden  sehr  oft  Pferde 
und  Packsättel  verauktioniert;  ich  bin  wieder  zu  Ihren  Diensten. 
Die  ich  mit  einem  *  notiert  habe,  müssen  Sie  mir  um  Gotteswillen 
nicht  weglassen.  Ich  muß  Sie  absolut  haben.^^  Diesmal  war  der 
leidenschaftliche  Sammler  Lessing  auch  ein  vergeßlicher  Samm- 
ler gewesen,  er  hatte  einen  ähnlichen  dringenden  Auftrag  noch 
einem  zweiten  Bekannten  in  Berlin  gegeben  und  die  beiden  Bieter 
für  Lessing  übersteigerten  sich  gegenseitig  zu  Lessings  Schaden, 
bis  sie  endlich  einander  aufklärten.  Ein  Geschichtchen,  das  häufi- 
ger vorgekommen  sein  wird  —  es  hat  dem  Herzog  von  Welling- 
ton einmal  in  den  Tagesruhm  der  Bibliomanie  gebracht  —  das  aber 
jedenfalls  auch  beweisend  genug  ist  für  den  Bibliophilen  Lessing, 
dem  die  in  seinem  Briefe  an  Nicolai  scherzhafte  Zweifelsfrage,  wann 
die  Welt  seinen  dicken  Katalogband  zu  sehen  bekäme,  sich  bald  in 
der  unerwünschtesten  Weise  beantworten  sollte.  Eine  gewählte  und 
große  Büchersammlung  zierte  1765  die  Wände  von  Lessings  Berliner 
Wohnung,  1767,  als  er  die  Übersiedlung  nach  Hamburg  vorbereitete, 
mußte  er  sich  notgedrungen  von  ihr  trennen,  um  den  Vorschuß  für 
die  neubegründete  Bode-Lessingsche  Buchdruckerei  zahlen  zu 
können,  wie  er  am  21.  Dezember  1767  nach  Hause  schrieb.  Dar- 
über berichtete  er  am  1.  Feburar  d.  J.  an  Job.  Ludw.  Gleim  [1719 
—  1803]:  „Meine  Bibliothek  wird  springen;  ich  behalte  von  6000 
Stück  nichts,  als  was  ich  zu  meinen  vorhabenden  Arbeiten  unum- 
gänglich brauche.  Es  geht  mir  nahe,  daß  ich  mich  ihrer  entschlagen 
muß,  daß  ich  mich  ihrer  an  einem  Orte  entschlagen  muß,  wo  Bücher 
ganz  und  gar  nichts  gelten.  Aber  was  zu  thun?  Ich  wünschte,  daß 
Sie  einen  reichen  gelehrten  Domherrn  wüßten,  der  mir  wenigstens 
meine  Journale  abhandeln  wollte.  Ich  habe  das  Journal  des  Savans 
bis  auf  1764  complet,  in  235  Bänden;  den  Mercure  de  France  bis  auf 
1758,  in  254  Bänden;  die  Acta  eruditorum,  die  Ann^es  litteraires 
de  Freron,  kurz  einen  Praß  von  solchen  Werken  von  siebentehalb- 

276 


18.  JAHRHUNDERT 

hundert  Bänden,  die  mir  herzlich  zur  Last  sind  und  die  man  doch 
wohl  selten  so  vollständig  findet.  Denn  die  letzten  Jahre,  die  daran 
fehlen,  sind  überall  zu  haben.  Schade,  daß  der  Graf  von  Wernigerode 
nur  Bibeln  sammelt!*^  Gleim,  der  Hilfsbereite,  antwortete  sogleich: 
„Und  daß  Sie  Ihre  Bibliothek  zu  verkaufen  genöthigt  sind!  Welch 
ein  Jammer,  daß  ich  nicht  den  Augenblick  Ihnen  den  Werth  geben 
und  sie  Ihnen  auf  Lebenslang  zum  Gebrauch  lassen  kann!  Wäre 
denn  aber  gar  kein  Rath,  sie  zu  erhalten?  Sagen  Sie  doch,  sagen  Sie, 
liebster  Lessing,  was  kann  ich  dazu  beitragen?  Könnten  wir,  ich, 
Nicolai,  Moses,  Ihre  besten  Freunde,  nicht  soviel  zusammenschießen, 
als  Ihnen  nötig  ist?  Zu  allem,  zu  allem  bin  ich  bereit.  —  Wenn  es 
aber  schlechterdings  nicht  anders  sein  kann,  so  sagen  Sie  mir  doch 
bald,  was  Sie  haben  wollen  für  die  siebenhundert  Bände  Journale. 
Vielleicht  überrede  ich  den  Grafen  von  Wernigerode  oder  mein 
Domcapitel,  sie  zu  kaufen!**  Lessing  verfolgte  aber  Gleims  An- 
gebot nicht  weiter,  er  ließ  in  Berlin  seine  Büchersammlung  zurück 
und  sich  aus  ihr  eine  von  ihm  getroffene  Auswahl  nach  Hamburg 
kommen,  auf  deren  Sendung  sein  Brief  vom  21.  April  1767  drängte: 
„Wie  steht  es  mit  meinen  Sachen?  Ich  will  doch  hoffen,  daß  sie 
abgegangen  sind?  Ich  kann  eher  weder  in  Ordnung  noch  in  Ruhe 
kommen,  als  bis  ich  meine  Bücher  um  mich  habe.'*  Gleichzeitig  be- 
gann er  die  Versteigerung  der  Berliner  Bücher  vorzubereiten,  wobei 
ihn  der  in  Berlin  lebende  Bruder  Carl  Gotthelf  unterstützte.  Ihm 
schrieb  er  am  22.  Mai  1767:  „Laß  ja  an  dem  Catalogo  fleißig 
drucken*^  am  14.  August:  „Mit  nächstem  will  ich  Dir  den  Cata- 
logum  mit  Preisen  schicken,  unter  welchen  Du  die  Bücher  nicht  weg- 
gehen lassen  sollst.  Mache  nur,  daß  der  Katalog  fein  herumgeschickt 
wird,"  am  21.  September:  „Hier  schicke  ich  Dir  den  Katalog  mit 
beigefügten  Preisen,  unter  welchen  Du  die  bemerkten  Bücher  nicht 
wohl  mußt  gehen  lassen.  Weise  ihn  aber  vorher  Herrn  Voß  und  höre 
seine  Meinung  in  Ansehung  der  Hauptbücher,  als  des  Journal  des 
Savans,  des  Mercure  etc.  Ich  hoffe  nicht,  daß  ich  die  Preise  zu  hoch 
angesetzt,  und  da  ich  vielleicht  mehr  als  die  Hälfte  gar  nicht  taxiert 
habe,  so  sollte  ich  meinen,  daß  doch  wenigstens  die  660  Thaler,  auf 
die  ich  den  Überschlag  gemacht,  nach  Abzug  der  Kosten  heraus- 

277 


DEUTSCHLAND 

kommen  müßten.  Das  Geld  muß  an  Herrn  Voß  berechnet  werden, 
dem  ich,  wie  du  weißt,  500  Thaler  schuldig  bin."  Anfang  1768 
scheint  die  Druckvorlage  des  Kataloges  fertig  geworden  zu  sein, 
ein  Brief  Carl  Gotthelfs  vom  10.  Februar  dieses  Jahres  meldete: 
,, Liebster  Bruder!  Hier  ist  der  Katalog.  Deine  fanatischen  Bücher 
habe  ich  weggelassen.  In  der  Auction  gelten  sie  nichts.  In  Ham- 
burg aber,  wo  ein  Goeze  das  Gift  der  Allgemeinen  Deutschen  Biblio- 
thek nicht  um  sich  greifen  läßt,  kann  noch  eher  damit  etwas  zu 
machen  sein."  Diesen  Katalog  [er  ist  bisher  nicht  aufgefunden  oder 
nachgewiesen]  ließ  dann  Carl  Gotthelf  drucken,  was  der  Brief  Gott- 
hold Ephraims  vom  9.  Juni  1768  lobte:  ,,Du  hast  wohlgethan,  daß 
du  den  Katalog  drucken  lassen.  Sobald  er  fertig,  schicke  mir  ein 
Exemplar,  und  ich  will  Dir  die  Preise  dabei  notieren,  für  welche  ich 
sie  lassen  will;  das  Journal  des  Savans  aber  nicht  unter  100  und  den 
Mercure  nicht  unter  60  Thaler."  Anfang  Oktober  wird  dann  wohl 
die  Versteigerung  stattgefunden  haben,  da  ein  Brief  Lessings  vom 
28.  Oktober  bereits  bei  seinem  Bruder  über  ihren  Rückstand  ver- 
ügte:  ,,Ich  habe  an  Herrn  Voß  geschrieben,  was  ich  mit  den  aus 
der  Auction  zurückgebliebenen  Büchern  zu  machen  wünschte,  be- 
sonders mit  dem  Journal  des  Savans  und  dem  Mercure.  Es  ist  zu 
spät  sie  hierher  kommen  zu  lassen.  Herr  Voß  wird  sie  also  wohl  nach 
sich  nehmen.  Mag  er  doch  auch  allenfalls  das  Journal  an  den  Grafen 
von  Anhalt  verkaufen,  was  dieser  dafür  geben  will."  Das  Ergebnis 
der  Berliner  Versteigerung  war  also  weit  hinter  den  Erwartungen 
Lessings  zurückgeblieben.  „So  wenig  er  daraus  lösete,  so  würde  es 
doch  noch  weniger  gewesen  sein,  wenn  nicht  aus  Warschau  für  die 
Zaluskische  Bibliothek  Bestellungen  eingelaufen  wären,  denn  in  Berlin 
war  niemand,  der  den  seltenen  Schund  erstanden  hätte."  [Carl 
Gotthelf  Lessing.]  Das  mag  neben  dem  Entschluß,  Hamburg  zu 
verlassen,  mitbestimmend  gewesen  sein  für  die  Eile,  mit  der  er  nun 
auch  die  Auflösung  seiner  in  Hamburg  befindlichen  Bücherei  ver- 
anlassen wollte,  so  daß  es  ihm  zu  spät  erschien,  die  beiden  zurück- 
erhaltenen Hauptwerke  der  in  Berlin  verkauften  nach  Hamburg 
kommen  zu  lassen.  Kurz  und  bündig  meldete  er  dem  Bruder  am 
24.  September  1768:    „Auf  dem  instehenden  Februar  gehe  ich  mit 

278 


18.  JAHRHUNDERT 

dem  ersten  Schiffe  von  hier  nach  Livorno  und  von  da  geraden  Weges 
nach  Rom.  Ich  verkaufe  alle  meine  Bücher  und  Sachen,  wovon  der 
Kiatalog  bereits  gedruckt  und  die  Auktion  auf  den  löten  Januar 
angesetzt  ist."  Aber  der  Katalog  war  damals  doch  noch  nicht  oder 
noch  nicht  zu  Ende  gedruckt,  denn  Mitte  Oktober  arbeitete  Lessing 
neben  der  „Hamburgischen  Dramaturgie**  noch  an  ihm.  Diesmal 
nahm  er,  nach  seiner  Fertigstellung  im  Dezember  1768  und  im 
Januar  1769  die  Versendung  selbst  in  die  Hand  und  verschickte  den 
[bisher  nicht  wieder  aufgefundenen]  Katalog  an  die  Bekannten  und 
Freunde.  Nicolai  sollte  den  Katalog  verteilen  helfen.  „Sie  werden 
besonders  vortreffliche  italiänische  Sachen  darin  antreffen,"  bemerkte 
er  ihm,  worauf  der  Berliner  Buchhändler  zurückschrieb:  „Schicken 
Sie  mir  ihren  Catalogus,  ich  will  ihn  bestens  bekannt  machen.  Haben 
Sie  nicht  den  Ricciardetto  italiänisch?  Ich  hätte  ihn  gern.**  Am 
29.  November  1768  gab  darauf  Lessing  die  Antwort:  „Meinen 
Catalogum  werde  ich  Ihnen  künftige  Woche  senden.  Den  Ricciar- 
detto habe  ich,  und  zwar  die  prächtige  Ausgabe  in  2  Octavbänden 
mit  Kupfern,  Lucca  66.  Es  war  eben  noch  Zeit,  ihn  aus  dem  Cata- 
logo  zu  lassen,  und  er  steht  für  das,  was  er  mich  kostet,  zu  Ihren 
Diensten.  Schreiben  Sie  mir  nur,  ob  ich  ihn  Ihnen  mit  der  Post 
senden  soll.'*  Auch  Rudolf  Erich  Raspe,  damals  noch  der  Direktor 
des  Kasseler  Münzkabinetts,  der  in  England  später  in  englischer 
Sprache  das  Münchhausenbuch  kompilierte,  sollte  mithelfen.  An 
ihn  wandte  sich  Lessing  mit  den  folgenden  Worten:  „Ehe  ich  von 
hier  wegreise,  lasse  ich  einen  Teil  meiner  Bücher  verauktionieren. 
Ich  nehme  mir  die  Freiheit,  Ihnen  einen  Catalogum  davon  zuzu- 
schicken; nicht  zwar  als  ob  ich  glaubte,  daß  Sie  etwas  für  sich  darin 
finden  würden,  sondern  weil  Sie  vielleicht  sonst  einen  Liebhaber 
wissen  möchten,  dem  einiges  daraus  anständig  wäre.  In  diesem  Falle 
würde  unser  Freund  Hr.  Meyer  die  Commission  gerne  übernehmen.** 
Johann  Andreas  Dieze  in  Göttingen  bemühte  er  am  5.  Januar  1769: 
„Jetzt  sende  ich  Ihnen  ein  Verzeichniß  von  Büchern,  deren  ich  mich 
hier  entlasten  muß,  weil  ich  Hamburg  und  Deutschland  in  einigen 
Monaten  zu  verlassen  gedenke.  Ich  bilde  mir  nicht  ein,  daß  für 
Ihre  öffentliche  Bibliothek  etwas  darunter  sein  sollte;  vielleicht  aber 

279 


DEUTSCHLAND 

sind  sonst  Liebhaber  in  Göttingen,  an  welche  ich  die  Exemplare  zu 
verteilen  bitte.  .  .  .  Von  den  spanischen  Comödien  habe  ich  hier 
eine  ansehnliche  Menge  zusammengebracht.  Denn  selten  ist  ein 
Hamburger,  der  sich  zu  Cadix  bereichert,  wieder  zurückgekommen, 
ohne  ein  paar  Comödien  mitzubringen.'*  Und  auch  die  Bestellungen 
kamen,  wie  die  Johann  Adolf  Eberts  aus  Braunschweig:  „Ja,  ich 
muß  etwas  von  Ihren  Büchern  haben,  obwohl  bei  uns  die  Zeiten  gar 
nicht  danach  sind,  daß  man  viel  Bücher  kaufen  könnte.  —  Seien 
Sie  so  gütig  und  lassen  meine  Commission  wohl  besorgen.  Diejenigen, 
denen  ich  ein  *  vorgezeichnet  habe,  möchte  ich  am  liebsten  haben. 
Sie  kennen  aber  die  Preise  der  Bücher  gewiß  besser  als  ich.  Wenn 
Sie  also  nötig  finden  hier  und  da  noch  etwas  hinzuzusetzen,  so  thun 
Sie  es.  Beim  Aristophanes  habe  ich  den  Preis  gar  weggelassen.  Sie 
werden  ihn  schon  nach  Ihrer  Billigkeit  bestimmen.  Andere,  außer 
den  Griechen,  gehen  vielleicht  wohlfeiler  weg.  .  .  .  Auf  die  französi- 
schen darf  ich  mir  wohl  am  wenigsten  Rechnung  machen,  da  sie  in 
Hamburg  verkauft  werden,  wo  es  so  viele  seinwollende  Kenner  giebt, 
welche  die  Bücher  noch  teurer  zu  bezahlen  pflegen,  als  sie  im  Laden 
kosten.'*  Anzeigen,  in  der  ,, Neuen  Hamburgischen  Zeitung"  dreimal 
bekannt  gemacht,  bestimmten  Ort  und  Zeit  der  Versteigerung:  „Auf 
den  Isten  des  instehenden  Februar  [1769]  und  folgende  Tage  soll 
auf  dem  Einbeckischen  Hause  allhier  eine  Sammlung  auserlesener 
Bücher  zur  classischen  Gelehrsamkeit,  der  Geschichte,  den  schönen 
Wissenschaften  und  der  Philosophie  gehörig,  verauctionieret  werden. 
Es  finden  sich  in  selbiger  nicht  allein  viele  der  schönsten  und  besten 
Ausgaben  der  alten  griechischen  und  lateinischen  Autorum,  sondern 
auch  die  vorzüglichsten  Schriftsteller  und  Dichter  der  lebendigen 
Sprachen,  nemlich  der  französischen,  italiänischen  und  englischen, 
wie  auch  sehr  viele  größere  historische  Werke  und  Sammlungen,  durch- 
gängig wohl  konditioniret,  zum  Teil  auch  sehr  sauber  und  prächtig 
gebunden."  Aber  die  beiden  Versteigerungen  von  1768  und  1769 
hatten  den  Büchervorrat  Lessings  immer  noch  nicht  erschöpft  und 
die  Verwertung  von  dessen  Resten  blieb  einer  dritten  vorbehalten. 
Für  sie  stellte  er  die  Berliner  Bücher  mit  den  übrig  gebliebenen  Ham- 
burgern zusammen.    Am  6.  Juli  1769  bat  er  den  Bruder:  ,, Notire 

280 


18.  JAHRHUNDERT 

mir  die  vorzüglichsten  nur  mit  einem  Worte  auf,  damit  ich  urteilen 
kann,  ob  es  sich  der  Mühe  verlohnt,  sie  hierher  kommen  und  verauc- 
tioniren  zu  lassen.  Ich  muß  alles  zu  Gelde  machen,  was  ich  noch 
habe;  und  auch  so  noch  werde  ich  meine  Reise  nur  kümmerlich  be- 
streiten können.''  Carl  Gotthelf  schickte  das  verlangte  Verzeichnis 
am  15.  Januar  1770  ein  und  versprach  die  Verschickung  der  Bücher, 
sobald  das  Wasser  aufgegangen  sei.  „Oder  verlangst  Du  sie  auf  der 
Achse  dahin,  so  darfst  Du  es  mir  nur  melden.  In  Berlin  haben  sie 
fast  keinen  Wert.**  Auch  für  die  dritte  Versteigerung  ist  ein  [bisher 
unaufgefundenes]  Verzeichnis  veröffentlicht  worden  und  auch  für 
sie  verwandte  sich  Lessing,  unter  dem  7.  Mai  1770,  bei  dem  Braun- 
schweiger Freunde  Ebert:  „Eben  besann  ich  mich  heute  morgen, 
daß  wir  schon  den  7ten  schrieben  und  daß  den  14ten  meine  Auction 
in  Hamburg  ist.  Geschwind  also  noch  ein  paar  Cataloges  zusammen- 
gepackt und  sie  an  Eberten  geschickt,  der  immer  klagt,  daß  er  kein 
Geld  habe,  und  doch  immer  Bücher  kauft,  als  ob  er  seines  Geldes 
kein  Ende  wüßte.  —  Ihr  unglücklichen  Leute,  die  ihr  noch  Geld 
für  Bücher  ausgeben  müßt!  Diese  Torheit  habe  ich  überstanden, 
und  ins  künftige  kann  ich  das  Geld,  das  ich  sonst  auf  Bücher 
wandte,  ver—  was  meinen  Sie,  was  ich  schreiben  wollte?  vertrinken? 
verspielen?  —  verhuren?  Wahrlich,  ich  wollte  schreiben:  vergraben. 
—  Wenn  Sie  Commissiones  nach  Hamburg  schicken  wollen,  so 
schicken  Sie  sie  doch  an  den  Auctionsschreiber  Koester,  wohnhaft  auf 
dem  Brauerknechtgraben.  Ziehn  —  um  mit  einem  Nürnberger  zu 
schließen,  bezieht  seine  Leute.**  Lessing  war  aller  Büchersorgen 
ledig.  Am  7.  Mai  1770  trat  er  sein  Amt  als  Bibliothekar  in  Wolfen- 
büttel an,  am  14.  Mai  1770  fand  die  letzte  der  Lessingversteigerungen 
statt  und  der,  dessen  Namen  sie  trug,  durfte  sich  erleichterten  Her- 
zens bekennen:  ,, Bücher  kann  ich  nun  am  Ersten  entbehren.** 
Ein  artiger  Zufall  wollte  es,  daß  die  235  Bände  des  Journal 
des  Savans  und  die  254  Bände  des  Mercure  de  France  auch  dies- 
mal ihn  nicht  verließen.  Die  Bibliothek  in  Wolfenbüttel,  die 
am  14.  Mai  in  Hamburg  für  175  Taler  16  gute  Groschen  kaufte, 
hatte  die  beiden  Reihen  sich  zugeeignet;  die  erstgenannte  für 
51  Taler  16  gute  Groschen,  die  andere  für  63^^  Taler.    Daß  bereits 

281 


DEUTSCHLAND 

Lessing  selbst  diesen  Auftrag  ausgefertigt  haben  sollte,  ist  freilich' 
nicht  anzunehmen.  Die  Anschaffungen  für  die  Bibliothek  in  Wolfen- 
büttel nahm  er  auf  eigene  Rechnung  vor;  er  sammelte  für  sie,  so 
auf  der  italienischen  Reise,  wie  für  sich  selbst;  und  der  Bibliophile 
Lessing  konnte  als  Bücherkäufer,  Bücherleser,  Büchernutzer  in 
den  elf  Jahren  seiner  amtlichen  Tätigkeit  fast  freier  schalten  als 
ehemals.  Dem  bibliothekarischen  Rechnungs-  und  Verwaltungs- 
wesen blieb  er  allerdings  fremd  und  im  wesentlichen  bestand  sein 
Büchernachlaß  aus  150  der  Bibliothek  in  Wolfenbüttel  entnommenen 
Druckwerken  und  30  ihr  gehörenden  Handschriften,  deren  Nach- 
weisung nach  seinem  Tode  noch  Schwierigkeiten  machte,  weil  er  sie 
ohne  Bemühung  des  Bibliotheksdienstes  der  eigenen  Verwahrung 
anvertraut  hatte:  auch  darin  ohne  alle  Pedanterie,  ohne  die  der 
Büchersammler  Gotthold  Ephraim  Lessing  gewesen  ist. 

Eine  ansehnliche  Bücherei  hatte  auch  der  Vater  Gotthold 
Ephraims,  der  Camenzer  Primarius  Johann  Gottfried,  die  nach 
dessen  Tod  aufgelöst  und  zerstreut  worden  ist,  während  sein  Bruder 
CarlGotthelf,  ebenfalls  schon  vor  seinem  Tode,  von  seinen  Büchern 
Abschied  nehmen  mußte,  bei  welcher  Gelegenheit  wohl  der  Brief- 
wechsel und  der  andere  handschriftliche  Nachlaß  des  Dichters  ver- 
zettelt worden  ist.  Der  Bestand  der  Bibliothek  des  ältesten  Sohnes 
Carl  Gotthelfs,  des  Kanzlers  Carl  Friedrich,  verbrannte  in  den 
wertvollsten  Teilen  1813.  Ein  Familienarchiv,  eine  Familienbibliothek, 
die  den  Grundstamm  einer  Lessing-Sammlung  hätten  bilden  können, 
waren  also  nicht  vorhanden,  als  der  Sohn  des  Kanzlers  aus  zweiter 
Ehe,  CarlRobert  Lessing [1827—1911]*  den  Plan  einer  Sammlung 
solcher  Art  zu  verwirklichen  begann.  Daß  deren  Richtpunkt  die 
Gestalt  des  berühmten  Ahnen  werden  mußte,  war  selbstverständlich. 
Da  jedoch  die  Bibliothek  des  dritten  Heros  der  deutschen  klassischen 
Literatur  sich  nicht  wie  diejenige  Goethes  [in  Weimar]  und  Schillers 
[in  Weimar  und  Hamburg]  ganz  oder  großenteils  erhalten  hatte, 
würde  es  ein  aussichtsloses  Beginnen  gewesen  sein,  eine  Rekon- 
struktion dieser  Privatbibliothek  aus  ihren  Bruchstücken  zu  unter- 
nehmen. Weniger  aussichtslos  erschien  es,  die  überallhin  zerstreuten 
Lessinghandschriften  zusammenzusuchen,  um  so  allmählich  einen 

282  *  Abb.  227 


18.  JAHRHUNDERT 

Mittelpunkt  ihrer  neuen  Vereinigung  zu  schaffen.  Damit  ließ  sieh 
der  Ausbau  eines  Familienarchivs  in  Zusammenhang  bringen  und  die 
Begründung  einer  Lessing-Bibliothek  im  weiteren  Sinne,  die  die 
Ausgaben  Lessingscher  Schriften  in  möglichster  Vollständigkeit, 
die  Bücher  über  Lessing  und  seine  Werke  in  einer  engeren  Auswahl 
enthalten  sollte.  Begünstigt  durch  Beharrlichkeit  und  Glück  konnte 
Carl  Robert  Lessing,  unterstützt  von  seinen  reichen  Mitteln,  das 
Sammlungsziel,  das  er  sich  gestellt  hatte,  in  wenigen  Jahrzehnten  er- 
reichen und  eine  Lessing-Sammlung  schaffen,  die  die  weitaus  be- 
deutendste ihrer  Sonderart  wurde.  Sie  läßt  sich,  mit  den  hier  not- 
wendigen engeren  Maßstäben  gemessen,  die  sich  vor  allem  aus  dem 
eben  angedeuteten  Schicksal  des  Gotthold  Ephraim  Lessingschen 
Nachlasses  ergeben,  den  Goethe-  und  Schiller-Archiv  in  Weimar 
vergleichen.  Damit  aber  gewann  die  Lessingsche  Privatbibliothek 
ihren  allgemeinen  nationalen  Wert.  Das  hat  auch  ihr  Erbe,  Carl 
Roberts  Sohn  Gotthold  Lessing  [1861—1919],  Rittergutsbesitzer 
zu  Meseberg  bei  Gransee,  wo  er  seine  eigene  kleinere  Büchersamm- 
lung aufstellte,  erkannt,  indem  er  für  ihre  Erhaltung  sorgte,  eifrig 
darauf  bedacht,  sie  als  Lessing-Sammlung  zu  vermehren  und  weiter- 
zuführen und  ihre  wissenschaftliche  Benutzung  durch  die  Druck- 
legung eines  Kataloges  zu  ermöglichen.  Anbauten  an  den  Grund- 
stock der  Lessing-Bibliothek  enthalten  die  nicht  zu  ihr  selbät  ge- 
hörenden übrigen  Teile  der  Büchersammlung  Carl  Robert  Lessings. 
Mehr  mit  behaglicher  Muße,  ohne  ängstlich  auf  Abrundung  und  Voll- 
ständigkeit bedacht  zu  sein,  hat  der  Sammler  auf  den  Gebieten  der 
deutschen  Dichtung  und  Geschichte  manches  schöne  Stück  noch  in 
die  Bändereihen  seiner  Schränke  aufnehmen  können.  Von  seinem 
Oheim,  dem  Justizkommissar  Christian  Friedrich  Lessing 
[1780—1850]  erbte  er  eine  stattliche  Anzahl  erdkundlicher,  geschicht- 
licher, naturwissenschaftlicher  Werke,  auch  englische  und  fran- 
zösische Literatur.  Besonders  ausgezeichnet  sind  die  aus  dieser 
Lessing-Sammlung  stammenden  Bücher  durch  ihre,  in  der  Ber- 
liner Buchbinderei  von  C.  W.  Vogt  ausgeführten  dunkelblauen  und 
grünen  Halbfranzbände.  Ein  Vorzug,  der  zumal  bei  wissenschaft- 
lichen deutschen  Büchern  aus  der  Zeit  jenes  Buchfreundes  recht 

283 


DEUTSCHLAND 

selten  ist.  Eine  abgerundete  Folge,  etwa  der  Hauptwerke  der  klassi* 
sehen  und  romantischen  Epoche  der  deutschen  Dichtung  in  ihren 
Urdrucken  lag  nicht  in  den  Absichten  Carl  Robert  Lessings.  Hätte 
er  sie  gehabt,  dann  hätte  er  für  die  Abgrenzung  des  Umfanges  seiner 
Büchersammlung  den  Maßstab  seiner  mitsammelnden  Zeitgenossen, 
etwa  den  seines  bibliographisch-bibliopolischen  Vertrauensmannes 
Wendelin  von  Maltzahn  anlegen  oder  sich  gar  mit  den  Biltz,  Heyse, 
Meusebach  und  anderen  in  die  früheren  Jahrhunderte  verlieren 
müssen.  Dafür  gab  er  das  in  aeinen  Tagen  in  Deutschland  ganz  un- 
gewöhnliche Beispiel  kostbarer  Liebhaber-Privatausgaben  in  den 
beiden  für  ihn  veranstalteten  Drucken  des  , Nathan^  [1881]  und  der 
,Minna  von  Barnhelm'  [1890].  Und  wenn  die  Grenzen  seiner  Hand- 
schriftensammlung weitere  wurden,  so  ergab  sich  das  aus  ihrem  Er- 
werb. Als  Carl  Robert  Lessing  am  28.  April  1876  von  dem  Berliner 
Numismatiker  Julius  Friedländer  die  Friedländersche  Handschriften- 
sammlung in  seinen  Besitz  bringen  konnte,  hatte  er  mit  diesem 
Familienerbgute  viele  Mappen  erstanden,  deren  erster  Besitzer 
noch  mit  dem  Dichter  des  Nathan  selbst  und  manchen  seiner  per- 
sönlichen Freunde  Beziehungen  unterhalten  hatte.  David  Fried- 
länder [1750-1834]  aus  Königsberg  i.  Pr.,  seit  1771  in  Berlin,  der 
Freund  Moses  Mendelssohns  und  der  Schwager  J.  [H]Itzigs,  be- 
kannt durch  seine  von  ihm  auch  als  Schriftsteller  erfolgreich  ver- 
tretenen Bestrebungen  zur  Emanzipation  des  Judentums,  kam  ein 
halbes  Jahrhundert  hindurch  in  mehr  oder  minder  enge  Berührungen 
mit  den  geistigen  und  künstlerischen  Größen  Deutschlands.  Da 
war  es  kein  Wunder,  daß  ihm  sich  aus  einem  solchen  Verkehr  seine 
Autogrammkollektion  fast  ganz  von  selbst  sich  bildete.  Sein  Sohn 
Benoni  Friedländer  [1773—1858]  hat  sie  in  einen  planmäßig  er- 
weiterten und  geordneten  Handschriftenschatz  verwandelt,  dabei 
aufs  tatkräftigste  von  seinem  Vater  unterstützt.  Weit  mehr  Ge- 
lehrter als  Kaufmann,  beschränkte  er  seine  Begeisterung  nicht  allein 
auf  Drucke  und  Handschriften.  Er  war  auch  ein  tüchtiger  Münzen- 
kenner, insbesondere  ein  Liebhaber  der  italienischen  Schaumünzen 
des  fünfzehnten  und  sechzehnten  Jahrhunderts  und  ist  auf  diesem 
Gebiet,  wie  es  Goethes  Briefwechsel  mit  Zelter  erläutert,  auch  mit 

284 


]8.  JAHRHUNDERT 

dem  Herrn  der  Sammlungen  des  Hauses  am  Frauenplan  in  einen 
Tauschverkehr  gekommen,  bei  dem  er  ein  wenig  den  Kürzeren  zog. 
Johann  Jacob  Engel  hatte  1795  mit  dem  leichten  Herzen  des  Philo- 
sophen für  die  Welt  Lessings  Handschrift  der  , Minna  von  Barn- 
helm* an  Benoni  Friedländer  verschenkt.  Die  Handschrift  des 
,,Laokoon*'  einschließlich  der  Vorarbeiten  und  Korrekturbogen  so- 
wie acht  Briefe  Lessings  hatte  Benoni  Friedländer  dazu  erwerben 
können.  Briefe  und  Briefreihen  des  Lessingkreises  schlössen  sich 
an;  der  Briefwechsel  seines  Vaters,  in  ihm  die  von  Goethe  an  diesen 
gerichteten  Briefe,  führten  die  Sammlung  bis  in  das  erste  Jahrzehnt 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  fort.  Von  seinem  Vater  erhielt 
Benoni  Friedländer  auch  eine  Urhandschrift  des  „Antimachiaveir' 
Friedrich  des  Großen,  die  jenem  von  dem  Berliner  Buchdrucker  Voß 
übergeben  worden  war.  Aber  Benoni  Friedländer  ist  trotzdem  kein 
ganz  konzentrierter,  kein  ganz  systematischer  Autogrammsammler 
gewesen.  Ihm,  dem  seine  Familienbeziehungen  und  Lebensverhält- 
nisse beim  Sammeln  unterstützten;  der  durch  den  1824  in  Paris 
verstorbenen  Dr.  med.  Michael  Friedländer  aus  den  Verbindungen 
dieses  dort  beliebten  Arztes  manches  schöne  Stück  erreichbar 
wurde;  dem  der  Geschäftsverkehr  seines  Vaters  gelegentliche  Ge- 
schenke gewann,  wie  die  der  Herzogin  Dorothea  von  Kurland, 
bildeten  sich  immer  neue  Richtlinien  zur  Vervollständigung  des 
Ganzen,  wenn  eine  neue  Provenienz,  z.  B.  die  von  ihrem  Arzte, 
dem  eben  erwähnten  Dr.  Friedländer,  gekommenen  Papiere  aus  dem 
Besitze  der  Madame  de  Stael,  dafür  neue  Ausgangspunkte  bestimm- 
ten. Und  ihm,  dem  von  Kants  Briefen  an  Marcus  Herz,  von  Mendels- 
sohns Handschrift  seiner  Psalmenübersetzung  und  von  dessen  Brief- 
wechsel mit  Lavater,  Bonnet  und  Herz  an  bis  zu  Nicolais  Brief- 
wechsel mit  Lavater  und  Wieland,  mit  Kleist,  Gleim,  Lichtenberg 
und  Johannes  von  Müller,  bis  zu  Gerstenbergs  Briefwechsel  mit 
Matthias  Claudius  und  Jacob  Friedrich  Schmidt,  bis  zu  den  Goethe-, 
Schiller-  und  Wilhelm  von  Humboldt-Briefen,  bis  zu  den  Hand- 
schriften der  Helden  des  Freiheitskrieges  und  E.  T.  A.  Hoffmanns 
Notatenbuch  in  reichster  Fülle  die  Handschriftenschätze  seiner 
eigenen  Zeit  zuflössen,  genügte  es  nicht,  sich  auf  sie  allein  zu  be- 

285 


DEUTSCHLAND 

schränken.  Auch  das,  was  im  bunten  Wechsel  eine  ferne  Vergangen- 
heit ihm  spendete,  barg  er,  gern  romantisch,  in  seiner  Schatzkammer: 
alte  Kaiserurkunden,  Humanisten-  und  Reformatorenbriefe,  Schrift- 
stücke von  der  Hand  in  der  Staatengeschichte  vorübergegangener 
Jahrhunderte  hervorragender  Persönlichkeiten  und  manches  andere 
ehrwürdige  Stück  noch,  das  schwarz  auf  weiß  ein  geschichtliches 
Zeugnis  ablegte.  Denn  noch  war  das  Autogrammsammeln  mehr 
sentimentalisch  als  systematisch  begründet. 

Als  Carl  Robert  Lessing  die  Friedländerschen  Handschriften 
mit  dem  Versprechen,  sie  zusammenzuhalten,  übernahm,  war  es 
ihm  klar,  daß  auch  ein  langes  Menschenleben  und  noch  so  reiche 
Mittel  nicht  ausreichen  würden,  sie  in  ihrer  vollen  Ausdehnung  weiter- 
zubauen. Hatte  er  doch  die  Sammlung  nicht  zum  wenigsten  ihres 
starken  Lessingstammes  wegen  erworben.  Ihn  zu  vergrößern  be- 
trachtete er  als  die  Hauptaufgabe,  deren  Lösung  ihm  zufiel.  Von 
acht  auf  achtzig  vermehrte  er,  keinen  hohen  Preis  scheuend,  die 
Zahl  seiner  Lessingbriefe,  die  er,  darin  weniger  glücklich  als  Vater 
und  Sohn  Friedländer,  bis  auf  einen  kaufen  mußte.  Den  Erwerb  der 
Briefe  Lessings  an  Elise  Reimarus  vermittelte  Christian  Redlich. 
Wie  denn  überhaupt  die  Lessingforscher  die  Bestrebungen  des  mit 
der  Mitteilung  seines  Besitzes  nicht  geizenden  Lessingsammlers 
durch  wertvolle  Winke  auf  günstige  Gelegenheiten  und  neue  Funde 
gern  unterstützten.  Von  den  Erben  des  Lichtenbergschen  Nach- 
lasses konnte  er  aus  ihm  die  Handschrift  der  drei  ersten  „Gespräche 
für  Freymäurer'*  zurückerwerben  —  so  darf  man  es  wohl  nennen, 
wenn  man  Carl  Robert  Lessing  als  den  Verwalter  des  handschrift- 
lichen Nachlasses  von  Gotthold  Ephraim  Lessing  gelten  lassen  will. 
Dazu  kamen  die  Handschriften  der  Oden  an  Gleim  und  Christian 
Ludwig  von  Kleist  nebst  anderen  Handschriftenblättern,  die  bei 
den  Händlern,  in  Verkaufs-  und  Versteigerungsverzeichnissen  aus 
dem  Dunkel  ihrer  Vergessenheit  wieder  auftauchten.  Auch  diesmal 
bewährte  sich  eben  die  magnetische  Kraft,  die  ein  Sammler,  der  ein 
Sondergebiet  ohne  ängstliche  Knauserigkeit  pflegt,  auf  den  Alt- 
büchermarkt ausübt,  in  ihrer  doppelten  Wirkung.  Die  Lessing- 
autogramme stiegen  zwar  rasch  in  ihrem  Liebhaberwerte,  aber  die 

286 


18.  JAHRHUNDERT 

hohen  Preise  lockten  dafür  auch  manches  bisher  unbeachtete  oder 
zurückgehaltene  Stück  aus  seinem  Versteck  hervor.  Wenn  Carl 
Robert  Lessing,  obschon  nicht  ausschließlich,  so  doch  mit  ständig 
angestrengtem  Eifer  ein  Menschenalter  hindurch  als  Autogrammlieb- 
haber sein  Sondergebiet  bestellte,  konnte  er  doch  hin  und  wieder  der 
Verlockung  nicht  widerstehen  —  und  welcher  Sammler  vermöchte  das 
wohl  —  sich  dieses  oder  jenes  Prachtstück  zu  sichern,  das  ihm,  den 
von  den  Händlern  umworbenen,  die  Gelegenheit  zuführte.  Und 
einmal  noch  hat  er,  obschon  seines  Verhältnisses  zur  , Vossischen 
Zeitung*  wegen  dabei  immerhin  im  eigenen  Kreise  bleibend,  den 
raschen  Griff  nicht  verschmäht,  als  er  eine  Handschriftenmasse  an 
sich  bringen  konnte,  die  seinen  Besitz  an  Autogrammen  der  Ro- 
mantikerepoche vorteilhaft  ergänzte.  Mit  den  Dichter-  und  Künst- 
lerbriefen aus  dem  Nachlaß  von  Friedrich  Wilhelm  Gubitz  [1786 
— 1870]  verschaffte  er  sich  den  Briefwechsel  eines  vielseitigen 
Mannes,  der  jahrzehntelang  seiner  buchgewerblichen  und  schrift- 
stellerischen Tätigkeit  wegen  weit-  und  wohlbekannt  gewesen  ist. 
Die  Bücher-  und  Handschriftensammlung  erweiterte  sich  durch  die 
Kunstsammlungen  zum  Lessing- Museum.* 

Unter  den  Gegnern  Lessings  war  wohl  Johann  Melchior 
Goeze  [1717—1786],  seit  1755  Hauptpastor  an  der  Katharinen- 
kirche  zu  Hamburg,  der  bedeutendste  Bibliophile.  Als  ,2^ons Wächter' 
ist  der  streitlustige  lutherische  Theologe  durch  seine  zahlreichen 
Polemiken  mit  Vertretern  der  Aufklärung  bekannt  geworden,  be- 
rühmt erst  durch  den  Fragmentenstreit  und  seine  ausgezeichnete 
Bibelsammlung.  Die  Ausgaben  des  Buches  der  Bücher  hatten  sich 
seit  dem  ersten  Bibeldruck  der  Gutenbergwerkstätte  immer  mehr 
verändert  und  vervielfacht;  Übersetzungen  in  zahlreichen  Sprachen 
waren  entstanden;  die  Beschäftigung  mit  der  Bibelbibliographie  war 
nicht  allein  für  die  Textkritik  wichtig  geworden,  sondern  auch  für 
dogmatische  Untersuchungen,  sie  bot  zudem  alle  Reize,  die  einen 
Sammler  kostbarer  und  seltener  Bücher  locken  können;  dazu  noch 
diesen,  eine  gewisse  Abrundung  und  Vollständigkeit  erreichen  zu 
lassen.  Von  allen  Seiten  betrachtet  verwies  sie  auf  eine  Sammler- 
aufgabe, deren  Lösung  lohnte.    Daß  gerade  die  Aufklärungszeit  die 

*  Abb.  228,  229  287 


DEUTSCHLAND 

bedeutendsten  Bibelsammlungen  in  Deutschland  entstehen  ließ, 
während  die  literarische  Polemik  in  den  Reformationsbibliotheken 
in  den  Vordergrund  getreten  war,  mag  vielleicht  auch  mit  der  ratio- 
nalistischen Wendung,  die  die  Theologie  nahm,  zusammenhängen. 
Aber  im  allgemeinen  sind  es  doch  wohl  die  antiquarisch-biblio- 
graphischen Rücksichten  gewesen,  aus  denen  derartige  Sammlungen 
zusammengebracht  wurden.  Daß  ihre  Sammler  selbst  meist  Theo- 
logen gewesen  sind,  denen  die  wissenschaftliche  Beschäftigung  mit 
der  Bibel  ohnehin  Pflicht  war,  brtaucht  auf  keine  bestimmten 
theologischen  Tendenzen  dieser  Sammlungen  hinzuweisen.  Mit  der 
Behaglichkeit,  mit  der  der  Hallenser  Bibelsammler  Siegmund 
Jacob  Baumgarten  [1706—1757]  diese  bibliographischen  Stu- 
dien trieb,  hat  freilich  Georg  Wolfgang  Panzer  [1729—1804], 
einer  der  ersten  deutschen  Bibliographen  wissenschaftlicher  Artung 
dem  Range  und  der  Zeit  nach,  nicht  gearbeitet.  Denn  wenn  der  [seit 
1772]  Schaffer  [oder  Hauptpastor]  in  Nürnberg  auch  seit  1789  Vor- 
steher des  Pegnitzer  Blumenordens  war,  als  Rammler  war  er  allem 
spielerischen  Treiben  fern.  Systematisch  suchte  er  die  ältere  deutsche 
Literatur  zu  durchforschen,  reiche  Ergebnisse  in  seinen  grundlegen- 
den Werken  lohnten  ihm  solches  Mühen.  Aus  seinem  Besitz  erwarb 
Karl  Eugen,  Herzog  von  Württemberg  [1728—1793]  1645 
Bibelausgaben  für  die  Bibelkollektion,  mit  der  er  seine  1765  in  Lud- 
wigsburg begründete  Landesbibliothek,  die  1775  nach  Stuttgart 
überführt  wurde,  ausstattete.  Der  Bibelsport  des  Herzogs  ist  von 
seinen  Zeitgenossen  ebenso  belacht  worden  wie  die  seinetwegen  aus- 
geführten Bibelreisen,  auf  denen  er  1784  in  Kopenhagen  die  Bibel- 
bibliothek des  dortigen  Pastors  Josias  Lork  erwarb  [5156  Aus- 
gaben]. Immerhin  ist  diese  Laune  des  Herzogs  wohl  diejenige  ge- 
wesen, die  die  am  meisten  nützliche  Leistung  lohnte.  Neben  der 
Bibelsammlung  in  Stuttgart,  die  im  achtzehnten  Jahrhundert  die 
größte  ihrer  Art  war,  blieben  die  kleineren  Privatbibliotheken  weit 
zurück.  Ebenso  wie  die  Bibelreihen  Goezes  sind  auch  die  des  Augs- 
burger Pfarrers  J.  A.  Steiner,  die  982  Bände  enthielten,  nach 
seinem  Tode  durch  eine  Augsburger  Versteigerung  im  März  1799 
wieder  zerstreut  worden. 

288 


18.  JAHEHU^NDEET 

Die  in  einem  gelehrten  Lebensberufe  tätigen  deutschen  Denk  er 
und  Dichter  verfügten  wohl  zumeist  auch  über  das  ihnen  notwendige 
Arbeitsmittel  einer  Bücherei,  ohne  deshalb  schon  zu  Sammlern  im 
engeren  Sinne  zu  werden.    Eine  um  so  bemerkenswertere  Ausnahme 
machte  hierin  Immanuel  Kant  [1724—1804].   Als  Magister  mußte 
der  Philosoph  in  den  ersten  Jahren  seiner  akademischen  Lehrtätig- 
keit seine  damals  ansehnliche  Bibliothek  nach  und  nach  veräußern. 
Wohl  deshalb,  und  vielleicht  auch,  weil  ihm  bei  der  Verwaltung  des 
Amtes   eines  zweiten  Aufsehers   der   Königlichen  Schloßbibliothek 
[1766—1772]  das  Vorweisen  von  deren  Seltenheiten  an  bloß  Neu- 
und   nicht  Wißbegierige   gegen   das   Buch    ,an  sich*   eingenommen 
haben  mochte,  hatte  er  späterhin  keine  Bibliothek  mehr  gesammelt ; 
wie  er  denn  auch  niemals  von  seiner  Bibliothek,  sondern  nur  von 
seinen  Büchern  zu  sprechen  pflegte.    Das,  was  Kant  lesen  wollte, 
erhielt  er  teils  von   seinen  Freunden,  teils  und  vornehmlich   von 
seinem  Verlegerund  ehemaligen  Schüler  Friedrich Nicolovius.    Dieser 
schickte  dem  Philosophen  immer  den  Meßkatalog  zu,  worauf  sich 
Kant  die  Bücher,  deren  Lektüre  er  wünschte,  notierte  und  nach  und 
nach  aus  dem  Laden  abholen  ließ.     In  den  letzten  Jahren  sein  es 
Lebens  las  er  mit  Vorliebe  ungebundene  Bücher,  obschon  er  die  von 
seinen  eigenen  Werken  verschenkten  Widmungsexemplare  in  einer 
verschiedenartigen  Einbandausstattung  verteilen  ließ:  teils  in  halb- 
englischen [Halbleder]bänden,  teils  in  Buntpapierpappbänden.    Die 
nicht  umfangreiche  Büchersammlung,  die  nur  sehr  wenige  neuere 
Werke  enthielt   außer  denen,  die  ihm  von  den  Verfassern  zugesan  dt 
wurden,   die  er  indessen  großenteils  an  seine   Freunde  weitergab, 
stand  in  einer  Kammer    bei  dem  Schlafzimmer  im  zweiten   Stock 
seines  Hauses.    Sie  zählte  bei  Kants  Tode  etwa  450  Bände  u  nd  ist 
in  der  Nachlaßversteigerung,  in  der  die  persönlichen  Andenken    an 
ihn  hoch  bezahlt  wurden,  zerstreut  worden. 

Nach  Hauptmahlzeit  und  Spaziergang  betrieb  Kant  seine  Lek- 
türe von  allerhand  Art  aus  allen  Fächern  zum  [pünktlichen]  T  ages- 
schluß  [um  zehn  Uhr]  seiner  sehr  geregelten  Lebensweise.  „  Nach 
6  Uhr  setzte  er  sich  an  seinen  Arbeitstisch,  der  ein  ganz  gewöhnUc  her, 
durch  nichts  sich  auszeichnender  Haustisch  war,  und  las   bis    zur 

BOGENG     19 


DEUTSCHLAND 

Dämmerung.  In  dieser,  dem  Nachdenken  so  günstigen  Zeit,  dachte 
er  dem  Gelesenen,  wenn  es  eines  besonderen  Nachdenkens  wert  war, 
nach;  oder  widmete  diese  ruhigen  Augenblicke  dem  Entwürfe  dessen, 
was  er  am  folgenden  Tage  in  seinen  Vorlesungen  sagen  oder  fürs 
Publikum  schreiben  würde.  Dann  nahm  er  seine  Stellung,  es  mochte 
Winter  oder  Sommer  sein,  am  Ofen,  von  welchem  er  durchs  Fenster 
den  Löbenichtschen  Turm  sehen  konnte.  .  .  .  Bei  Licht  setzte  er 
das  Lesen  fort  bis  gegen  10  Uhr.  Eine  Viertelstunde  vor  dem 
Schlafengehen  entschlug  er  sich  so  viel  als  möglich  alles  scharfen 
Nachdenkens,  und  jeder  auch  nur  kleine  Anstrengung  erfordernden 
Kopfarbeit,  um  nicht  durch  sie  aufgestört  und  zu  munter  zu  werden, 
denn  die  kürzeste  Verzögerung  des  Einschlafens  war  ihm  höchst 
unangenehm.'*  [E.  A.  Ch.  Wasianski.]  Dieser  bedachten  Diätetik 
des  Geistes  und  Hygiene  des  Lesens  —  Kants  Abneigung  gegen  blassen, 
schlechten  Druck  war  so  groß,  daß  er  einmal  beim  Anblick  eines 
eigenen  solcher  Art  vom  Buchdrucker  verunstalteten  Werkes  aus- 
rief: es  sei  abscheuUch,  daß  man  ihn  auf  diese  Weise  verhindere,  sich 
selbst  zu  verstehen;  wie  er  denn  auch  in  seiner  Schrift  von  der  Macht 
des  Gemütes  aus  dergleichen  Gesichtspunkten  die  Buchgestaltung 
geprüft  hat  —  entsprach  die  Verarbeitung  des  Gelesenen  zum  Wissen« 
Das  Arbeitsverfahren,  das  die  moderne  BibUothekstechnik  mit  der 
Kartothekstechnik  vereint,  um,  in  Anpassung  und  Ausbildung  des 
menschlichen  Denkens  und  Gedächtnisses,  die  Büchernutzung  aus- 
zuwerten, hatte  in  Kant  einen  seiner  ersten  Meister.  ,,Kant  besaß  ein 
seltenes  Sach-  und  Wortgedächtnis  und  eine  bewunderungswürdige 
innere  Anschauungs-  und  Vorstellungskraft  ...  Er  zitierte  oft 
lange  Stellen  aus  alten  und  neuen  Schriften,  besonders  aus  Dichtern, 
von  welchen  unter  den  neueren  Hagedorn  und  Bürger  am  meisten 
seinem  Gedächtnis  eingedrückt  zu  sein  schienen.  Ebenso  erinnerte 
er  sich  an  historische  Gegenstände  mit  der  größten  Genauigkeit.'* 
[R.  B.  Jachmann,  der  an  einzelnen  Fällen  diese  ausgebildete  Fähig- 
keit Kants  des  Lesers  erläutert.]  Man  kann  die  Methode  des  Philo- 
sophen, die  dem  ältesten  bekannten  griechischen  mnemotechnischen 
System  entspricht,  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Benutzung  der  Bücher 
und  einer  Bücherei  aus  L.  E.  Borowskis  Hinweis  kennen  lernen:   „In 

290 


18.  JAHRHUNDERT 

seinen  ersten  Magisterjabren  empfahl  er  uns,  die  wir  um  ihn  her 
saßen,  den  bis  dahin  etwa  eingesammelten  wissenschaftlichen  Voriat 
uns  als  zerteilt  in  verschiedene  Behältnisse  in  unserem  Kopfe  zu 
gedenken  —  und  dann,  bei  der  Lesung  eines  Buches  oder  Journals, 
in  welchem  eine  neue,  uns  bis  dahin  unbekannte  Idee  vorkäme, 
immer  die  Frage  zur  Hand  zu  haben :  In  welches  Fach  oder  Behältnis 
gehört  dies,  das  du  nun  eben  liesest,  hin,  —  wo  bringst  du  es  bin?  — 
Hierdurch  würde  das  Gelesene  oder  Neugelernte  sich  um  desto  un- 
auslöschlicher eindrücken;  wir  würden,  wenn  uns  auch  die  Idee 
selbst  in  der  Folge  entfiele,  doch  immer  uns  zurufen:  Hiervon  oder 
davon  ist  etwas  in  dieses  oder  jenes  Behältnis  reponiert  —  und  bei 
einiger  Anstrengung  würde  es  sich  alsdann  wohl  ganz  wieder  dar- 
stellen. Er  glaubte,  daß  solche  Rubrizierung  des  Neugelernten  auch 
zu  einem  gehörigen  Ordnen  unsers  Wissens  viel  beitrage.  —  ... 
Ebenso  angelegentlich  empfahl  er  uns  auch,  Miszellaneen  nach  den 
Wissenschaften  geordnet,  anzulegen,  um  auch  hierdurch  der  et- 
wannigen  Untreue  des  Gedächtnisses  zu  Hilfe  kommen  zu  können. 
Über  den  Nutzen,  den  ihm  selbst  seine  in  dieser  Art  frühe  schon  an- 
gelegten Sammlungen  geschafft  hätten,  sprach  er  sehr  gern.'*  Die 
ausschöpfende  Buchgelehrsamkeit  Kants,  der  Umfang  seines  Wis- 
sens, war  sehr  groß,  auch  er  durfte  noch  als  Polyhistor  gelten. 
„Kant  war  im  eigentlichen  Sinne  des  Worts  ein  Uni versialgelehrter . . . 
Er  hatte  die  ganze  klassische  Litteratur  der  Griechen  und  Römer 
vollkommen  inne  ...  Er  besaß  eine  umfassende  Altertumskunde 
aller  Völker  und  eine  ebenso  ausgebreitete  Kenntniß  der  alten,  neuen 
und  neuesten  Geschichte  und  vorzüglich  der  Erde  nach  ihren  ver- 
schiedenen Epochen.  Er  hatte  viele  statistische,  politische,  öko- 
nomische und  naturhistorische  Kenntnisse  eingesammelt.  Daß  er 
die  ganze  philosophische  Litteratur  alter  und  neuer  Völker  inne  hatte, 
daß  er  ein  großer  Mathematiker,  Physiker  und  Astronom  war,  wissen 
[wir]  aus  seinen  Werken,  aber  er  besaß  auch  ebensoviele  Kenntnisse 
in  allen  übrigen  Teilen  der  angewandten  Mathematik,  [eine]  vorzüg- 
liche Kenntnis  in  der  Chemie  ...  Er  hatte  auch  eine  ziemliche  Be- 
kanntschaft mit  der  neuern  ästhetischen  Literatur.  Mit  allen  diesen 
Wissenschaften    verband  er  noch  eine  genaue  Kenntnis  der  Reli- 

!»•  291 


DEUTSCHLAND 

gionsurkunden  der  Christen,  Juden  und  anderer  Völker  und  viele 
theologische  Gelehrsamkeit,  auch  hatte  er  viele  medizinische  Kennt- 
nisse eingesammelt.  Von  den  neuern  Sprachen  verstand  er  fran- 
zösisch, sprach  es  aber  nicht/'  Mag  dieser  Jachmannsche  Pane- 
gyrikus  auch  die  Fachgelehrsamkeit  des  Philosophen  überschätzen, 
so  läßt  er  dafür  deutlich  werden,  welche  Auffassung,  an  dem  Maß- 
stabe des  schärfsten  Denkers  seiner  Zeit  gemessen,  man  von  einer 
Universalgelehrsamkeit  hegte,  wie  sie  sich  auch  in  dem  Charakter 
der  größeren  Privatbibliotheken  ausprägte.  Wichtiger  noch  er- 
scheint Kants  Verhältnis  zur  Dichtung,  insbesondere  zu  der  seiner 
Gegenwart.  Denn  es  deutet  auch  für  die  BibUophilie  und  die  Biblio- 
theken Deutschlands  die  Grenzen  an,  die  die  alte  und  die  neue  Zeit 
trennten.  Hierüber  urteilte  Borowski :  „Er  schätzte  Wohlredenheit 
und  bedauerte  es,  diese  ebensowenig  als  den  klaren,  gleich  faßlichen 
Ausdruck  (den  er  auch  in  gelehrten  Vorträgen  eben  nicht  so  sehr 
nötig  hielt,  damit  dem  Leser  doch  auch  etwas  zu  eigenem  Nach- 
denken verbleibe)  sich  in  seinen  Schriften  ganz  eigen  machen  zu 
können.  Beredsamkeit  war  unserm  Kant  weiter  nichts  als  die 
Kunst  zu  überreden,  den  Zuhörer  zu  beschwatzen  .  .  •  Freund  war 
dagegen  unser  Kant  von  Sprachuntersuchungen,  von  Etymologi- 
sieren .  •  .  Auch  echte  Satiren  der  Älteren  und  Neueren  galten  bei 
Kant  sehr  viel.  Vom  Erasmus  von  Rotterdam  sagte  er  mehrmals, 
daß  dessen  Satiren  der  Welt  mehr  Gutes  gebracht  hätten,  als  die 
Spekulationen  der  Metaphysiker  zusammengenommen.  Liscov  .  .  . 
war  ihm  immer  noch  mehr  wert  als  der  spätere  Rabener  .  .  .  Freilich, 
in  den  letzten  Jahren  ging  ihm  Lichtenberg  noch  weit  über  seinen 
geliebten  Liscov.  Poesie  schätzte  er  sehr  hoch.  .  .  .  Außer  den  klassi-. 
sehen  Dichtern  des  Altertums  ^  .  .  war  ihm  Milton  und  Pope  vor- 
züglich lieb.  Das  verlorene  Paradies  des  erstem  hielt  er  für  wahre, 
ganz  eigentliche  Poesie  und  setzte  dabei  unsern  Klopstock  weit 
unter  Milton.  .  .  .  Unter  den  deutschen  Dichtern  befriedigte  ihn 
Haller  vorzüglich;  er  wußte  ihn  größtenteils  auswendig.  Späterhin 
las  er  gerne  einige  der  Meisterwerke  Wielands.  [Allerdings,  als  ihm 
Jachmann  noch  in  seinem  achtundsechzigsten  Jahre  den  Oberon 
zur  Lektüre  bringen  mußte,  konnte  er  an  ihm  doch  nicht  den  Ge- 

292 


18.  JAHRHUNDERT 

schmack  finden,  als  an  den  Göttergesprächen  und  früheren  sonstigen 
Werken  Wielands,  den  er  als  den  größten  deutschen  Dichter  zu 
rühmen  pflegte.]  Nur  von  Herders  Gedichten  und  auch  von  seinen 
prosaischen  Werken  nahm  er  weiter  keine  Notiz,  nachdem  er  dessen 
Ideen  zur  Geschichte  der  Menschheit  nicht  hatte  goutieren  können/* 
Da  Kant  [und  gleich  ihm  Schopenhauer]  der  Menschen-  und  Welt- 
kenntnis wegen  ein  eifriger  Zeitungsleser  gewesen  ist,  darf  es  nicht 
Zufall  genannt  werden,  daß  in  Borowskis  Zusammenstellung  Lessings, 
Goethes,  Schillers  Namen  nicht  erwähnt  sind.  Ebenso  wie  der  große 
König  in  Berlin  hat  auch  der  große  Philosoph  in  Königsberg,  trotz- 
dem sie  alle  beide  die  Dichtkunst  verehrten,  deren  Propheten  in 
ihrem  Vaterlande  nicht  würdigen  können.  Sie  haben  hier  das  ge- 
lobte   Land   nur  von   ferne    sehen   können. 

Die  Behaglichkeit  der  Bücherstube  eines  deutschen  Gelehrten 
im  achtzehnten  Jahrhundert,  der,  ohne  Amtspflichten,  nicht  seines 
Berufes  wegen,  sondern  in  sorgfältiger  Wahl  des  für  ihn  wichtigen 
die  Bändereihen  anwachsen  läßt,  die  für  seine  Bildung  zeugen,  gibt 
Goethe  in  den  Stimmungen  wieder,  in  denen  er  das  Arbeitszimmer 
seines  Vaters  als  des  Hauses  Heiligtum  beschreibt.  Der  auf  sein 
Ansehen  bedachte,  pedantisch  würdevolle  Herr  Rat,  der  nicht  zu 
sparen  brauchte,  ohne  darum  verschwenderisch  die  wirtschaftliche 
Ordnung  zu  stören;  der  sich  in  seiner  Beschränkung  als  Meister  ein- 
zurichten verstand,  lebte  in  einer  Epoche,  in  der  man  die  Perücke 
mit  dem  Zopf  zu  vertauschen  begann.  Der  Bürger  der  freien  Reichs- 
stadt mit  dem  kaiserlichen  Titel  hatte  nicht  den  Ehrgeiz,  in  seiner 
Liebhaberbücherei  im  Zeitgeschmack  weit  über  den  Gesichtskreis 
des  Juristen  hinauszuschauen,  aber  auch  nicht  das  Verlangen,  seinen 
Geist  in  der  Polyhistorie  zu  begraben.  Ja,  er  betrieb  sogar  die  schönen 
Wissenschaften  mit  einem  gewissen  weltmännischen  Wohlwollen,  aus 
dem  heraus  er  sich  als  ihr  Förderer  fühlen  mochte,  weil  er,  der  ernst- 
hafte Mann,  ihnen  die  Ehren  seiner  PrivQtbibliothek  gab,  in  der  alles, 
"das  Geringe  und  das  Große,  seinen  festen  Rang  hatte.  Vergleiche 
liegen  nahe,  weil  in  diesen  Räumen,  in  denen  wir  uns  noch  heute 
umsehen  dürfen,  ein  Genius  seine  Schwingen  entfaltete,  die  ihn  in 
die  Höhen  deutscher  Dichtung  tragen  sollten.*   Da  ist  es  gut,  sich 

*  Abb.  198  293 


DEUTSCHLAND 

einmal  zu  vergegenwärtigen,  wie  ein  Bibliophile  von  freiem  Blick 
und  umfassenden  Wissen,  der,  als  Dr.  Johann  Caspar  Goethe  seine 
Studien  beendete,  unter  den  Frankfurter  Gelehrten  führend  war, 
wie  Zacharias  Conrad  v.  Uffenbach  über  Belletristik  dachte.  Beim 
Anblick  des  Gestelles  mit  Romanen,  das  ihm  der  Abt  Molanus  in 
Hannover  zeigte,  entsetzte  er  sich,  weil  dieser  Vorrat  „seines  Be- 
dünkens  der  Gravität  eines  so  hohen  Alters  und  ansehnlicher  Würde 
ziemlich  entgegenlief' \  In  Vätern  und  Söhnen  trennt  sich  immer 
wieder  die  alte  von  der  neuen  Zeit.  Aber  die  Gegensätze,  die  zwi- 
schen Johann  Caspar  [1710—1782]  und  Johann  Wolf  gang  Goethes 
in  ihrer  Ursprünglichkeit  noch  vorhandenen  Privatbibliotheken  zu 
bestehen  scheinen,  sind  nicht  so  groß,  daß  sie  nicht  überbrückt 
würden  durch  eine  innere  Verwandtschaft  ihres  Wesens.  Nicht  die 
Rückentitel  veralteter  Werke  sprechen  zu  uns,  wenn  wir  vor  den 
beiden  Goethe-Büchereien  in  Frankfurt  oder  Weimar  stehen.  Des 
Lebens  ernstes  Führen,  an  das  sie  erinnern,  hat  ihnen  ihr  Gepräge 
verliehen.  Aus  den  Engen  deutschen  Geistes-  und  Schrifttums  ge- 
wann der  die  Weite,  dessen  Namen  sie  adelte.  Auch  in  Goethes  des 
Vaters  Bücherei  ist  schon  freiere  Luft  zu  spüren,  die  mit  einer  rasch 
aufstrebenden  Entwicklung  weht.  Ein  Eindruck,  den  in  den  Einzel- 
heiten zu  erörtern  eine  kulturhistorische  Mosaikarbeit  von  nicht 
geringer  Ausdehnung  werden  würde.  Hier  mag  der  Hinweis,  daß  sie 
auch  die  Bücherei  des  jungen  Goethe  war,  sie  als  Vorstufe  von  dessen 
eigener  Büchersammlung  hinreichend  erklären. 

Vergangenheit  war  die  friedliche  Stille  bei  Goethes  Großvater 
mütterlicher  Seite,  dem  Stadtschultheißen  Johann  Wolfgang 
Textor  [1693—1771].  „Seine  Bibliothek  enthielt  außer  juristischen 
Werken  nur  die  ersten  Reisebeschreibungen,  Seefahrten  und  Länder- 
Entdeckungen.**  Dagegen  war  das  Arbeitszimmer  des  Herren  Rat  im 
umgebauten  Wohnhause  noch  ein  der  Gegenwart  gehörender  Raum. 
„Das  erste,  was  man  in  Ordnung  brachte,  war  die  Büchersämmlung 
des  Vaters,  von  welcher  die  besten,  in  Franz-  oder  Halbfranzband 
gebundenen  Bücher  die  Wände  seines  Arbeits-  und  Studierzimmers 
schmücken  sollten.  Er  besaß  die  schönen  holländischen  Ausgaben 
der  lateinischen  Schriftsteller,  welche  er  der  äußeren  Ubereinstim- 

294 


18.  JAHRHUNDERT 

mung  wegen  sämtlich  in  Quart  anzuschaffen  suchte;  sodann  vieles, 
was  sich  auf  die  römischen  Antiquitäten  und  die  elegantere  Juris- 
prudenz bezieht.  Die  vorzüglichsten  italiänischen  Dichter  fehlten 
nicht,  und  für  den  Tasso  bezeigte  er  eine  große  Vorliebe.  Die  besten 
neuesten  Reisebeschreibungen  waren  vorhanden,  und  er  selbst 
machte  sich  ein  Vergnügen  daraus,  den  Keyßler  und  Nemeiz  zu 
berichtigen  und  zu  ergänzen.  Nicht  weniger  hätte  er  sich  mit  den 
nötigsten  Hilfsmitteln  umgeben,  mit  Wörterbüchern  aus  verschiede- 
nen Sprachen,  mit  Reallexiken,  daß  man  sich  also  nach  Belieben 
Rats  erholen  konnte,  so  wie  mit  manchem  andern,  was  zum  Nutzen 
und  Vergnügen  gereicht.  Die  andere  Hälfte  dieser  Büchersammlung, 
in  säubern  Pergamentbänden  mit  sehr  schön  geschriebenen  Titeln, 
ward  in  einem  besondern  Mansardzimmer  aufgestellt.  Das  Nach- 
schaffen der  neuen  Bücher,  so  wie  das  Binden  und  Einreihen  der- 
selben, betrieb  er  mit  großer  Gelassenheit  und  Ordnung.  Dabei 
hatten  die  gelehrten  Anzeigen,  welche  diesem  oder  jenem  Werk  be- 
sondere Vorzüge  beilegten,  auf  ihn  großen  Einfluß.  Seine  Sammlung 
juristischer  Dissertationen  vermehrte  sich  jährlich  um  einige  Bände.^^ 
Den  *achtunggebietenden  äußeren  Eindruck,  den  der  Knabe  von 
diesem  Bücherschatz  empfing,  hat  der  auf  sein  Leben  rückblickende 
Mann  sich  erhalten.  Erst  in  das  Bewußtsein  des  erwachenden  Dich- 
ters kam  die  Erkenntnis,  wo  die  Grenzen  lagen,  die  die  Sammlung 
seines  Vaters  gegen  das  Geistesland  seiner  eigenen  Generation  ab- 
schlössen; erst  im  zweiten  Buche  von  Dichtung  und  Wahrheit  werden 
die  deutschen  Schriften  erwähnt,  die  dem  Herrn  Rat  noch  genehm 
waren.  „In  meines  Vaters  Bibliothek  hatte  ich  bisher  nur  die 
früheren,  besonders  die  zu  seiner  Zeit  nach  und  nach  heraufgekomme- 
nen und  gerühmten  Dichter  gefunden.  Alle  diese  hatten  gereimt, 
und  mein  Vater  hielt  den  Reim  für  poetische  Werke  unerläßlich. 
Canitz,  Hagedorn,  Drolhnger,  Geliert,  Creuz,  Haller  standen  in 
schönen  Franzbänden  in  einer  Reihe.  An  diese  schlössen  sich  Neu- 
kirchs ,Telemach',  Koppens  ,befreites  Jerusalem^  und  andere  Über- 
setzungen. .  .  .  Eine  verdrießliche  Epoche  im  Gegenteil  eröffnete 
sich  für  meinen  Vater,  als  durch  Klopstocks  , Messias*  Verse,  die  ihm 
keine  Verse  schienen,  ein  Gegenstand  der  öffentlichen  Bewunderung 

295 


DEUTSCHLAND 

wurden.  Er  selbst  hatte  sich  wohl  gehütet,  dieses  Werk  anzuschaffen ; 
aber  unser  Hausfreund,  Rat  Schneider,  schwärzte  es  ein  und  steckte 
es  der  Mutter  und  den  Kindern  zu/'  Also  nicht  amusisch,  sondern 
ernsthaft  gebildeten  Geschmackes,  das  bezeugen  die  angeführten 
Namen,  hatte  Johann  Caspar  Goethe  ein  Ohr  auch  für  die  deutschen 
Dichterworte  seiner  Epoche  gehabt.  Die  neuen  Töne  hörte  er  nicht 
mehr,  wie  auch  seih  Sohn  im  Alter  sich  ihnen  verschloß. 

Von  den  ersten  Ausflügen  in  verbotenes  Bücherland  und  ihrer 
Verwirrung  in  unruhiger  Wißbegierde  bis  zu  den  ihr  entlehnten  Aus- 
gaben klassischer  Autoren,  die  nach  Straßburg  den  Studenten  be- 
gleiteten, ist  des  Vaters  Sammlung  für  Goethe  ein  Bildungsmittel 
von  außerordentlichem  Werte  gewesen,  die  einzige  Bibliothek,  die 
als  solche  seinem  Leben  nahestand.  Er  blieb  dem  Buche  zugetan, 
als  einer  Einzelerscheinung,  die  eine  Persönlichkeit  vertrat,  die  die 
Verkörperung  eines  Werkes  war;  er  schätzte  es  als  Handwerkszeug  und 
Hausgenossen,  aber  das  väterliche  Vorbild  ahmte  er  kaum  nach. 
Er  hinterließ  Bücher  in  nicht  geringer  Zahl,  eine  wohl  ausgemessene 
Bücherei  wie  die  im  Hause  auf  dem  Großen  Hirschgraben  in  Frankfurt 
am  Main  fehlte  in  dem  am  Frauenplan  in  Weimar.  Die  ehrenvoll  in 
Franzbände  mit  goldverzierten  Rücken  gekleideten  Werke  der 
Fleming,  Canitz,  Besser,  in  denen  das  Kind  einst  lesen  lernte;  die 
schönen  Globen,  die  die  Studierstube  des  Vaters  schmückten,  mit 
denen  spielend  er  die  Weltkugel  oft  genug  herumgedreht  hatte,  für 
ein  bewahrenswertes  Erbe  hielt  Goethe  sie  nicht.  Mochten  auch  die 
ungünstigen  Verhältnisse  es  ihm  verbieten,  den  Nachlaß  seines  Vaters 
an  sich  zu  ziehen  [Annalen  1794  und  1795],  Goethe  der  Sammler  und 
Goethe  der  Sohn  trennten  sich  von  ihm. 

Goethes  Vaterstadt  war  längst  ihre  Vormachtstellung  im  deut- 
schen Buchgewerbe  und  Buchhandel  von  Leipzig  abgewonnen 
worden,  als  der  junge  Student  den  Freuden  von  Klein -Paris  und 
der  Gelehrsamkeit  von  Pleiße- Athen  teilhaftig  wurde.  Zwar  hatte  der 
Besuch,  den  er  im  ersten  Stock  des  Goldenen  Bären  dem  Altvater 
Johann  Christoph  Gottsched  [1700—1766]  abstattete,  ihn  in 
den  Bezirken  von  dessen  ansehnlicher  Bibliothek,  die  schon  eine  zur 
Vergangenheit    werdende    Leipziger    Literaturherrschaft    repräsen- 

296 


18.  JAHRHUNDERT 

tierte,  nicht  heimisch  werden  lassen,  womit  er  dann  auch  den  Be- 
mühungen dieses  Mannes  um  die  bibliographische  Sammlung  älterer 
deutscher  Buhnendichtungen  fernblieb.  Dafür  kam  er  in  den  Bann- 
kreis der  Bibliophilie,  als  ihm  die  Besuche,  die  er  den  Besitzern  und 
anderen  Bewohnern  dieses  Hauses,  der  Breitkopfschen  Familie, 
machte,  ihn  mit  ihr  in  einen  näheren  freundschaftlich  geselligen 
Verkehr  brachten.  Der  goldene  Bär  war  das  Stammhaus  des  buch- 
gewerblichen Großbetriebes,  dessen  Gründer  Bernhard  Christoph 
Breitkopf  [1695—1777]  mit  seinem  zweiten  vielseitig  wissenschaft- 
lich gebildeten  Sohne  Johann  Gottlob  Immanuel  [1719—1794]* 
einen  in  der  Geschichte  des  Buchwesens  nachlebenden  Namen 
hinterließen.  Damals  baute  man  gerade  dem  alten  Geschäftshause 
gegenüber  ein  neues,  den  Silbernen  Bären,  und  Goethe  half  beim 
Umzüge.  Unter  den  reichen  Breitkopfschen  Sammlungen  fesselte 
ihn  eine  Weile  auch  die  Bücherei  Johann  Gottlob  Immanuels.  Dar- 
über heißt  es  in  , Dichtung  und  Wahrheit*:  „Von  einer  schönen  Bi- 
bliothek, die  sich  meistens  auf  den  Ursprung  der  Buchdruckerei  und 
ihr  Wachstum  bezog,  erlaubte  er  mir  den  Gebrauch,  wodurch  ich 
mir  in  diesem  Fache  einige  Kenntnis  erwarb.*'  Eine  besondere 
Teilnahme  für  die  Bestrebungen  des  jüngeren  Breitkopf,  der  der 
Buchvervollkommnung  als  Praktiker  und  Theoretiker  gleich  her- 
vorragend sich  widmete,  dessen  Büchersammlung,  ähnlich  der  seines 
gleichzeitigen  Kunstverwandten  Enschede  in  Haarlem,  eine  der  her- 
vorragendsten ihrer  Art  war,  klingt  aus  den  trockenen  Worten  nicht 
hervor.  Auch  keine  Begeisterung  für  die  Bibliophilie,  die  sonst  unter 
so  günstigen  Umständen  wachgerufen  sein  würde,  kann  der  Kom- 
mentator aus  ihnen  herauslesen.  Ein  Bibliophile  im  engeren  Sinne  ist 
Goethe  nicht  gewesen.  In  den  ,Bekenntnissen  einer  schönen  Seele' 
[Wilhelm  Meisters  Lehrjahre.  Sechstes  Buch]  ist  einmal  von  einer 
Idealbibliothek  die  Rede:  ,,Wir  bewunderten  die  Auswahl  und  dabei 
die  Menge  der  Bücher.  Sie  waren  in  jedem  Sinne  gesammelt;  denn 
es  waren  beinah  auch  nur  solche  darin  zu  finden,  die  uns  zur  deut- 
lichen Erkenntnis  führen  oder  uns  zur  rechten  Ordnung  anweisen; 
die  uns  entweder  rechte  Materialien  geben  oder  uns  von  der  Einheit 
unsers  Geistes  überzeugen.    Ich  hatte   in  meinem  Leben  unsäglich 

*  Abb.  196  297 


DEUTSCHLAND 

gelesen,  und  in  gewissen  Fächern  war  mir  fast  kein  Buch  unbekannt ; 
um  desto  angenehmer  war  mir's  hier,  von  der  Übersicht  des  Ganzen 
zu  sprechen  und  Lücken  zu  bemerken,  wo  ich  sonst  nur  eine  be- 
schränkte Verwirrung  oder  eine  unendliche  Ausdehnung  gesehen 
hatte/'  Anschaulichkeit  des  Schrifttums  ist  es,  das  die  Bächer- 
sammlung  vermittelt,  sie  ist  ,,die  Gegenwart  eines  großen  Kapitals, 
das  geräuschlos  unberechenbare  Zinsen  spendet/'  [Annalen  1801.] 
Die  Bibliothek  faßt  einen  Bücherschatz  in  seinem  geistigen  Ge- 
halt, indem  sie  eine  Form  schafft,  ihn  erkennend  zu  verstehen  und 
lesend  zu  verwerten.  Einer  sich  fortbildenden  Sammlung  soll  man 
ihre  Lebendigkeit  anmerken.  „Alle  Fächer  sind  in  Bewegung, 
überall  schließt  sich  etwas  Neues  an,  überall  fügt  sich*s  klarer 
und  besser,  so  daß  man  von  Jahr  zu  Jahr  den  schaffenden  und 
ordnenden  Geist  mehr  zu  bewundern  hat.''  Das  Beharren  im 
Engeren,  dem  die  Erfolge  von  Sondersammlungen  verdankt  wer- 
den, dieser  vielleicht  wertvollsten  Privatbibliotheken,  war  nicht 
der  Geschmack  Goethes.  Um  so  mehr  der,  aus  der  Gabe  der  Ge- 
staltungsfähigkeit und  Gestaltungsfreudigkeit,  die  ihm  im  hohen 
Maße  eigen  war,  Gewinn  zu  ziehen,  wo  es  galt,  die  fertigen,  großen 
Linien  zu  umreißen.  Sie  machte  es  ihm  auch  zum  Bedürfnis, 
die  Ausgestaltung  des  staatlichen  Büchersammelwesens  zielsicher 
zu  leiten.* 

Als  bedeutsamen  Anstalten  wissenschaftlicher  Arbeit  fehlte  daher 
den  öffentlichen  Bibliotheken  in  Sachsen- Weimar  die  Fürsorge  des 
Ministers  nicht.  Der  klare  Blick  auch  des  Beamten  Goethe  für  das 
wesentliche  und  —  mögliche  zeigte  sich  sehr  weitsehend,  wenn  er 
sogar  [in  dem  1795  in  der  Freitagsgesellschaft  „Über  die  verschiede- 
nen Zweige  der  hiesigen  Tätigkeit"  gehaltenen  Vortrag]  die  Arbeits- 
gemeinschaft als  die  Voraussetzung  einer  Zusammenfassung  dieser 
Sammlungen  bezeichnete:  „BilUg  ziehen  nun  auch  die  Bibliotheken 
unsere  Aufmerksamkeit  auf  sich.  Wir  haben  ihrer  viere,  die  hiesige, 
die  Jenaisch- Akademische,  die  Buderische  und  Büttnerische,  welche 
alle  der  Stiftung  der  Anstalt  und  dem  Platz  nach  wohl  immer  getrennt 
bleiben  werden,  deren  virtuale  Vereinigung  aber  man  wünscht  und 
man  sich  möglich  gedacht  hat.    Hiezu  die  nötigen  Vorkenntnisse  zu 

298  *Abb.204 


18.  JAHRHUNDERT 

sammeln  und  eine  so  schöne  Idee  der  Ausführung  näher  zu  bringen, 
würde  schon  allein  einer  literarischen  Sozietät  Beschäftigung  geben 
können.  Ein  Blick  auf  die  Privatbibliotheken  würde  dabei  nicht  ver- 
säumt werden.*'  Mit  solchen  Worten  umschreibt  Goethe  den  Pflich- 
tenkreis, den  ihm  das  Büchersammelwesen  des  von  ihm  geleiteten 
Staates  zog.  Die  Aufsicht  über  die  bibliothekarischen  Geschäfte  der 
Landesbibliotheken  in  Sachsen-Weimar  hat  er  erfolgreich  und  pflich- 
tenstreng geübt.  Den  Beamten  Goethe  zierte  seine  abwägende  Be- 
dachtsamkeit, Goethe  den  Sammler  kennzeichnete  seine  abwartende 
Gelassenheit.  Genießend,  sich  unterrichtend,  verlangte  er  nicht  danach, 
im  Sammlerehrgeiz  seinen  Stolz  zu  finden.  Er  hat,  soweit  er  auch  den 
Bereich  seines  Besitzes  an  sammelnswerten  Gegenständen  ausdehnte, 
ein  so  fleißig  vielseitiger  Sammler  er  auch  gewesen  ist,  nie  der  Samm- 
lung wegen,  sondern  immer  nur  seiner  selbst  wegen  gesammelt. 
Und  schon  deshalb  verlangte  er  nach  einer  geregelten  Ordnung,  war 
er  einem  Sammeltreiben  abhold,  das  mit  großangelegten  privaten 
Sammlungen  verbunden  zu  sein  pflegt.  Er  bedachte  nicht  einem 
alten  oder  neuen  Buche  Platz  und  Rang  in  der  Bücherei.  Es  kam, 
es  war  da;  eine  Begegnung,  aus  der  sich  viel  oder  wenig  machen 
ließ,  die  erneuert,  die  hingenommen,  die  vergessen  wurde,  je  nachdem. 
Sie  machte  nur  zornig,  wenn  sie  aufdringlich  die  Ordnung  störte. 
Goethe  vergaß  seine  Lebenskunst  auch  in  dem  Umgange  mit  den 
Büchern  nicht. 

Die  Bekanntschaft  mit  einem  beinahe  zum  Bibliomanen  ge- 
wordenen Bibliophilen,  dem  Polyglotten  und  Polyhistor  Ch.  W. 
Büttner  [1716—1801],  der,  bis  1782  in  Göttingen  Professor,  seitdem 
in  Jena  lebte,  bereitete  Goethe,  der  den  alten  Herrn  seiner  Kennt- 
nisse wegen  sonst  als  eine  lebendige  Bibliothek  schätzte,  nicht  allein 
manchen  kleinen  persönlichen  Verdruß  —  wenn  etwa  den  mit  der  Ge- 
schichte der  Farbenlehre  beschäftigten  ungeduldige  Mahnungen 
des  bereitwilligen  Bücherverleihers  Büttners  störten.  Entliehenes 
zurückzugeben  —  sondern  auch  vielen  Ärger  von  Amts  wegen,  weil 
ihn  [worüber  die  Annalen  berichten,  sowie  die  an  Voigt  in  der  zweiten 
Januarhälfte  1802  geschriebenen  Briefe]  von  Mitte  Januar  bis  Mitte 
Juni  1802  die  Büttnersohe  Nachlaßordnung  mit  einer  unerquick- 

299 


DEUTSCHLAND 

liehen  Aufgabe  beschäftigte.  Unklarheit  verwirrte  Goethe,  sie  be- 
leidigte sein  ästhetisches  Gefühl  für  das  ausgeglichene  Ebenmaß. 
Ausartungen  des  Sammeltriebes,  das  Verlieren  in  sinn-  und  zweck- 
losem Aufhäufen  an  sich  besitzenswerter  Bücher  mußte  gerade  den 
Sammler  Goethe  stören.  Ein  Ausdruck  dieser  Empfindungen  ist 
sein  Bericht  über  die  vom  Sachsen- Weimarischen  Staate  angekaufte, 
später  der  Jenenser  Universitätsbibliothek  einverleibte,  Bücher- 
sammlung Büttners:  „Der  Tod  des  Hofrats  Büttner,  der  sich  in  der 
Mitte  des  Winters  ereignete,  legte  mir  ein  mühevolles  und  dem  Geiste 
wenig  fruchtendes  Geschäft  auf.  Die  Eigenheiten  dieses  wunder- 
lichen Mannes  lassen  sich  in  wenige  Worte  fassen:  unbegrenzte  Nei- 
gung zum  wissenschaftlichen  Besitz,  beschränkte  Genauigkeitsliebe 
und  völliger  Mangel  an  allgemein  überschauendem  Ordnungsgeiste. 
Seine  ansehnliche  Bibliothek  zu  vermehren,  wendete  er  die  Pension 
an,  die  man  ihm  jährlich  für  die  schuldige  Summe  der  Stammbiblio- 
thek darreichte.  Mehrere  Zimmer  im  Seitengebäude  des  Schlosses 
waren  ihm  zur  Wohnung  eingegeben,  und  diese  sämtlich  besetzt  und 
belegt.  In  allen  Auktionen  bestellte  er  sich  Bücher,  und  als  der  alte 
Schloßvogt,  sein  Kommissionär,  ihm  einstmals  eröffnete,  daß  ein  be- 
deutendes Buch  schon  zweimal  vorhanden  sei,  hieß  es  dagegen,  ein 
gutes  Buch  könne  man  nicht  oft  genug  haben.  Nach  seinem  Tode 
fand  sich  ein  großes  Zimmer,  auf  dessen  Boden  die  sämtlichen  Auk- 
tionserwerbnisse partienweis,  wie  sie  angekommen,  nebeneinander 
hingelegt  waren.  Die  Wandschränke  standen  gefüllt,  in  dem  Zimmer 
selbst  konnte  man  keinen  Fuß  vor  den  andern  setzen.  Auf  alte  ge- 
brechliche Stühle  waren  Stöße  roher  Bücher,  wie  sie  von  der  Messe 
kamen,  gehäuft;  die  gebrechlichen  Füße  knickten  zusammen,  und 
das  Neue  schob  sich  flözweise  über  das  Alte  hin.  In  einem  anderen 
Zimmer  lehnten  an  den  Wänden  umhergetürmt,  planierte,  gefalzte 
Bücher,  wozu  der  Probeband  erst  noch  hinzugelegt  werden  sollte. 
Und  so  schien  dieser  wackere  Mann,  im  höchsten  Alter  die  Tätigkeit 
seiner  Jugend  forzusetzen,  begierig,  endlich  nur  in  Velleitäten  ver- 
loren .  •  ."  Eine  Verworrenheit,  deren  Beseitigung  bis  1804  an- 
dauerte, in  welchem  Jahre  die  Annalen  die  Büttnersche  Sammlung 
mit  einiger  Erleichterung  erwähnen;  und  deren  Rückerinnerung  für 

300 


19.  JAHRHUNDERT 

Goethe  zur  Vorstellung  der  Bücherwut  wurde.  Das  läßt  die  Be- 
sprechung des  ,,Bibliomane^'  von  Charles  Nodier  [Kunst  und  Altertum 
VI,  3  (1832)]  deutlich  erkennen,  in  der  die  Anschauungen  des  Dichters 
auch  über  die  Bücherliebhaberei  schlechthin  sich  deutlich  ausprägen; 
.  . .  ,,Das  Seltene  und  oft  Einzige  alter  Ausgaben  steigert  sich  derge- 
stalt in  einem  Liebhaber  solcher  Kuriositäten,  daß  es  zuletzt  in 
Wahnsinn  übergeht.. , . .  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  dergleichen  Lieb- 
habereien, wenn  sie  nicht  die  Organe  eines  höheren  Interesses  sind, 
immer  in  eine  Art  von  Verrücktheit  ausarten  .  .  .  Bei  Kupferstichen, 
besonders  eigenhändigen  Radierungen  der  Meister,  kommt,  genau 
besehen,  etwas  ähnliches  vor.  Doch  liegt  die  Entschuldigung  hier 
näher,  weil  zwischen  den  Exemplaren  meist  ein  großer  Unterschied 
stattfindet.^^  Die  Beziehungen  zwischen  Bibliographie  und  Biblio- 
philie  interessierten  den  Kunstfreund  wenig. 

Die  Bücherei  Goethes,  soweit  er  selbst  sie  zusammenbrachte, 
diente  seinen  fachwissenschaftlichen  Studien.  Wenn  er  aber  syste* 
matisch  sammelte,  wie  zur  Farbenlehre,  worüber  er  in  deren  Ge- 
schichte berichtete;  wenn  er  etwa  die  botanischen  Forschungen  auf 
Hand-  und  Hauptbücher  gründete,  auf  die  Vermehrung  des  ihm  un- 
entbehrlichen Vorrates  mineralogischer  und  anderer  naturwissen- 
schaftlicher Werke  bedacht  blieb,  dann  galten  alle  diese  Bemühungen 
nicht  geradezu  einer  Vervollkommnung  oder  Vervollständigung 
seiner  Privatbibliothek.  Mit  einer  bequemen  Buchleihe  gab  er  sich 
gern  zufrieden.  Man  kann  sagen  und  man  kommt  damit  ja  auch  den 
tatsächlichen  Verhältnissen  ziemlich  nahe,  daß  sich  Goethe,  seitdem 
er  in  Weimar  wohnte,  etwa  in  der  Lage  des  leitenden  Beamten  einer 
großen  öffentlichen  Büchersammlung  befand,  der  über  sie  mit  einiger 
Freiheit  verfügt.  Die  Äußerungen  der  Bibliophilie  Goethes  liegen  in 
seiner  bibliothekarischen  Tätigkeit  [wenn  es  erlaubt  erscheint,  sie 
so  zu  nennen],  in  derjenigen  Buchpflege,  die  dem  Buchwesen  über- 
haupt, nicht  lediglich  dem  öffentlichen  Büchersammelwesen  zugute 
kam.  Insbesondere  in  ihren  ökonomischen  und  technologischen  Be- 
ziehungen interessierte  dabei  den  Minister  das  Buchgewerbliche 
nicht  weniger  als  das  Wissenschaftliche.  Er  war  kein  Einbandlieb- 
haber und  -Sammler,  soweit  ihn  altes  Kunstgewerbe  reizte.   Aber  er 

301 


DEUTSCHLAND 

ergriff  die  Gelegenheit,  durch  ausländische  Muster  das  Gewerbe  in 
Weimar  zu  heben.  Sein  Briefwechsel  mit  Carl  August  zeigt,  wie  in 
solchen  Fällen  die  Absichten  beider  Freunde  sich  begegneten,  auch 
dem  Buche  in  ihrem  Lande  eine  ihm  günstige  Stellung  zu  verschaffen. 
Die  Bereicherungen  der  Bibliothek  Goethes  durch  Buchgaben  an 
den  weltberühmten  Dichter,  an  den  angesehenen  Gelehrten  und 
hohen  Staatsbeamten,  waren  nicht  gering.  Dergleichen  Geschenke 
erweiterten  ihren  Umfang,  vermehrten  ihren  Wert.  Und  die  liebe- 
volle Betrachtungsweise,  mit  der  sich  ihr  Empfänger  ihnen  zu  nähern 
verstand,  war  oft  genug  der  Anlaß,  die  Bibliophilie  Goethes  in  ihrer 
edelsten  Entfaltung  sich  offenbaren  zu  lassen,  wenn  er  an  der  Begeg- 
nung mit  einem  Buche,  an  einem  Bucherlebnis  die  Mitstrebenden,  die 
Nachwelt  teilnehmen  ließ.  Für  den  Umgang  mit  Büchern  ist  Goethe 
ein  unvergleichlicher  Lehrmeister,  die  Art,  in  der  er  Bücher  in  den 
Mittelpunkt  geselligen  Verkehrs  stellt,  um,  von  ihnen  ausgehend, 
zu  ihnen  zurückkehrend,  sie  in  einen  bedeutenden  Kreis  zu  schließen, 
kann  die  alte  Weisheit  erklären:  Der  Buchstabe  tötet,  aber  der  Geist 
macht  lebendig.  Goethe  verstand  es,  auch  aus  den  Büchern  Gewinn 
zu  ziehen,  die  von  anderen  gelesen  waren,  die  ihn  beratenden  Freunde 
für  sich  lesen  zu  lassen.  Will  man  dafür  das  Beispiel  eines  Biblio- 
philen anführen,  dann  ist  der  Name  eines  der  hervorragendsten 
deutschen  Büchersammler  des  achtzehnten  Jahrhunderts  zu  nennen, 
der  des  Berliner  Orientalisten  Diez. 

Heinrich  Friedrich  [seit  1786]  von  Diez  [1751-1817],*  von 
seinem  Ehrgeiz  getrieben,  von  seinem  linguistischen  Talent  unter- 
stützt, hatte  1784  das  Amt  des  Charg6  d'affaires  Preußens  bei  der 
Hohen  Pforte  erhalten,  das  er  mit  diplomatischer  GeschickUchkeit, 
zum  bevollmächtigten  Gesandten  und  außerordentlichen  Minister 
ernannt,  bis  1791  verwaltete,  in  welchem  Jahre  eine  durch  seine 
Türkenfreundlichkeit  veranlaßte  Übertretung  seiner  Instruktionen 
seine  plötzliche  Abberufung  herbeiführte.  Fortan  als  Geheimer  Le- 
gationsrat im  Ruhestande  lebend  —  er  hatte  sich  in  Konstantinopel 
ein  beträchtliches  Vermögen  erwerben  können — ,  widmete  er  sich  dem 
Ausbau  seiner  im  Osmanenreiche  mit  vielen  wichtigen  orientalischen 
Manuskripten  bereicherten  großen  Bücherei,  in  der  er  die  ihm  seinen 

302  *  Abb.  20S 


19.  JAHRHUNDEBT 

Forschungen  und  Veröffentlichungen  notwendige  Unterstützung 
fand.  Anfangs  auf  seinem  Landgute  bei  Potsdam  und  dann  in  Kol- 
berg wohnend,  siedelte  er  1807  nach  Berlin  über;  ein  großes  Haus 
machend  und  in  seiner  Haushaltung  nicht  ohne  Absonderlichkeiten 
die  östlichen  Gewohnheiten  zeigend.  Ein  in  jenen  Tagen  häufiger 
von  Männern,  die  lange  in  den  östlichen  Ländern  eine  Rolle  gespielt 
hatten,  gern  zur  Schau  getragener  Exotismus.  Der  Kunde  des  Mor- 
genlandes  dienten  seine  wissenschaftlichen  Arbeiten,  von  denen  das 
,Buch  des  Kabus*  [Berlin:  1811]  erheblichen  Einfluß  auf  den  West- 
östlichen Diwan  Goethes  gewinnen  sollte  und  eine  erst  mit  Diezens 
Tode  aufhörende  Verbindung  des  Dichters  mit  dem  Gelehrten 
knüpfte,  aus  dessen  Werken  jener  oft  „frische,  östliche  Luft  ge- 
schöpft". Die  BibHotheca  Dieziana,  17000  Bände  und  835  Hand- 
schriften, gelangte  als  Vermächtnis  ihres  Sammlers  in  die  König- 
liche Bibliothek  zu  Berlin,  in  der  sie  als  Ganzes  erhalten  wird. 

Die  leidenschaftliche  Bücherliebhaberei  des  preußischen  Diplo- 
maten fand  keinen  Vertreter  in  Weimar.  Amt  und  Beruf  ihrer 
schriftstellerischen  Tätigkeit  haben  Wieland,  Herder,  Schiller  dazu 
geführt,  die  Bücher  nicht  zu  vernachlässigen.  Chr.  M.  Wieland 
[1733—1813],  der  wohlhabendste  von  ihnen  und  derjenige,  der 
seinen  literarischen  Arbeitsbereich  am  weitesten  ausdehnte,  besaß 
auch  die  beste  Büchersammlung,  die,  ebenso  wie  J.  G.  Herders 
[1744 — 1803]  Privatbibliothek,  durch  eine  Versteigerung  zerstreut 
wurde,  indessen  der  Bestand  der  Bücherei  F.  v.  Schillers  [1759 
—1805],*  durch  Erbgang  geteilt,  nach  mannigfachen  Schicksalen 
in  seiner  Hauptmasse  zusammengeblieben  ist,  wenn  er  heute  auch 
an  zwei  verschiedenen  Stellen,  in  Hamburg  und  in  Weimar,  auf- 
bewahrt wird.  Gehütet  von  seinen  Enkeln,  blieb  mit  dem  Goethe- 
hause und  den  anderen  Goethesammlungen  auch  die  Bibliothek 
Goethes  erhalten,  soweit  nicht  einzelne  Stücke  aus  ihr,  teils  schon 
von  ihm  selbst  fortgegeben  [so  durch  seine  Beteiligung  an  einer 
Bücherversteigerung  in  Weimar  1799,  durch  die  er  den  Bestand 
seiner  BibUothek  stark  verringerte],  teils  späterhin  fortgekommen, 
in  den  Altbuchhandel  und  aus  ihm  in  die  Liebhaberbüchereien  ge- 
langt sind,  die  Goetheana- Kollektionen  kostbar  schmückend. 

*  Abb.  203  303 


DEUTSCHLAND 

Die  Verklärung  Goethes  zum  Heros,  begonnen,  als  er  noch  auf 
Erden  wandelte,  vollzog  sich  nach  seinem  Tode  nicht  in  einem  Auf- 
flammen der  Begeisterung,  sondern  in  einem  nach  und  nach  heller 
werdenden  Lichte.  Vielen  war  der  kluge  Kunstgreis  von  Weimar 
noch  eine  allzu  lebendige  Kraft,  deren  unmittelbare  Wirkung  spür- 
bar blieb.  Die  Beziehungen,  die  von  ihm  ausgingen,  die  zu  ihm 
und  seinen  Werken  zurückführten,  wurzelten  zwar  in  diesen.  Aber 
das  Bedürfnis  einer  bibliographischen  Reliquienbewunderung,  ohne- 
hin damals  in  Deutschland  wenig  entwickelt,  konnten  sie  nicht 
wachrufen,  weil  Ausgaben  der  gesammelten  Schriften,  von  Goethe 
selbst  besorgt,  noch  überall  vorhanden  waren;  weil  der  Abschluß 
der  Ausgabe  letzter  Hand,  die  annähernd  vollständig  alle  seine  Werke 
bekannt  machte,  erst  1842  erreicht  wurde.  Bis  sich  auf  sie  die  end- 
gültige Gesamtausgabe  gründen  konnte,  mußte  ein  halbes  Jahr- 
hundert verfließen,  in  dem  der  ästhetisierende  Goethekultus,  der  in 
engen,  einzelnen  örtlichen  und  persönlichen  Gemeinschaften  ge- 
pflegt wurde,  seine  allgemeine  Ausbreitung  in  der  Goetheliteratur, 
und  in  ihren  sicherer  bestimmbar  gewordenen  Verhältnissen  zur 
Literaturgeschichte  fand. 

Wenn  man  bedenkt,  mit  welcher  Achtsamkeit  Goethe  sein 
Aktenwesen  betrieb;  welche  Kennerschaft  und  Liebe  er  für  den 
Bilddruck  hatte;  wie  sehr  er  die  Handschriften  als  Persönlichkeits- 
Selbstzeugnisse  schätzte,  dann  darf  man  sich  immerhin  ein  wenig 
über  seine  Nichtbeachtung  des  Buches  als  Gegenstand  bildender, 
edler  Sammlerfreuden  verwundern.  Aber  sie  kann  ebenso  wie  die 
bibliographische  Rücksichtslosigkeit,  die  er  für  seine  eigenen  Schrif- 
ten hatte  —  ein  Umstand,  der  manche  Textverschlechterung  späterer 
Ausgaben  seiner  Werke  veranlaßte  —  kaum  allzu  schwierig  psycho- 
logisch zu  deuten  sein.  Der  schaffende  Schriftsteller,  der  von  Jugend 
auf  im  Überflüsse  seines  geistigen  Reichtums  wirkend  von  der  ab- 
geschlossenen Beschäftigung  mit  einem  eben  beendeten  Buche  sich 
neuen  Zielen  zuwendete;  der  es  von  Jugend  auf  erfahren  hatte, 
daß  Künstlertum  fortschreitendes  Überwinden  wird,  konnte  in 
einem  abgeschlossenen  Buche  nicht  die  endgültige  Lösung  er- 
blicken, selbst  sich  nicht  zur  Nachwelt  werden.     Deshalb  ist  nie- 

304 


19.  JAHRHUNDERT 

mals    ein    ausgezeichneter    Dichter   in    voller    Schaffenskraft   zum 
Sammler  seiner  eigenen  Schriften  geworden.    Eher  könnte  es  schon 
erstaunen,  daß  Goethe,  dem  die  Ausstattung  seiner  Bücher  nicht 
gleichgültig  war,    der   selbst  als   Radierer   sich   glücklich  versucht 
hatte,  zur  Buchkunst  kein  näheres  Verhältnis  finden  wollte.    Hier 
wirkte  der  Zeitgeschmack  ein,  der  nur  die  Einzelheiten  einer  solchen 
Kunst  erkennen  konnte,  weil  ein  buchgewerblicher  Tiefstand  die 
Auffassung    der    Buchherstellung   als    einer   notwendigen    Gesamt- 
leistung nicht  zuließ.    Goethe  hat  nicht  verkannt,    von  welchem 
nationalen  Wert  Sammlungen  sind,  die  die  Ausgabenreihen  bester 
Schriftsteller  einer  Sprache  vereinen;  er  hat  selbst  hervorgehoben, 
daß  auch  das  Zeitalter  deutscher  Dichtung,  in  dessen  Gegenwart  er 
lebte,  Aufgaben  stelle,  die  Büchersammlungen  lösen  müßten:    „Und 
nun  betrachte  man  die  Arbeiten  deutscher  Poeten  und  Prosaisten 
von  entschiednem  Namen !    Mit  welcher  Sorgfalt,  mit  welcher  Reli- 
gion folgten  sie  auf  ihrer  Bahn  einer  aufgeklärten  Überzeugung !    So 
ist  es  zum  Beispiel  nicht  zu  viel  gesagt,  wenn  wir  behaupten,  daß  ein 
verständiger,   fleißiger  Litterator  durch  Vergleichung  der  sämtlichen 
Ausgaben  unsres  Wielands,  eines  Mannes,  dessen  wir  uns,  trotz  dem 
Knurren  aller  Smelfungen,  mit  stolzer  Freude  rühmen  dürfen,  allein 
aus  den  stufenweisen  Korrekturen  dieses  unermüdet  zum  Bessern 
arbeitenden  Schriftstellers  die  ganze  Lehre  des  Geschmacks  würde 
entwickeln  können.   Jeder  aufmerksame  Bibliothekar  sorge,  daß  eine 
solche  Sammlung  aufgestellt  werde,  die  jetzt  noch  möglich  ist,  und 
das  folgende  Jahrhundert  wird  einen  dankbaren  Gebrauch  davon  zu 
machen  wissen.*'    [Literarischer  Sansculotismus.    1795.]    Ein  biblio- 
graphisches Kompliment,  dessen  Lehren  Goethe  indessen  aus  den 
eben  erwähnten  Gründen  eine  Anwendung  auf  die  eigenen  Schriften 
nicht  gegeben  hat;  ein  Umstand,  der  bereits  Eckermann  [gelegentlich 
der  Unterhaltung  am  31.  Januar  1830]  verwunderte:   „Wir  sprachen 
über  die  verschiedenen  Ausgaben  seiner  Werke,  wobei  es  mir  auf- 
fallend war,  von  ihm  zu  hören,  daß  er  den  größten  Teil  dieser  Edi- 
tionen selber  nicht  besitze.    Auch  die  erste  Ausgabe  seines  , Römi- 
schen Karnevals',  mit  Kupfern  nach  eigenen  Originalzeichnungen, 
besitze  er  nicht.    Er  habe,  sagte  er,  in  einer  Auktion  sechs  Thaler 

BOOENG   so  305 


DEUTSCHLAND 

dafür  geboten,  ohne  sie  zu  erhalten/'  Auch  des  Dichters  Freunde 
und  Mitarbeiter  in  seiner  Umgebung  sind,  mochten  sie  immerhin 
gelegentlich  einem  Blatte  oder  Buche,  die  selten  geworden,  nach- 
spüren; sich  an  den  Bereicherungen  erfreuen,  die  ihrem  Besitz 
die  Sendeblätter  und  sonstigen  Schriften  brachten,  welche  nach 
dem  Beispiele  Goethes  zu  einer  literarischen  Mode  des  Privat- 
drucks in  Weimar  wurden,  aus  der  sich  eine  Art  literarhistorischer 
Tradition  bildete,  nicht  die  ersten  Goetheana- Sammler.  Sie 
hatten  ja  noch  den  verehrten  Lebenden  vor  sich,  sie  wohnten  mit 
den  Erinnerungen  an  die  ihm  vorausgegangenen  großen  Männer 
Weimars  zusammen/  In  die  Ferne  brachten  nur  Brief  und  Buch 
ein  Persönlichkeitszeichen,  dort  war  der  Abstand  von  ihren  Ge- 
stalten, den  Klassikern  der  Nachwelt,  schon  viel  weiter.  — 

Unter  den  Goetheana-Sammlern  aus  des  Dichters  Verwandtschaft 
war  wohl  Johann  Friedrich  Heinrich  [Fritz]  Schlosser  [1780 — 
1852]  der  einzige,  der  hierbei  auch  der  Bibliophilie  und  nicht  nur  der 
Pietät  huldigte.  In  Frankfurt  a.  M.  als  Sohn  des  Hieronymus  Peter 
Schlosser,  des  Bruders  von  Goethes  Schwager  Georg,  geboren,  war  er 
seit  1803  als  Advokat,  seit  1806  als  vom  Fürstprimas  Dalberg  ernann- 
ter Stadtgerichtsrat  in  seiner  Vaterstadt  tätig,  entsagte  aber  bei  der 
Aufhebung  des  Großherzogtums  Frankfurt  diesem  Amte  und  trat  am 
21.  Dezember  1814  zur  katholischen  Kirche  über,  worin  auch  sein 
Glaubensbekenntnis  zur  Romantik  liegen  mochte.  Seitdem  lebte  er 
bald  in  Frankfurt,  bald  auf  Reisen,  bis  ihm  sein  1825  erworbenes, 
bei  Heidelberg  gelegenes  Landgut,  das  ehemalige  Stift  Neuburg, 
zum  eigentlichen  Wohnsitze  wurde.  Das  gastliche  Haus,  eine 
Stätte  edler  heiterer  Geselligkeit,  nahm  die  Sammlungen  Schlossers 
auf,  denen  durch  dessen  freundschaftlichen  Beziehungen  zu  Dichtern 
und  Künstlern  der  Romantik  manchse  kostbare  Blatt  und  Buch 
zukam.  Auch  Frau  v.  Willemer,  der  einmal  der  Hausherr  mit  seiner 
Übersetzung  des  „Freudvoll  und  leidvoU"  in  zwölf  Sprachen  huldigte, 
zeigte  sich  gern  und  oft  in  dem  im  zwölften  Jahrhundert  begründeten 
Klosterbau.  Als  Goethe  seine  Frankfurter  Vermögensangelegenheiten 
ordnete,  hatte  Fritz  Schlosser  ihm  die  hilfreichsten  Dienste  geleistet; 
und  bei  den  Erwerbungen,  die  der  Dichter  in  Frankfurt  für  seine 

306  *  Abb.  199,  200,  212 


\ 


19.  JAHRHUNDERT 

Kunstsammlungen  machte,  war  er  ihm  ein  geschäftskundiger,  sach- 
verständiger Vermittler  gewesen,  wofür  den  immer  Hilfsbereiten 
das  Kügelgen-Porträt  mit  einer  in  den  Rahmen  geschnitzten  Wid- 
mung lohnte.  Weit  entfernt  von  einseitiger  Frömmelei,  ein  geist- 
reicher Mann,  bewahrte  Schlosser  sich,  wenn  auch  in  den  eigenen 
Schriften  ihm  nicht  folgend,  eine  echte  Verehrung  Goethes,  wie  sie 
ein  Brief  an  Boisseree  aussprach:  ,,Von  unserer  Kindheit  an  hatte 
Goethes  Gestirn  mit  immer  gleichem  Glänze  über  uns  gestrahlt; 
Generationen  waren  neben  ihm  aufgeblüht  und  dahingewelkt, 
manches  schon  aufstrebende  Talent,  manches  reiche  Gemüt  hatte 
sich  wenigstens  in  Perioden  der  Entwicklung  an  ihn  gerankt  und 
seine  Einwirkungen  aufgenommen  und  wie  manche  der  uns  Teuersten 
deckt  längst  das  Grab,  während  wir  uns  gewöhnt  haben,  dem  alten 
Heros  gewissermaßen  eine  Art  physischer  Unsterblichkeit  beizu- 
legen. In  ihm  und  dem  im  verflossenen  Jahre  geschiedenen  Minister 
von  Stein  starben  die  beiden  kräftigsten  Heldennaturen,  die  mir 
im  Leben  begegnet.'*  Die  von  Schlosser  angelegte  Sammlung  der 
Erstausgaben  Goethescher  Schriften  schenkte  seine  Witwe  mit 
seiner  Privatbibliothek  dem  Bischöflichen  Seminar  zu  Mainz;  die  an 
ihn  gerichteten  [1877  von  Julius  Frese  veröffentlichten]  49  Briefe 
Goethes  sind  1913  versteigert  worden. 

Auch  in  den  Berliner  biedermeierischen  Salons,  denen  der  Rahel 
von  Varnhagen,  der  Bettina  von  Arnim  blieb  das  Bild  Goethes,  an 
das  man  wenigstens  die  Behauptung  einer  geistigen  Verwandtschaft 
zu  knüpfen  wünschte,  noch  eine  Erinnerung  an  den  Menschen, 
dessen  persönlicher  Bekanntschaft,  und  sei  es  auch  nur  durch  einen 
abwehrenden  Brief  mit  seiner  eigenhändigen  Unterschrift,  man  sich 
zu  rühmen  wußte.  Hier,  wo  Rahel  für  Goethe  warb.  Bettine  ihn  in 
ihrem  Briefwechselbuche  dichterisch  selbstgefällig  verklärte;  wo  das 
Denkmal  der  Freundschaft,  das  Goethe  sich  und  Zelter  errichtet 
hatte,  erschien,  das  erste  hervorragende  Werk  einer  biographisch 
dokumentierenden  Goethe- Literatur  [denn  die  Ausgabe  des  Goethe- 
Schillerschen  Briefwechsels  hatten  letzten  Endes  bestimmte  künstle- 
rische Ursachen  veranlaßt]  wurde  auch  das  erste  Verzeichnis  einer 
bestehenden  Goethebibliothek  von  deren  Sammler  Alfred  Nicolo- 


20< 


307 


DEUTSCHLAND 

vius,  Goethes  Schwesterenkel,  herausgegeben:  Verzeichnis  einer 
Sammlung  der  Goethe'schen  Werke,  der  sich  auf  sie  be- 
ziehenden Schriften  und  Kupfer.  [Berlin,  1826,  Gedruckt 
bei  C.  Fr.  Amelang  (Brüderstraße  Nr.  11)].  Die  sechzehn  Seiten 
dieses  Oktavbogens  sind  die  erste  Goethebibliographie.  Die  überall- 
her vordringenden  Quellen  beginnen  in  den  Ozean  des  Goethe- 
namens zu  münden,  sich  in  ihm  zu  vereinen.  „Ganz  allein  aus 
Goethe  läßt  sich  schon  ein  Leben  führen,  eine  Literatur,  ein  Zeit- 
alter aufbauen;  und  was  haben  wir  nicht  alles  außer  ihm!  ja  hätten 
wir  ihn  noch  nicht,  wie  hätten  ihn  doch  schon,  denn  er  ist  vorbe- 
reitet durch  alles  Frühere,  das  in  ihm  zur  Blüthe  wird,  zur  Frucht !" 
—  schrieb  am  6.  Juli  1851  K.  A.  Varnhagen  von  Ense  über  Goethe, 
den  Klassiker,  in  sein  Tagebuch. 

Um  1850  war  bereits  die  Goethe- Literatur,  sich  vermehrend, 
vervielfachend,  zerstreuend,  zur  Goethe- Literaturgeschichte  geworden, 
die  die  Gestalt  des  Klassikers  allseitiger  zu  betrachten  sich  mühte; 
allmählich  sich  zur  Goethe-Philologie  umbildend,  weil  man  zu  er- 
kennen anfing,  daß  die  Persönlichkeit  dieses  großen  Mannes  erst  aus 
seiner  Schöpfung  verständlich  werde,  aus  den  sämtlichen  Werken 
des  reichen,  aber  auch  reichhaltigen  Schriftstellers.  Der  Dichter, 
entfremdet  dem  Zeitgeschmack  erscheinend;  der  Mensch,  nicht 
mehr  in  Haß  und  Liebe  umkämpft,  zeigte  sich  kritischen  Maßstäben 
erreichbar,  die  eine  Umgrenzung  seiner  Werdens,  Wesens,  Wirkens, 
WoUens  versuchten.  Dabei  erwies  sich,  daß  die  abschließende  Samm- 
lung seiner  Schriften  nur  einen  Anfang  bezeichnete,  die  gewaltigste 
Hinterlassenschaft  eines  deutschen  Schriftstellers  neuer  Zeit  zu 
bergen.  Gewaltig  nicht  allein  nach  ihrem  Umfang  und  ihrem  Wert; 
gewaltig  auch  nach  dem  Bereiche  des  Lebenskreises,  dessen  be- 
stimmender Mittelpunkt  Goethe  war.  Die  Beziehungen,  die  von  ihm 
ausgingen  und  auf  ihn  zurückführten,  in  ein  richtiges  Verhältnis  zu 
seinem  Werk  zu  bringen,  wurde  zu  einer  Aufgabe  kritischer  Be- 
sonnenheit, wofern  man,  um  den  Dichter  zu  verstehen,  in  Dichters 
Lande  gehen  wollte.  Eine  stille  Gemeinde,  die  gegen  die  herrschende 
öffentliche  Meinung  sich  wehrend,  mit  ihrer  Verehrung  Goethes  für 
die  erneuerte  Anerkennung  seiner  Machtstellung  im  deutschen  Geistes- 

308 


I 

I  "  Abb.  226 


19.  JAHRHUNDERT 

leben  sich  verband,  mußte  sammelnd  in  Goethes  Schatzkammern 
verweilen,  um  deren  Überfluß  ordnend  zu  verteilen.  Bahnbrechend 
ist  deshalb  Hirzel,  der  bedeutendste  Goetheana-Sammler  dieser 
Zeit,  mit  den  ihm  folgenden  Forschern  für  die  Goethebibliographie 
geworden.  Sie  war  für  den  stolzen  Aufbau  einer  endgültigen  Ausgabe 
von  Goethes  Werken,  der  erst  möglich  wurde,  nachdem  das  Erbe 
des  Hauses  am  Frauenplan  dem  deutschen  Volke  sich  erschlossen 
hatte,  das  Gerüst,  das  die  Vollendung  dieses  Buchdenkmals  sicherte. 
Salomon  Hirzel  [1804—1877],*  einer  im  Kanton  Zürich  ver- 
breiteten Familie  entstammend,  kam  1830  nach  Leipzig,  wo  er  mit 
seinem  Schwager  Karl  Reimer  die  seinem  Schwiegervater  gehörende 
Weidmannsche  Buchhandlung  erwarb,  die  seit  der  Mitte  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  zu  den  führenden  deutschen  Verlagsanstalten 
gehörte.  Als  er  dann  1853  unter  eigenem  Namen  einen  neuen  Ver- 
lag gründete,  übernahm  er  nicht  nur  einen  Teil  der  alten  Verlags- 
bestände der  Weidmann-Firma,  sondern  verstand  es  auch,  ihm  rasch 
eine  eigene  Geltung  zu  geben.  Das  Wagnis  des  Deutschen  Wörter- 
buches der  Brüder  Grimm,  in  dem  die  erste  Epoche  der  deutschen 
Germanistik  gipfelte,  fand  in  ihm  den  kräftigsten  Förderer.  Doch 
wenn  er  auch  verständnisvoll  den  früheren  Jahrhunderten  des  deut- 
schen Schrifttums  gegenüberstand  und  in  seiner  1886  versteigerten 
Bücherei  sich  dessen  wertvollste  Leistungen  lesend  und  sammelnd 
aneignete  —  dem  Schweizer  Hirzel  gelang  es,  eine  kostbare  Reihe 
der  Schriften  Zwingiis  zusammenzustellen,  die  er  der  Universitäts- 
bibliothek Zürich  hinterließ  —  wenn  er  auch  dem  werdenden  neuen 
deutschen  Reich  ebenso  hingebend  als  Buchhändler  diente,  wie  er 
der  Allgemeinheit  des  deutschen  Buchhandels  nie  seine  Unter- 
stützung versagte:  seine  eigentliche  Vorliebe  blieben  doch  Goethe 
und  die  Seinen;  er  selbst  einer  der  ersten  unter  den  Goethe- Forschern 
aus  Goethe- Verehrung,  der  mit  den  Verzeichnissen  seiner  sehr  voll- 
ständigen Goethebibliothek,  die  er  samt  seinen  Goethehandschriften 
der  Leipziger  Universitätsbibliothek  vermachte,  zum  Begründer  der 
Goethebibliographie  in  einem  höheren  wissenschaftlichen  Sinne 
wurde,  um  die  sich  mit  ihm  gleichstrebende  Bibliophilen  mühten, 
unter  denen  noch  ein  anderer  Schweizer  hervorgetreten  ist. 

309 


DEUTSCHLAND 

Edward  Dorer-Egloff  [1807—1864],  Landammann  von 
Baden  im  Kanton  Aargau,  hatte  in  seiner  [4083  Nummern  zählenden] 
Bücherei  das  schönwissenschaftliche  Schrifttum  aller  Völker  und 
Zeiten  zusammenstellen  wollen,  aber  Goethe  wurde  doch  auch  für 
ihn  der  Mittelpunkt  dieses  weit  ausgedehnten  Kreises.  Die  Be- 
ziehungen, die  ihm  sein  Plan,  Deutschland  und  die  Schweiz  literarisch 
zu  vermitteln,  überallhin  geschaffen  hatten,  wuchsen  sich  allmählich 
zu  einem  Briefwechsel  des  Sammlers  aus,  der  persönliche  Anknüp- 
fungen suchte,  um  auf  damals  schon  erforderlichen  Umwegen  in  die 
Goetheana- Verstecke  zu  gelangen.  Fr6d6ric  Soret  ebnete  ihm  die 
Wege  nach  Weimar,  wo  besonders  der  Besitz  des  Bibliothekssekretärs 
E.  Kräuter  an  Goetheanis  seinen  eigenen  wertvoll  bereicherte.  Bei 
seinen  Schillersammlungen  stand  ihm  beratend  Joachim  Meyer  in 
Nürnberg  zur  Seite,  dessen  „Beiträge"  zur  Feststellung  des  Schiller- 
schen  Textes  1858—1860  die  Bibliographie  von  Schillers  Schriften 
gesichert  hatten.  Abe.^  der  mit  diesem  Eifer  glücklich  der  Voll- 
endung entgegengefühlten  Bücherei  war  keine  Dauer  beschieden. 
Am  14.  Dezember  1868  wurde  sie  bei  T.  0.  Weigel  in  Leipzig  ver- 
steigert. Man  muß,  wenn  man  das  Sammeln  der  Freunde  deutscher 
Dichtung  um  die  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  richtig  schätzen 
will,  berücksichtigen,  daß  sie  sich  noch  einer  behaglichen  Muße  be- 
fleißigen konnten.  Denn  sehr  viele  der  von  ihnen  begehrten  Bücher 
waren  allenthalben  auf  dem  Büchermarkt,  ja  sogar  noch  bei  den 
Verlegern  zu  finden  —  ein  Teil  der  Goethe-  und  Schiller- Urausgaben 
ist  erst  im  zwanzigsten  Jahrhundert  vergriffen  worden  —  und  zwar 
zu  ganz  geringen  Preisen.  Die  Funde,  die  man  in  der  stillen  Gemeinde 
zu  machen  hoffte  und  wünschte,  waren,  abgesehen  von  einigen  be- 
kannten Seltenheiten,  Abzüge  außergewöhnlicher  Art  und  Hand- 
schriften. Wie  man  denn  überhaupt  noch  weit  weniger  methodisch 
und  systematisch  sammelte,  als  mit  genießender  Regsamkeit.  Der 
Gedanke  einer  nahezu  unbegrenzten  Vollständigkeit  des  Erstdruckes, 
den  etwa  Hirzel  bibliographisch  vertrat,  führte  weit  über  die  Buch- 
veröffentlichungen hinaus.  Hier  zogen  sich  von  selbst  die  Grenzen 
wieder  zusammen.  Daß  man  damals  bei  der  Anwendung  einer  ausge- 
bildeten Sammeltechnik  rasch  zum  Tiele  gelangen  konnte,  bewies  der 

310 


19.  JAHRHUNDERT 

hervorragendste  deutsche  Altbuchhändler  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts, Albert  Cohn  [1827—1906],*  der  seine  1859  begonnene 
Reihe  sämtlicher  Urausgaben  von  Goethes  und  Schillers  Werken  in 
zwölf  Jahren  vollendete,  zeigte  der  Freiherr  Wendelin  von  Malt- 
zahn  [1815—1889],  der  trotz  seiner  geringen  Mittel,  die  ihn  zum 
literarischen  Agenten  reicherer  Sammler  werden  ließen,  den  Bereich 
der  eigenen  Bücherei  auf  dem  Gebiete  der  deutschen  Dichtung  des 
siebzehnten  bis  neunzehnten  Jahrhunderts  sehr  weit  auszudehnen 
vermochte.  Denn,  ein  Umstand,  der  nicht  vergessen  werden  sollte: 
die  berühmten  deutschen  Goetheanasammler  sind  fast  alle,  obschon 
sie  in  ihrem  Sonderfache  sich  hervortaten,  durchaus  nicht  engherzige 
bibliographische  Spezialisten  gewesen.  Vielmehr  Männer,  die,  wie 
ihre  Bibliotheken  erwiesen,  mit  dem  ganzen  deutschen  Schrifttum 
vertraut  waren;  und  dazu  mit  der  „Weltliteratur"  [eine  durch  Goethe 
eingebürgerte  Bezeichnung  des  Schrifttums  aller  Völker  und  Zeiten, 
deren  Auffassung  freilich  eine  verschiedenartige  Auslegung  erfuhr]. 
Allein  diese  Vielseitigkeit,  die  doch  wiederum  nach  einer  einheit- 
lichen Abrundung  der  Büchersammlungen  strebte,  ließe  den  Vorwurf 
einer  Waschzettel  -  Bibliophilie  nicht  zu.  In  den  Worten:  Einen 
einzigen  verehren  —  lag  das  Bekenntnis  zur  Persönlichkeit,  das  man 
sich  an  Goethes  Vorbilde  deutlich  werden  ließ;  lag  aber  auch  die 
Bestimmung  der  Bücherliebhaberei  als  einer  vornehmen  Tugend,  wie 
sie  einstmals  Sebastian  Francks  Spruch  treuherzig  erklärt  hat:  Das 
ist  der  Bücher  rechter  einiger  Gebrauch,  daß  wir  darinnen  ein  Zeug- 
nis unseres  Herzens  sehen.  Wenn  die  Bibliophilie  in  Deutschland 
ihre  eigene  Richtung  finden  konnte,  die  zu  ihrer  selbständigen  Ent- 
wicklung geführt  hat,  ist  hierfür  wegweisend  die  Beschäftigung  mit 
Goethe  und  seiner  Zeit  gewesen.  Denn  sie  verband  die  schöngeistigen 
mit  den  wissenschaftlichen  Zwecken;  sie  erlaubte  es,  den  Augenblick 
verweilen  zu  lassen,  der  einen  weiten  Weltblick  gewährte,  nicht  nur 
von  der  kalten,  steilen  Höhe  einer  humanistischen  Philosophie, 
sondern  auch  von  wärmenden  Alltagswinkeln  des  deutschen  Vater- 
landes. Die  Behaglichkeit  des  kleinen,  die  gemütliche  Stimmung 
selbstbescheidener  Genügsamkeit  ließ  sich  hier  gewinnen  und  lernen; 
gerade  weil  der  Gegenstand,  an  dem  sie  sich  übte,  so  groß  war,  daß 

*  Abb.  238  311 


DEUTSCHLAND 

er   ein  gänzliches  Versinken   in   den   Kuriositäten-    und   Raritäten- 
spielereien früherer  Jahrhunderte  nicht  zuließ. 

Erst  die  unablässige  Beschäftigung  mit  den  Beziehungen,  den 
Drucken  und  Handschriften;  eine  Kleinarbeit  und  philologische 
Sammeltätigkeit,  die  geleistet  werden  mußte,  um  den  notwendigen 
wissenschaftlichen  Standpunkt  zu  gewinnen;  ein  bibliographisches 
und  biographisches  Nachrichtenwesen,  das  leicht  zu  verspotten 
war,  konnte  die  Masse  des  Goetheschen  Nachlasses  durchdringen, 
das  geschichtliche  Bild  des  Dichters  und  seiner  Dichtung  aufhellen 
lassen,  das  von  den  Mitlebenden  so  oft  entstellt  worden  war.  Das 
Verfahren,  das  man  wählte,  war  die  Einordnung  von  Goethes  Werken 
in  seines  Lebens  Zusammenhang.  Bei  den  Bemühungen,  nach  Goethes 
Mahnung  ,,vom  Häuslichen  auszugehen*',  die  Dichtung  als  Erlebnis 
zu  erklären,  ist  die  Generation  der  Goetheanasammler,  der  Hirzel 
und  die  mit  ihm  lebenden  angehörten,  im  Eifer  des  Erklärens,  Fin- 
dens  und  Verbindens  vielleicht  weiter  gekommen,  als  nur  zu  rein 
wissenschaftlichen  Zielen.  Immer  jedoch  sind  diese  Bibliophilen 
geblieben  „Vertreter  jenes  unzünftigen,  aber  durchgebildeten  Dilet- 
tantismus reiner,  hoher  Art,  der  aus  innerem  Drang  heraus  die 
Neigung  zur  Pflicht  und  seinen  Namen  von  der  Liebe  hat**. 
Michael  Bernays,  der  mit  kritischem  Scharfsinn  zeigte,  wie  man 
die  Goethedrucke  nach  ihrem  inneren  Werte  zu  sondern  habe; 
Woldemar  Freiherr  von  Biedermann  [1817—1913],  der  als 
Zweiundsiebzigj ähriger  seine  Ausgabe  der  Gespräche  Goethes  be- 
gann, mit  der  er  erwies,  das  jenes  Ordnen  und  Sichten  nicht  ver- 
geblich gewesen  war,  das  ein  Ganzes  aus  den  zusammengelesenen 
Stückchen  sich  gestalten  ließ,  in  dem  die  großen  Züge  des  Lebens 
sichtbar  wurden;  Carl  Schüddekopf  [1861—1917],  dem  sich  be- 
schränkender Sammlerfleiß  eine  Nachlese  jener  Blätter  und  Blätt- 
chen erlaubte,  die  Goethe  in  reicher  Zahl  sich  zerstreuen  ließ,  sie 
alle  sind  in  ihrer  Art  verarbeitende,  vorbildliche  Sammler  gewesen. 
Gern  mochte  ein  feingebildeter  Mann  wie  der  Berliner  Professor  der 
Rechte  Karl  Bernstein  [1842—1894]  sich  an  der  deutschen 
Klassikerbibliothek  in  Urausgaben  erfreuen  wollen,  da  er  einen  jeden 
Band  nun  besser  als  Teil  eines  Ganzen  zu  deuten  vermochte.    Es  ist 

312  *  Abb  241 


19.  JAHRHUNDEKT 

ein  artiger  Zufall,  daß  die  ausgezeichnetste  bestehende  Goetheana- 
sammlung ebenfalls  einem  Leipziger  Verleger,  AntonKippenberg,* 
gehört.  Die  beiden  Verzeichnisse,  die  die  berühmtesten  Goethe- 
privatbibliotheken  beschreiben,  erweisen  ebenso  auch  die  Aus- 
bildung der  deutschen  Bücherkunde  und  Bücherliebhaberei  in  einem 
Halbjahrhundert,  wie  sie  den  Fortschritt  der  Goethephilologie  von 
der  Aufnahme  des  Bestandes  bis  zu  seiner  bibliographischen  Durch- 
arbeitung zeigen. 

Als  Karl  Goedeke  [1814—1887]  1858  auf  seiner  großen  Deutsch- 
landreise bei  Hirzel  in  Leipzig  weilte,  wurde  ihm  nach  dreistündigem 
Suchen  und  Blättern  in  dessen  Goetheschätzen  taumelig.  Und 
doch  war  gerade  er  es,  der  sich  solcher  Überfülle  des  Stoffes  gegen- 
über nicht  kleinmütig  zurückzog,  sondern  in  seinem,  in  der  ersten 
Auflage  mit  drei  starken  Bänden  abgeschlossenen  ,, Grundriß  zur 
Geschichte  der  deutschen  Dichtung  aus  den  Quellen"  eine  biblio- 
biographische  Materialiensammlung  angelegt  hat,  die  auf  Jahrzehnte 
hinaus  der  Mittelpunkt  für  die  Bücherkunde  der  deutschen  Schrift- 
tumsgeschichte werden  sollte.  Ursprünglich  war  es  nur  seine  Ab- 
sicht gewesen,  eine  Neubearbeitung  des  1795  veröffentlichten 
,Compendiums  der  deutschen  Litteraturgeschichte'  von  dem  Ber- 
liner Prediger  Dr.  E.  J.  Koch  [den  seiner  „großen  Kenntnisse 
und  Büchersammlung  wegen"  (Gl.  Brentano)  auch  die  Berliner  Ro- 
mantiker gern  aufsuchten]  zu  liefern.  Als  er  dann  aber  in  den  fünf- 
ziger Jahren  des  neunzehnten  Jahrhunderts  die  Arbeit  aufnahm, 
entschloß  er  sich,  sie  von  neuem  zu  beginnen  und  auf  Autopsie  zu 
begründen,  um  die  bibliographischen  Zitate  richtig  und  vollständig 
geben  zu  können.  Eine  Absicht,  die  er  weder  methodisch  noch  syste- 
matisch überall  durchführen  konnte,  die  aber  allein  schon  als  solche 
betont  zu  haben  sein  unbestreitbares  Verdienst  war.  Sie  brachte  das 
kritisch-literarhistorische  Moment  für  das  Büchersammelwesen  auf 
dem  Gebiete  der  deutschen  Dichtung  zur  vollen  Anerkennung  und 
Würdigung;  gab  die  Erklärungen  für  den  Gehalt  der  Originalausgaben; 
vereinte  Bibliographie,  Bibliophilie  und  Germanistik  zu  einer  deut- 
schen Literaturwissenschaft.  Von  seiner  eigenen,  groß  angelegten 
ersten  Büchersammlung  hat  sich  Goedeke  aus  wirtschaftlichen  Rück- 

*  Abb.  249  313 


DEUTSCHLAND 

sichten  vor  seiner  Übersiedlung  nach  Göttingen  trennen  und  sie 
zum  Verkauf  bringen  müssen;  ein  allmählich  ihm  entstandener 
zweiter  Bücherzuwachs  ist  nach  seinem  Tode  aufgelöst  worden. 
Um  1800  war  in  Deutschland  der  Antiquariatskatalog  neben 
dem  Auktionskataloge  oder  doch  der  von  Büchereien  und  Bücher- 
lagern ohne  feste  Preise  aufgekommen.  Die  Altbuchhändler  Helmert* 
&  Püschel  in  Dresden  scheinen  die  ersten  deutschen  Altbuchhändler 
gewesen  zu  sein,  die  regelmäßig  solche  Bücherpreislisten  veröffent- 
lichten; ihr  Berliner  Vertreter,  der  damalige  Verlagsbuchhändler 
J.  E.  Hitzig  [1780—1849]  befolgte  das  Beispiel,  ein  bequemeres 
Format  wählend.  Von  den  Buchfreunden  wurde  diese  Neuerung 
nicht  ungern  aufgenommen.  Gab  sie  doch  ihrem  Sammeln  mehr 
Gelegenheiten  als  die  meist  zufälligen,  alle  ihre  Mittel  auf  einmal 
beanspruchenden  Großverkäufe.  Mochte  auch  die  bibliographische 
Gründlichkeit  der  Antiquariatskataloge  noch  recht  zweifelhaft  sein 
—  ein  Helmertscher  ließ  das  ,Kazungali-Problem*  wieder  aufleben 
und  bot  so  Brentano  den  Anlaß  zu  einigen  Spaßen  —  der  Bücher- 
vorrat, den  sie  zugänglich  werden  ließen,  war  um  so  wertvoller.  Hatte 
nicht  im  Jahre  1808  einer  der  geschicktesten  Aufstöberer  seltener 
Buchware,  Herr  von  Meusebach,  noch  die  Restauflage  der  Erst- 
ausgabe von  Schillers  Räubern  wiederfinden  können?  Und  konnten 
nicht  noch  wenig  wohlhabende  Büchersammler  alte  Handschriften 
und  kostbare  Wiegendrucke  spottwohlfeil  erwerben,  von  den  Schar- 
teken späterer  Jahrhunderte  zu  schweigen?*  Solcher  Bücher  Überfluß 
hatte  vor  allem  zwei  Ursachen.  Einmal  die  Auflösung  alter  Bücher- 
sammlungen durch  die  Säkularisationen  in  Süddeutschland,  die  mit 
einem  Male  eine  Fülle  von  seltenen  Werken  auch  in  den  Handel 
brachten.  Sodann  die  Änderung  der  Sammelrichtung,  die  von  den 
bisher  bevorzugten  antiken  Klassikern,  von  der  gelehrten  poly- 
historischen Privatbibliothek- Repräsentation  sich  der  modernen 
Literatur  zuwandte;  der  deutschen,  auf  die  die  Germanistik  und  die 
neue  Blütezeit  der  deutschen  Dichtung,  in  der  man  lebte;  der  fremden, 
auf  die  die  Idee  der  Universalpoesie,  die  die  Romantiker  verkünde- 
ten, verwies.  Auch  der  Orient  war  dem  Okzident  genähert  worden, 
durch  Aneignungen  östlicher  Weisen,  wie  sie  der  Diwan  Goethes  bot ; 

314  *  Abb.  2o6~2IO,  2l6 


19.  JAHRHUNDERT 

und  durch  Übertragungen,  auf  die  eine  entstehende  Sprachwissen- 
schaft ihren  Einfluß  übte.  Wenn  auf  dem  Wiener  Kongresse,  wo 
mit  kostbarer  Buchware  die  Händler  die  dort  die  europäischen  Staaten 
vertretenden  Gelehrten  und  wohlhabenden  Würdenträger  um- 
warben, ein  Wilhelm  von  Humboldt  [1767—1835]  die  neue 
deutsche  Bildung  in  ihrer  schönsten  Form  verkörperte,  durfte  der 
bahnbrechende  Sprachforscher,  der  in  den  Geisteswissenschaften 
mächtig  war,  auch  die  Verehrung  entgegennehmen,  die  seinem  Bruder 
Alexander  [1769— -1859],  einem  Führer  in  den  völkerverbindenden 
Naturwissenschaften,  entgegengebracht  wurde.  Mit  dem  Anwachsen 
der  Naturwissenschaften  vollzog  sich  ihre  notwendige  Trennung  von 
den  Geisteswissenschaften,  die  einen  Ausdruck  auch  in  den  Bücher- 
sammlungen fand,  zunächst  in  der  Form  eines  Verzichtes.  Denn 
der  Bereich  der  Naturwissenschaften  blieb  nun  in  seinem  großen 
Umfange  den  Spezialbibliotheken  überlassen,  während  die  Geistes- 
und Geschichtswissenschaften  ihre  Gemeinsamkeit  durch  die  Philo- 
sophie suchten.  Derart  ergaben  sich  als  die  Hauptgruppen  nicht  be- 
stimmte Fächer  pflegender  deutscher  Liebhaberbüchereien  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  Philosophie  und  Poesie,  in  denen  ergänzend 
untergebracht  wurde,  was  sonst  den  dauernden  Leistungen  des 
Schrifttums  zugerechnet  wurde.  Hierin  wurde  die  Auffassung  des 
Klassischen  in  der  modernen  Bibliophilie  deutlich;  ihr  Verlangen  nach 
den  bleibenden  Büchern,  das  auch  die  rasch  wechselnden  politischen 
Schriften  nicht  zu  erfüllen  vermochten.  So  erklären  sich  die  Ab- 
grenzungen der  Privatbibliotheken  gegen  die  Tagesliteratur,  als 
welcher  man,  im  Gegensatz  zu  früheren  Jahrhunderten,  alles  zu- 
rechnete, das,  eben  erschienen,  rasch  dem  Veralten  oder  der  ver- 
besserten Auflage  zueilte. 

Um  die  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  hatten  die  For- 
schungen, die  der  Erkundung  des  deutschen  Schrifttums  und  der 
deutschen  Sprache  der  Vorzeit  galten,  eine  neue  Wendung  genom- 
men, die  mittelbar  aus  dem  Aufblühen  eines  neuen  deutschen  Schrift- 
tums und  einer  neuen  deutschen  Sprachkunst  hervorging.  Gott- 
sched und  J.  C.  Adelung  [1734—1806],  ihm  ähnlich,  Bodmer  und 
Breitinger,   ihm   widerstrebend,   hatten   manchen   Nachfolger  ihrer 

315 


DEUTSCHLAND 

hierher  gehörenden  Bestrebungen.  Noch  wichtiger  wurde  es  jedoch, 
daß  in  der  zweiten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  mit  seinen  mannig- 
faltig sich  verzweigenden  Geistesströmungen  sich  vieles  vorbildete, 
das  richtunggebend  für  die  altdeutschen  Studien  werden  sollte;  wie 
etwa  die  Begeisterung  an  einer  Naturpoesie,  die  auch  auf  das  nor- 
dische Altertum  führte,  sich  allmählich  in  eine  nüchternere  Auf- 
fassung der  Volkskunde  wandelte.  Aber  den  eigentlichen,  den  ent- 
scheidenden Aufschwung  gaben  den  germanistischen  Studien  doch 
erst  die  älteren  Romantiker,  nicht  sowohl  durch  ihre  eigenen  Einzel- 
untersuchungen als  durch  ihre  Gesamtanschauung  eines  , Mittel- 
alters*, in  dem  die  Jahre  nationalen  Verfalls  ein  Vorbild  für  die 
Wiederaufrichtung  im  deutschen  Geiste  zu  sehen  glaubten.  Die 
literarischen  Brennpunkte  dieser  germanistisch-romantischen  Be- 
wegung wurden  Berlin  und  Heidelberg,  ihre  Vertreter  waren  Männer 
einer  Generation.  Denn  die  Görres,  Brentano,  von  der  Hagen,  Docen, 
A.  V.  Arnim,  v.  Meusebach,  Büsching  sind  alle  um  1780  geboren; 
wenige  Jahre  jünger  als  die  Brüder  Schlegel  und  Tieck,  ihre  Führer, 
wenige  Jahre  älter  als  die  Brüder  Grimm  und  Uhland,  die  das  be- 
gonnene Werk  einer  wissenschaftlichen  Erneuerung  deutscher  Volks- 
und Vorzeitkunde  zur  Ausführung  brachten.  In  Berlin  war  Fried- 
rich Heinrich  von  der  Hagen  [1780—1856]  seit  1807  in 
jener  eiligen  Art,  die  ihn  in  seinem  langen  Leben  nicht  verließ,  mit 
Ausgaben  und  Vorlesungen,  die  ein  germanistisches  Studium  grün- 
den halfen,  hervorgetreten;  in  Heidelberg  gaben  Arnim  und  Brentano 
als  Dichter  „Des  Knaben  Wunderhorn"  heraus  und,  von  ihnen  gewon- 
nen, Joseph  Görres  [1776—1848]  seine  Schrift  über  die  deutschen 
Volksbücher  [1807],  Ferner  bleibend,  weil  weit  weniger  gefühlsmäßig, 
nahm  Ludwig  Uhland  teil.  Aber  auch  ihn  behinderten  ebenso  wie 
seine  späteren  politisch-praktischen  Tendenzen,  sich  ganz  und  Görres 
gar  Arbeiten  zu  widmen,  die  zu  einem  ruhigen  Verweilen  in  den 
stillen  Bezirken  der  Vergangenheit  und  in  einer  versunkenen  Bücher- 
welt zwangen.  Jacob  Grimm  und  Karl  Lachmann,  aus  deren  Zu- 
sammenwirken die  deutsche  Philologie  eine  Schule  und  eine  Tra- 
dition erhielt,  stellten  auch  die  Muster  einer  streng  wissenschaft- 
lichen FachUteratur  auf,   die,    zu  ihrer  Beherrschung  ein    eigenes 

316 


19.  JAHRHUNDERT 

Studium  voraussetzend,  sich  mählich  von  den  durch  sie  kritisch  ver- 
arbeiteten alten  Drucken  und  Handschriften,  die  den  Sammlern 
als  Seltenheiten  überlassen  wurden,  sonderte. 

Der    Freundschaftsbund,    den    Jacob    Grimm    im    Marburger 
Wintersemester   1802    auf    1803   mit    seinem    Lehrer    Friedrich 
Karl  von   Savigny   [1779— 1861]   schlofi ,   versinnbildlicht   das 
im  Zeichen  der  Bibliophilie  sich  vollziehende  Zusammenfinden  der 
Germanistik  und  der  Romantik.    Nicht  etwa,  daß  damals  schon  der 
achtzehnjährige  scheue  Student  daran  gedacht  hätte,  ihm  könne  die 
Führerschaft  in  der  deutschen  Altertumskunde  und  Sprachwissen- 
schaft bestimmt  sein.    Oder  aber,  daß  gar  der  große  Romanist  den 
rasch  Aufwärtsstrebenden  auf  den  Ursprung  einer  gelehrten  Ger- 
manistik in  der  deutschen  Rechtswissenschaft  des  siebzehnten  und 
achtzehnten  Jahrhunderts  hätte  verweisen  wollen.    Das,  was  Grimm, 
dafür  dankbar  bis  in  sein  höchstes  Alter,  von  ihm  lernte,  war  wissen- 
schaftliches Arbeiten;  und  die  erste  Unterstützung  auf  seinem  ferne- 
ren Lebenswege,  die  er  Savigny  verdankte,  war  die  Benutzung  von 
dessen  ausgezeichneter  Büchersammlung,  die  in  ihren  hohen  Schrän- 
ken die  unscheinbare  Wohnung  des  Professors  zierte.    Von  hier  aus 
begann  Jacob  Grimm  seine  Wanderungen  in  das  Bücherland,  in  dem 
er  ein  Herrscher  werden  sollte.    In  dem  gleichen  Jahre  1803,  in  dem 
Savigny  mit  seinem  ersten  Hauptwerke  hervorgetreten  war,  hatte 
Tieck  seine  Ausgabe   der  Minnelieder  aus   dem  schwäbischen  Zeit- 
alter veröffentlicht;  ein  anregendes  Buch,  das  diese  deutschen  Dich- 
tungen aus  dem  Hintergrunde  der  Universalpoesie  sich  lösen  ließ 
und   das,   hierin   mag  sein   erheblichstes   Verdienst   liegen,    Jacob 
Grimm   [1785—1863]   sich  selbst  finden  ließ.     Denn  nun  bildete 
seinem  auf  das  Heimatliche,  Vaterländische,  Volkstümliche  gerichte- 
tem Wesen  sich  ein  festes  Lebensziel.   Die  Bibliothek  Savignys  zeigte 
ihm  die  alte  Bodmersche  Sammlung,  auf  die  die  neue  Tiecksche  ver- 
wies und  sein  Sprlachgefühl  wurde  geweckt.   In  den  Bann  der  Bücher 
zog    es   auch  Jacobs    jüngeren  Lieblingsbruder   Wilhelm  Grimm 
[1786—1859],  der  ihm  auf  die  Universität  gefolgt  war.   Im  Geschmack 
der  Romantik  gründeten  die  beiden  ihre  kleine  ,liebe'  Bibliothek, 
die  ihnen  gemeinsam  bis  zu  ihrem  Tode  blieb.    Im  amtlichen  Bücher- 

317 


DEUTSCHLAND 

dienste  und  in  der  Buchpflege,  die  ihre  Forschungen  von  ihnen  ver- 
langten, haben  die  Brüder  dem  Buche  gelebt.  Die  beiden  Brüder 
Grimm  sind  von  Jugend  auf  Bücherfreunde  gewesen;  ihre  For- 
schungen und  ihr  Lebenslauf  verwies  sie  von  überallher  auf  das 
Buchwesen  in  seinen  mannigfachen  Verzweigungen.  Jacob,  der  einer 
Einladung  seines  Lehrers  Savigny  folgend  schon  1805  in  Paris  den 
Betrieb  einer  großen  öffentlichen  Bibliothek  kennengelernt  hatte; 
der  auf  die  Empfehlung  J.  v.  Müllers  hin  nach  Begründung  des 
Königreiches  Westfalen  1808—14  Verwalter  der  vom  Kurfürsten 
angelegten  Büchersammlung  in  Wilhelmshöhe  und  1815  wiederum 
in  Paris  der  Beauftragte  der  Preußischen  Regierung  für  die  Rück- 
erstattung der  dorthin  geraubten  Handschriften  gewesen  war,  stand 
von  1816  bis  1830  in  Kassel,  von  1830  bis  1837  in  Göttingen  im 
Bibliotheksdienste,  Wilhelm  von  1814  bis  1830  in  Kassel,  von  1830 
bis  1837  in  Göttingen.  Aber  beiden  blieb  noch  weit  über  diese  äußeren 
Beziehungen  das  Buch  ein  unentbehrliches  Werkzeug  ihrer  gelehrten 
Untersuchungen  und  ihr  Amt  vermittelte  den  Bedürfnissen  ihrer 
Arbeit  auch  ein  näheres  Verhältnis  zu  anderen  öffentlichen  BibUo- 
theken,  vor  allem  zu  denen  in  Heidelberg,  Jena  und  Weimar,  wo  sie 
sich  der  Förderung  Goethes  erfreuen  konnten.  Ein  sich  immer  weiter 
ausbreitender  Schülerkreis  ließ  sie  in  den  Beiliner  Jahren  zum  geisti- 
gen Mittelpunkt  der  Germanistik  werden;  Jacobs  letztes  großes 
Unternehmen,  das  Wörterbuch,  vereinte,  ebenso  wie  schon  früher 
das  Belegesuchen  für  die  deutsche  Grammatik  und  das  Hand- 
schriftenvergleichen, alle  Bestrebungen,  die  sich  auf  die  Erschließung 
des  deutschen  Sprachschatzes  und  des  älteren  deutschen  Schrift- 
tums richteten,  in  seiner  leitenden  Hand.  Und  seine  mannigfachen 
Veröffentlichungen  mit  ihren  vielfach  neuen  Wegen,  die  sie  suchten, 
wurden  auch  beispielgebend  für  buchgewerbliche  und  buchhändle- 
rische Ausgestaltungen  des  deutschen  Buches.  Bescheidener  blieb 
die  eigene  Büchersammlung  unter  solchen  die  Nutzung  fremden 
Bücherreichtums  gestattenden  Verhältnissen.  Das  Bild  des  Biblio- 
philen Jacob  Grimm  hat  sein  Neffe  Hermann  umrissen:  „Einen  wie 
köstlichen  Feierabendfrieden  genoß  Jacob  Grimm  nach  dem  Tode 
seines  Bruders  Wilhelm,  die  wenigen  Jahre,  die  er  diesen  überleben 

318 


19.  JAHRHUNDEBT 

sollte,  in  stetiger  stiller  Arbeit  unter  seinen  Büchern  verbringend. 
Seine  Lieblingsblumen,  Goldlack  und  Heliotrop,  standen  am  Fenster, 
auch  auf  dem  Arbeitstische,  der  überdies  mit  allerlei  Andenken  be- 
setzt war,  standen  ein  paar  Blumen  in  einem  Glase.  Seine  und  seines 
Bruders  Werke  waren  alle  dicht  um  ihn  herum  aufgereiht,  so  daß 
er  sie  bequem  von  seinem  Sitze  ergreifen  konnte.  Das  für  ihn,  wie 
für  Wilhelm,  mit  breitem  Rande  gedruckte  Exemplar  des  Wörter- 
buches lag  in  einzelnen  Bogen  zu  einem  dicken  Stoße  aufgeschichtet 
neben  seinem  Schreibtisch.  Bald  seine  vielen  kleinen  Abhand- 
lungen für  ihre  endgültige  Sammlung  durchsehend,  bald  neu  zu- 
geschickte Bücher  mit  der  Feder  oder  dem  Bleistift  in  der  Hand 
durchlesend,  wenn  ihn  nicht  eine  größere  Arbeit  in  Anspruch  nahm, 
immer  bereit,  an  geselliger  Unterhaltung,  an  Tagesereignissen  teil- 
zunehmen, mit  jener  heiteren  Ruhe,  die  ihm  auch  die  Worte  seiner 
Rede  über  das  Alter  eingegeben  hat.  . . .  Seine  Bücher  liebte  er,  das 
Wort  ist  nicht  zu  stark,  mit  Zärtlichkeit.  Die  gemeinschaftliche 
Bibliothek  [der  Brüder  Jacob  und  Wilhelm]  stand  unter  seiner  be- 
sondern Obhut.  Er  ließ  die  Werke  nach  eigner  Angabe  verschieden- 
artig einbinden  und  konnte  es  bis  zu  einem  gewissen  Luxus  darin 
treiben.  Die  gute  oder  bessere  Meinung,  die  er  von  dem  Werte  eines 
Buches  hegte,  deutete  er  durch  mehr  oder  weniger  kostbaren  Ein- 
band an.  Bei  kleineren  Gelegenheitsschriften  ließ  er  das  zu  über- 
reichende Exemplar  gern  in  dunkelroten  Sammt  binden.  Der  nach 
dem  Tode  meines  Vaters  [Wilhelm]  gedruckte  Freidank  erhielt  den 
teuersten  Einband,  der  herzustellen  war.  Es  hat  etwas  natürliches, 
daß  er,  der  so  lange  Jahre  Bibliothekar  gewesen  war,  nun  seine  Bi- 
bliothek als  eine  Art  Persönlichkeit  betrachtete.  Mit  Wohlgefallen 
ging  er  oft  die  aufgestellten  Reihen  entlang,  nahm  auch  wohl  diesen 
oder  jenen  Band  heraus,  besah  ihn,  schlug  ihn  auf  und  stellte  ihn 
wieder  an  seinen  Ort.  Es  machte  ihm  Freude  aufzuspringen  und  das 
Buch  selbst  zu  geben,  wenn  man  es  bei  ihm  suchte  und  nicht  gleich 
finden  konnte.  Nach  meines  Vaters  Tode,  als  er  dessen  Stube  mit 
zur  Bibliothek  einrichtete,  ordnete  er  die  Brüder  nach  einem  neuen 
Plan  und  besorgte  die  Umstellung  ganz  allein.  Er  konnte  im  Dunkeln 
jedes  Buch  ergreifen  ohne  Irrtum.    Er  verlieh  nicht   gern,   weil  er 

319 


DEUTSCHLAND 

in  die  Bücher  zu  schreiben  und  Zettel  hineinzulegen  pflegte.  Viele 
tragen  auf  dem  letzten  leeren  Blatt  ein  doppelt  angelegtes  Inhalts- 
verzeichnis, eins  von  Jacobs,  eins  von  Wilhelms  Hand.  Ich  finde, 
daß  er  in  einem  Briefe  an  Lachmann  einmal  scherzweise  von  der 
späteren  Auction  der  Bibliothek  redet,  wie  die  Leute  da  sich  wundern 
würden,  so  kostbare  Bücher,  wie  die  große  prächtige  Ausgabe  der 
Nibelungen,  bei  ihm  zu  finden;  er  hat  auch  mir  einmal  davon  geredet, 
wie  nach  seinem  und  meines  Vaters  Tode  die  Bücher  zerstreut  werden 
würden  und  so  der  Plan,  nach  dem  sie  sie  gesammelt,  niemanden  als 
ihnen  bewußt  gewesen  wäre,  allein  wenn  ihm  bei  solchen  Gelegen- 
heiten widersprochen  ward,  ließ  er  das  gelten.  Mehrfach  haben  meine 
Geschwister  und  ich  ihm  versichert,  es  würden  die  Bücher  nicht  aus- 
einandergerissen und  versteigert  werden,  und  noch  in  den  letzten 
Stunden,  als  seine  Augen  zeigten,  daß  er  verstand  was  man  sagte, 
und  als  wir  uns  bemühten,  auszusprechen,  was  ihn  erfreuen  und  be- 
ruhigen könnte,  wurde  ihm  die  Versicherung  gegeben,  daß  die  Bi- 
bliothek in  würdiger  Weise  erhalten  bleiben  würde.  Vielleicht  daß  sie 
auf  einer  Universität  ihren  Platz  findet,  wo  sie  Nutzen  bringt  und  an 
ihre  Urheber  fördernd  erinnert."  Jacob  und  Hermann  Grimms 
Hoffnung  ist  erfüllt  worden,  in  die,  1831  begründete,  Universitäts- 
bibliothek Berlin  aufgenommen,  ist  die  Grimmbücherei  an  einen  Ort 
gelangt,  an  dem  sie  im  Sinne  ihrer  Urheber  weiterwirkt. 

Die  literarhistorisch-retrospektive  Orientierung  der  j  üngeren 
Romantik  auf  die  Universalpoesie  verband  sich  bei  ihren  Vertretern 
anfänglich  auch  mit  der  eben  erwachenden  Begeisterung  für  die  ältere 
deutsche,  insbesondere  die  Überlieferungen  der  volkstümlichen 
Dichtung.  Und  die  Romantik  des  alten  Buches  in  Druck  oder  Hand- 
schrift; die  Romantik  des  Sammeins,  des  Suchens  der  Trümmer  der 
Vergangenheit,  die  auch  den  Germanisten  nicht  fremd  war,  ihnen 
sich  aber  bald  in  eine  geschichtswissenschaftliche  Auffassung  wan- 
delte und  derart  zur  festgeleiteten  Forschung  wurde,  mußte  die 
Dichter  mehr  noch  als  alle  anderen  in  die  bunten  Gefilde  der  Bücher- 
welt locken.  Waren  von  den  drei  am  meisten  hervortretenden  Biblio- 
philen der  deutschen  Romantik  die  konsequenten  Kritiker  August 
Wilhelm  V.Schlegel  [1767-1845]  undLudwigTieck[1773-1853] 

320 


*  I 


19.  JAHRHUNDERT 

schließlich  dahin  gelangt,  in  ihren  umfassenden  Büchereien  die 
Weltliteratur,  d.  h.  die  Dichtungen  aller  Völker  und  Zeiten,  aufzu- 
bewahren, so  bedachte  Clemens  Brentano  [1777—1842]  einen 
Büchereiplan,  als  er,  der  in  alten  und  neuen  Schriften  wohl  be- 
wanderte Leser,  seiner  Leidenschaft  für  altertümliche  Bücher  nach- 
gebend, die  Kunde  deutscher  Vorzeit  in  ihren  verblichenen  Zeug- 
nissen, in  den  fliegenden  Blättern,  den  Holzschnitten,  den  Volks- 
büchern aufzuspüren  sich  bemühte.  Schon  im  August  1802  teilte 
er  dem  Freunde  A.  v.  Arnim  mit:  „Ich  bin  fünf  bare  Wochen  in 
Koblenz  gewesen  und  habe  unter  anderm  viele  seltene  alte  Bücher 
und  einige  Manuskripte  gekauft/*  Manche  ähnliche  Stellen  aus 
seinem  Briefwechsel,  die  seinen  Sammeleifer  beweisen,  ließen  sich 
dieser  anfügen.  Sogar  das  Büchergesuch  in  der  Form  der  Zeitungs- 
anzeige hat  der  Dichter  nicht  verschmäht.  Beabsichtigte  doch 
Brentano  der  ersten  Auslese  seiner  Büchersammlung,  dem  1805 
entstandenen  Volksliederbuche  „Des  Knaben  Wunderhorn",  als 
Gegenstück  eine  Ausgabe  der  deutschen  Volksmärchen  zu  schaffen, 
bei  der  ihm  die  Brüder  Grimm,  die  dann  selbst  später  seinen  Plan 
verwirklicht  haben,  helfen  wollten.  Ähnlich  hatte  er  die  alten 
Volksbücher  herausgeben  wollen.  Noch  im  Anfang  des  Jahres  1805 
beklagte  ein  Brief  an  einen  Antiquar  in  Freysing,  daß  ihm  die 
^,Mörin'*  entgangen  sei,  für  die  er  gern  den  doppelten  Preis  gezahlt 
hätte;  wünschte  er  sich  die  Feyerabendausgabe  des  Buches  der  Liebe, 
Lieder  und  Märchendrucke.  Aber  schon  1807  stellte  er  das  Ergebnis 
seiner  Sammeltätigkeit  Josef  Görres  zur  Verfügung.  Ein  rascher, 
ein  romantischer  Wechsel  der  literarischen  Neigungen  zeigte  sich 
derart  auch  in  den  Bemühungen  des  Buchfreundes,  dessen  Phantasie 
die  alten  Bilder  und  Bücher  erquickten.  Der  Bibliophile  Brentano 
verrät  sich  in  seinen  Dichtungen  häufig,  bisweilen  schon  in  ihrer 
Anlage.  Die,,Chronika  eines  fahrenden  Schülers^'  gab  er  als  den  Fund 
eines  Handschriftenaufspürers  heraus.  Der  Schartekenstaub  ließ 
Brentano  nicht  unempfindlich  werden  für  die  Kleinigkeiten  und 
Nebensächlichkeiten,  die  einen  empfindsamen  Sammler  verraten, 
der  ein  geschmackvoller  Seltenheitenstöberer  ist.  Einbände  und 
Größe  seiner  Bücher  waren  Brentano  nicht  gleichgültig.    „Quart, 

^OOENG   «1  321 


DEUTSCHLAND 

Folio,  fein  und  roh,  Schweinsleder  bis  zum  Safian  .  .  .  und  die  Dichter 
in  Großoktav**  heißt  es  im  „Gustav  Wasa**.  Eine  eigene  Vorliebe 
war  ihm  freilich  schon  in  frühen  Jahren  eigentümlich  gewesen,  die 
für  die  geheimwissenschaftlichen  Schriften.  Als  er  nach  der  inner- 
lichen Umwandlung  des  Jahres  1817  mit  dem  Dichten  und  Leben 
abschloß ;  seine  Büchertsammlung  zu  wohltätigen  Zwecken  versteigern 
ließ,  sich  von  den  weltlichen  Büchern  trennend,  hat  er  „den  größten 
Teil  seiner  Bibliothek  über  Theologie,  Exorzismus  und  Kabbala 
seinem  Bruder  Christian  geschenkt**,  mit  dessen  eigener  Sammlung 
sie  erst  1853  verkauft  worden  ist.  In  Marburg,  wo  Brentanos 
späterer  Schwager,  Friedrich  Karl  von  Savigny,  sein  einziger  Um- 
gang wurde,  begegnete  er  mit  diesem  sich  wohl  in  der  Liebhaberei 
für  die  von  der  deutschen  Vorzeit  Kunde  bringenden  alten  Bücher, 
die  an  gleicher  Stelle  auch  Jacob  Grimm  in  den  Bann  der  Bücher 
gezogen  hatten.  Aber  in  ihrem  auf  gegenseitiger  Zuneigung  be- 
gründeten freundschaftlichen  Verhältnisse  zeigte  sich  doch  schon 
der  Gegensatz  zwischen  dem  Enthusiasmus  des  Dichters  und  der 
Pedanterie  des  Gelehrten;  trennte  sich  die  Bibliophilie  der  Ro- 
mantik von  der  Bibliophilie  der  Germanistik  und  Romanistik.  „Ich 
kann  oft  sehr  traurig  werden,**  berichtete  ein  Brief  Brentanos  an 
Sophie  Mereau,  „wenn  ich  so  dem  Savigny  zusehe,  wie  er  im  un- 
endlichen Gleichmuth  von  Morgens  bis  Abends  seine  Folianten 
durchbuchstabiert,  so  ekelt  mich  diese  Ruhe  an,  um  die  ich  ihn  doch 
wieder  beneide.**  Den  Finder  störte  der  Gleichmut  des  Forschers; 
als  Leser  wie  als  Sammler  war  der  Führer  der  historischen  Rechts- 
schule, obschon  der  hervorragendste  Jurist  der  Romantik,  nicht 
Eklektiker,  sondern  Systematiker.  Das  beweisen  auch  die  1861  in  den 
Besitz  der  Königlichen  Bibliothek  zu  Berlin  aus  der  Bibliothek 
Savignys  übergegangenen  Reihen  römischer  und  kanonischer  Rechts- 
quellen. Der  Romanist  Savigny,  seit  der  Errichtung  der  Berliner  Uni- 
versität [1810]  einer  ihrer  ersten  Lehrer,  stand  der  Germanistik  und 
der  germanistischen  Rechtsforschung  fern,  soweit  er  nicht  geradezu 
ihrer  Gegnerschaft  angehörte.  Ein  anderer  Berliner  Jurist  in  hoher 
amtlicher  Stellung  schuf,  nicht  als  Rechtsgelehrter,  sondern  als 
Schrifttumsfreund,   der  aufstrebenden,   die   Einheit  deutscher  Ver- 

322    ^ 


\ 


19.  JAHRHUNDEBT 

gangenheit    erfassenden   jungen  Wissenschaft   ihren   berühmtesten 
Büchersaal. 

Karl  Hartwig  Gregor  Freiherr  von  Meusebach  [1781 
— 1847],*  aus  Neubrandenburg  in  Mecklenburg,  war,  nachdem  er  in 
Göttingen  und  Leipzig  die  Rechte  studiert  hatte,  1803  zu  Dillen- 
burg Kanzleiassessor  und  später  Prokurator  am  dortigen  Ober- 
gerichtshofe geworden,  hatte  1814  die  Leitung  des  Justizwesens  in 
Trier  übertragen  erhalten  und  dann  den  Vorsitz  bei  dem  provisori- 
schen Kassationshofe  zu  Koblenz.  Hier  verbrachte  er,  im  an- 
geregten Verkehr  mit  Gneisenau,  Pfuel,  Clausewitz,  Max  von  Schen- 
kendorf, Stein,  Johannes  Schulze,  Goethe,  Tieck,  Görres,  Hebel 
und  anderen  ausgezeichneten  Männern,  fröhliche  Jahre.  1819  als 
Oberrevisionsrat  mit  dem  rheinischen  Kassations-  und  Revisions- 
hofe, dessen  Präsident  er  später  wurde,  nach  Berlin  versetzt,  nahm 
er  1842  seinen  Abschied,  die  letzten  Lebensjahre  ganz  seinen  Büchern 
widmend,  die  er  auf  seinem  Landsitze  zu  Alt-Geltow  bei  Potsdam 
um  sich  versammelt  hatte.  Seit  Meusebachs  Übersiedlung  war 
Berlin  das  bibliographische  Hauptquartier  der  Germanistik  ge- 
worden; die  Bibliotheca  Meusebachiana  der  Ort,  wo  man  Bücher  und 
Nachrichten  ausgab  oder  sie  einschickte,  wo  Forscher  und  Samm- 
ler sich  trafen,  begehrend,  mitteilend,  bisweilen  vergeblich  ver- 
suchend, die  Erfüllung  ihrer  Wünsche  zu  erreichen.  Denn  den 
,Marktverderbern*  wollte  Meusebach  nicht  allzu  wohl,  den  allzu- 
schnell bereiten,  eilfertigen  Herausgebern,  die  den  von  anderen  und 
ihm  sorgsam  vorbereiteten  Ausgaben,  weniger  schwerfällig  sorgsam^ 
zuvorkamen.  Es  ging  damals  lustig  in  der  deutschen  Philologie  zu. 
Sie  war  noch  eine  fröhliche  Wissenschaft,  deren  Bücherlust  in  den 
Gastmählern  und  Gastgeschenken  sich  zeigte,  die  die  Geselligkeit 
heiter  verschönten.  Jacob  und  Wilhelm  Grimm  hatte  Meusebach 
vielleicht  schon  in  Marburg  bei  Savigny  kennen  gelernt,  Lachmann 
und  Haupt  traten  auch  in  seinen  Freundeskreis;  nicht  ohne  daß  die 
Eigenwilligkeit  Meusebachs  hin  und  wieder  einige  Unruhe  in  seine 
Beziehungen  zu  den  Häuptern  der  Germanistik  brachte.  Aber  in 
seiner  Art  war  er,  dem  Jacob  Grimm  1828  die  Rechtsaltertümer 
widmete,  doch  auch  eine  Autorität  der  Germanistik.    Wenn  ihm 

«!•  *  Abb.  221  323 


DEUTSCHLAND 

etwa  der  mit  seiner  Ausgabe  deutscher  Dichter  des  siebzehnten 
Jahrhunderts  beschäftigte  Wilhelm  Müller  am  2.  Juni  1825  aus 
Dessau  schrieb:  „Wollen  Sie  mir,  was  Sie  von  Rist,  Clai  und  Hars- 
dörfer  an  poetischen  Werken  besitzen  auf  ein  paar  Monate  mit- 
theilen? Ich  habe  mit  einem  Worte  noch  nichts  von  diesen  Dichtern 
in  Händen  und  brauche  Ihnen  daher  kein  Verzeichniß  dessen  zu 
schicken,  was  ich  haben  möchte**  —  dann  erweist  eine  solche  Brief- 
stelle hinreichend  genug,  welch  ein  Verdienst  in  der  bloßen  Sammel- 
tätigkeit lag;  wofern  diese,  nach  Meusebachs  Muster,  nur  eine  biblio- 
graphisch-kritische und  methodisch-systematische  blieb.  Um  das 
nicht  zu  unterschätzende  Verdienst  des  Bibliophilen  Meusebach  sich 
klarer  zu  vergegenwärtigen,  braucht  man  sich  lediglich  an  einen  seiner 
erfolgreichsten  Mitsammler,  an  den  Bibliothekar  der  fürstlichen 
Bibliothek  in  Wernigerode  Karl  Zeisberg  [1804—1850],  zu  er- 
innern, dessen  Bücherliebhaberei  nicht  über  die  äußerliche  Be- 
mächtigung der  Bücher  hinaus  gelangte  und  dem  nach  abgeschlosse- 
nen Universitätsstudium  noch  die  Abfassung  eines  Briefes  die  aller- 
größten Schwierigkeiten  machte.  Daß  ein  angesehener  Beamter  und 
vielseitig  gebildeter  Gelehrter  die  Bibliophilie  als  eine  damals  not- 
wendige Hilfswissenschaft  der  Germanistik  richtig  verstand,  war 
schon  etwas  wert. 

Das  Büchersammeln  Meusebachs  galt  ihm  selbst  als  ein  Vor- 
arbeiten für  groß  angelegte  Ausgaben  und  Werke.  Doch  ist  er  über 
solche  Vorarbeiten  nicht  hinausgekommen,  sogar  nicht  für  den  deut- 
schen Schriftsteller,  dem  seine  ganze  Liebe  galt.  Auf  dem  Vorsatz- 
blatte einer  alten  Fischartausgabe  trug  er  am  Ende  seines  Lebens 
die  Worte  F.  H.  Jacobis  [aus  der  Vorrede  zu  Eduard  AUwills  Brief- 
sammlung] ein:  Er  sammelte  zu  seinem  Werke  mit  einer  Liebe,  die 
ihn  von  der  Ausführung  desselben  entfernte.  Besser  läßt  sich  nicht 
das  Ergebnis  des  Meusebachschen  Fleißes  und  der  Meusebachschen 
Gelehrsamkeit  kennzeichnen.  Was  er  geleistet  hat,  war  der  biblio- 
graphische Teil  der  Arbeit,  geborgen  in  seiner  Bibliothek.  Doch  ob- 
schon  er  selbst  über  das  Planen  auch  nicht  weit  hinauskam  und  ob- 
schon  er  meist  nur  ungern  den  ihn  bedrängenden  Wünschen  nach 
diesem  oder  jenem  Buche,  dieser  oder  jener  Materialienkollektion 

324 


19.  JAHRHUNDERT 

entsprach  —  er  hätte  seinen  Bücherschatz  dauernd  verleihen  müssen 
und  viele  zufriedenstellen  sollen,  die  den  Aufgaben  nicht  gewachsen 
waren,  die  sie  lösen  sollten;  die  Pfuscherei  begünstigen  müssen  — 
den  berufenen  Forschern  seines  Freundeskreises  ist  er  ein  treuer 
Helfer  gewesen,  trotzdem  die  mancherlei  Mißverständnisse,  die  sein 
schrullenhaftes  Wesen  hervorrief,  nicht  ausbUeben.  Das  liebevolle 
Versenken  in  das  Denken,  Fühlen  und  Sprechen  deutscher  Vorzeit 
mag  Meusebach  zu  mancher  Sonderlichkeit  verleitet  haben,  wenn 
er  mit  barocken  Wendungen  bibliographische  Themata  in  seinem 
Briefwechsel  erörterte,  Auskünfte  gab,  Fragen  stellte  und  vor  allen 
Dingen  seine  Sammlersorgen  nicht  vergaß,  von  denen  sich  zu  be- 
freien ihm  die  anderen  mithelfen  sollten.  Die  Ansprüche,  die  er  hier 
stellte,  waren  nicht  weniger  weitreichend,  als  die  an  ihn  gestellten. 
Man  braucht  nur  seinen  Briefwechsel  mit  F.  A.  Ebert  zu  lesen,  wie 
er  gelegentlich  sogar  den  Bibliothekar  in  Versuchung  führen  will, 
ein  unermüdlicher  Bücherjäger.  Gerade  das  zeichnete  Meusebach 
aus,  daß  er  ein  Bibliophileningenium  hatte  und  ein  bibliographisches 
Gewissen,  daß  er  die  Sammelgebiete,  die  er  bestellte,  sich  recht 
eigentUch  schuf,  indem  er  sie  nach  klugem  Plane  systematisch  durch- 
forschte. Derart  entstanden  ihm  Sonderreihen.  Die  Drucke  geist- 
licher und  weltlicher  Lieder;  die  deutsche  Dichtung  des  siebzehnten 
Jahrhunderts  in  unübertroffener  Vollständigkeit;  die  polemische 
und  satirische  Literatur;  die  Schwankbücher,  die  Sprichwörter- 
sammlungen; die  Schriften  über  Spiele,  Trachten,  Speise  und  Trank, 
Kochkunst,  Weinbau;  über  geistige  und  leibliche  Fertigkeiten;  über 
das  Familien-  und  Frauenleben;  über  Hebammenkunst  und  Kinder- 
erziehung und  andere  noch  bildeten  geschlossene  glänzende  Gruppen, 
die  in  ihrem  großen  Zusammenhange  derart  noch  nie  dies  ältere 
deutsche  Schrifttum  in  einer  Büchersammlung  vereinigt  hatten  und 
vielleicht  nie  wieder  vereinigen  werden.  Daß  der  gelehrte  Hand- 
apparat nicht  fehlte,  der,  etwa  bei  den  Vokabularien  und  Wörter- 
büchern, sehr  vollständig  war  und  sehr  weit  zurückreichte,  so  daß 
er  einen  eigenen  Wert  gewann,  verstand  sich  für  den  gewissenhaften 
Sammler  von  selbst.  Um  so  bedauerlicher  bleibt  es,  daß  Meusebach, 
der  sich  mit  dem  Gedanken  trug,  das  Kochsche  Kompendium  um- 

325 


DEUTSCHLAND 

zuarbeiten,  kein  ausführliches  Verzeichnis  seiner  Bücherei  hinter- 
ließ, daß  überhaupt  deren  Katalog  nicht  gedruckt  worden  ist.  Eine 
Aufnahme  des  Bestandes  haben  erst  nach  Meusebachs  Tode  Zacher 
und  Zarncke  für  den  Verkaufszweck  besorgt;  und  die  von  der  Ber- 
liner Bibliothek  herausgegebenen  Bücherlisten,  die  die  Dubletten  der 
Meusebachbibliothek  ausboten,  sind  kein  Ersatz  eines  vollständigen 
Kataloges  der  unvergleichlichen  Sammlung.  „Er  ließ  es  sich  freilich 
viel,  sehr  viel  kosten,  bei  Versteigerungen  mußte  für  ihn  immer  der 
letzte  Preis  geboten  werden'*  [Hoffmann].  Auch  sie  sind  nicht  zu 
unterschätzen,  die  materiellen  Opfer,  die  Meusebach  seiner  Samm- 
lung und  ihrer  Sache  zu  bringen  hatte.  Denn  am  Ende  nützte 
solcher  Aufwand  großer  Mittel  doch  der  Gesamtheit  der  Anteil- 
nehmenden, die  sich  seiner  Ergebnisse  zu  bedienen  und  zu  erfreuen 
verstanden.  Wer  den  Weg  zum  Bücherherzen  des  liebenswürdigen 
Menschen  zu  finden  wußte,  dem  öffnete  sich  auch  die  Bücherei  des 
gelehrten  Sammlers  und  seine  reiche  Wissenschaft  vom  Buche  der 
deutschen  Vorzeit.  Hof  f mann  von  Fallersleben*  hat  ausführlich 
seinen  ersten  Besuch  in  dem  behaglichen  Bücherheiligtum  beschrieben. 
„Schon  in  Koblenz  hatte  ich  viel  gehört  von  einem  Herrn 
von  Meusebach,  der  dort  Präsident  der  provisorischen  Verwaltung 
der  Rheinlande  gewesen  war  und  dann  als  Geheimer  Rat  an  den 
Rheinischen  Kassations-  und  Revisionshof  in  Berlin  versetzt  sei. 
Der  besitze  eine  große  Bibliothek,  reich  an  altdeutschen  Werken 
[nebenbei  bemerkt  jetzt  ein  kostbarer  Besitz  der  Königlichen  Biblio- 
thek in  Berlin],  sei  ein  großer  Kenner  und  immer  noch  ein  eifriger 
Sammler.  Ich  erfuhr  bald  seine  Wohnung,  eines  Morgens  ging  ich 
zwischen  9—10  hin  und  ließ  mich  anmelden,  wurde  aber  abgewiesen. 
Ich  wiederholte  noch  zweimal  meinen  Besuch  um  dieselbe  Zeit, 
wurde  aber  immer  abgewiesen,  es  hieß:  „Der  Herr  Geheime  Rat 
schläft  noch.^'  Ich  ließ  mich  nicht  abschrecken:  ich  ging  zum  vierten 
Male  hin,  aber  erst  um  11  Uhr.  Diesmal  hatte  ich  sagen  lassen,  der 
Herr  von  Arnim  habe  mich  ja  schon  angemeldet.  Nach  einiger  Zeit 
kehrte  der  Bediente  zurück:  ich  möchte  eintreten.  Herr  von  Meuse- 
bach war  im  eifrigen  Gespräche  begriffen  mit  Frau  von  Savigny, 
begrüßte  mich,  ließ  mich  stehen  und  setzte  sein  Gespräch  fort.    Frau 

326  *  Abb.  223 


19.  JAHRHÜNDEBT 

von  Savigny  war  so  gesprächig,  daß  sich  gar  kein  Ende  absehen  ließ. 
Endlich  nach  einer  guten  Viertelstunde  war  der  Born  ihrer  Bered- 
samkeit versiegt,  und  sie  empfahl  sich.  Meusebach  wendete  sich  nun 
an  mich.  Ich  sprach  einfach  aus,  was  ich  von  ihm  wünschte,  nämlich 
seine  Bücher  zu  sehen.  Das  gefiel  ihm.  Ehe  er  mir  aber  etwas  zeigte, 
öffnete  er  die  Thür  zur  Bibliothek  und  holte  links  aus  der  Ecke  zwei 
gestopfte  Pfeifen,  und  bot  mir  die  eine  an.  Als  wir  so  recht  im  Zuge 
waren,  schloß  er  eine  Tapetenthür  auf,  in  diesem  unbemerkten 
Wandschrank  wurden  die  Lieblingsbücher  und  kostbarsten  und 
seltensten  aufbewahrt.  Zuerst  zeigte  er  mir  das  Lutherische  Ge- 
sangbuch von  1545:  ,Was  sagen  Sie  dazu?'  Ich  freute  mich,  staunte, 
bewunderte.  Es  folgte  nun  eine  ganze  Reihe  derartiger  Bücher,  die 
ich  alle  noch  nie  gesehen  hatte.  Die  Bücherschau  dauerte  bereits  über 
anderthalb  Stunden,  da  trat  Friedrüch,  der  Bediente,  ein:  ,Herr 
Geheime  Rat,  es  ist  angerichtet^  Das  störte  uns  nicht,  wir  fuhren 
in  unserm  angenehmen  Geschäfte  fort.  Friedrich  kam  wieder:  ,Herr 
Geheime  Rat,  das  Essen  steht  schon  längst  auf  dem  Tische.*  —  ,Gut, 
nun  kommen  Sie  mit !'  Ich  hatte  früher  nie  Sauerkraut  essen  können, 
heute  schmeckte  es  mir  vortrefflich,  sowie  der  leichte  Moselwein  — 
einen  andern  führte  der  Geheime  Rat  nicht.  Frau  v.  Meusebach 
lachte,  daß  ich  es  heute  so  schön  getroffen  hätte.  Die  Unterhaltung 
war  sehr  heiter.  Ich  erzählte  allerlei  hübsche  Geschichten  so  unbe- 
fangen, als  ob  ich  in  einem  Kreise  alter  lieber  Freunde  mich  befände.'* 
„Nach  Tische  begaben  wir  uns  wieder  an  unsern  Wandschrank. 
Als  der  Kaffee  kam,  holte  ich  mir  selbst  eine  frisch  gestopfte  Pfeife. 
—  Friedrich  mußte  immer  an  die  dreißig  wohlgereinigt  und  gestopft 
im  Gange  halten.  Meusebach  ergötzte  sich  sehr,  daß  ich  schon  so  gut 
Bescheid  wußte.  Wir  begannen  von  neuem  die  Bücherschau.  Es 
wurde  Licht  angezündet,  wir  setzten  uns.  Jetzt  kamen  die  Lieder- 
bücher und  die  Fischartiana  an  die  Reihe.  Meine  Freude  steigerte 
sich.  Der  Tee  wurde  gebracht.  Frau  v.  Meusebach  kam  mit  ihren 
Kindern.  Das  störte  uns  weiter  nicht.  Wir  unterhielten  uns  und 
besahen  Bücher,  Tee  und  Essen  war  Nebensache.  Die  Kinder  gingen 
wieder  fort,  Frau  v.  Meusebach  folgte  bald  nach,  wir  waren  wieder 
allein.    Eine  frische  Pfeife  wurde  angebrannt.    Es  war  bereits  spät. 

327 


DEUTSCHLAND 

Mein  Bruder  wußte  nicht,  wohin  ich  gegangen  war  —  ich  wollte 
jetzt  nach  Hause.  Ich  mußte  bleiben.  Es  wurde  zwölf,  es  wurde  eins. 
Immer  noch  kein  Ende  .  .  .  Endlich  um  halb  zwei  schieden  wir  und 
waren  nach  funfzehntehalb  Stunden  erster  Bekanntschaft  beide 
recht  frisch  und  vergnügt.  Ich  mußte  versprechen,  meinen  Besuch 
bald  zu  wiederholen,  und  es  fiel  mir  denn  auch  nicht  im  geringsten 
schwer,  recht  bald  Wort  zu  halten.** 

Uhlands  Wunsch:  „Möge  doch  über  dem  Meusebachschen  Nach- 
laß ein  günstiger  Stern  walten,  damit  nicht  eine  Sammlung  ins 
Elend  gehe,  oder  kläglich  zerstreut  werde,  die  so  recht  dem  eigensten 
Leben  des  deutschen  Volkes  angehört  und,  einmal  verschleudert, 
nicht  mehr  zu  ersetzen  wäre,"  ist  in  Erfüllung  gegangen.  Aller- 
dings die  Bücherzimmer,  die  bis  dahin  [nach  Uhlands  Ausdruck]  „im 
Dämmerlicht  eines  Märchens"  gelegen  hatten,  sollten  die  kostbarste 
Hinterlassenschaft  des  alten  Freiherrn  noch  drei  Jahre  nützen,  ehe 
sie  in  fünf  großen  Möbelwagen  der  Königlichen  Bibliothek  in  Berlin 
zur  endgültigen  Verwahrung  zugeführt  werden  konnte. 

Anfang  und  Auflösung  der  Bücherei  Meusebachs  gehören  der 
Romantik  an.  Um  den  Schatz  vor  seiner  Zerstörung  zu  schützen, 
wandte  sich  die  Romantikerin,  Bettina  v.  Arnim  [in  einem  Briefe 
vom  5.  September  1847]  an  den  Romantiker,  König  Friedrich  Wil- 
helm IV.,  in  der  Hoffnung,  der  Bauten  und  Bücher  liebende  Monarch 
werde  sich  Alt-Geltow  selbst  zu  eigen  machen  und  die  Sammlung 
mit  dem  Schlößchen  erwerben,  in  dem  sie  stand:    ,,Eure  Majestät 

haben  eine  stolze  Burg  am  Rhein aber  so  nahe  der  Heimat  ein 

so  sinniges  Asyl,  was  den  Charakter  bürgerlicher  Einfachheit  trägt  — 
einem  genievollen  Geist  ist  es  der  Sitz  des  Behagens  —  einen  solchen 
Sommersitz,  nur  durch  den  Abglanz  der  Natur  verschönt,  den  haben 
Eure  Majestät  noch  nicht.  —  Wo  der  Nußbaum  vor  der  Thür  Schatten 
giebt,  wo  die  Tauben  sich  niederschwingen,  wo  die  Windmühlen  mit 
ihren  Telegraphenarmen  andeuten,  es  gehe  einen  Tag  wie  den  andern, 
wo  die  Segel  im  Wettlauf  bis  zum  Horizont  hintanzen  und  der  Abend- 
schein mit  den  Wellen  der  Havel  sich  zu  purpurnem  Goldstoff  ver- 
webt, wo  die  Frachtwagen  am  Fuße  des  Berges  auf  der  Landstraße 
ächzen,  dann  und  wann  ein  Posthorn  ertönt,  wo  am  Sonntag  in  der 

328 


19.  JAHRHUNDERT 

Ferne  lustiges  Volk  auf  Kähnen  vorüberzieht  und  dann  mit  Einbruch 
der  Nacht  die  Mondstille  alle  Laubgänge  in  somnambulen  Schlummer 
wiegt,  und  der  Hofhund  besser,  verständiger  und  treuer  als  eine 
andere  Behörde  das  geliebte  Tuskulum  überwacht  und  schützt.  — 
Wie  Karl  der  Große  seiner  Geliebten  die  köstlichsten  Kleinodien 
des  Orients,  die  Talismane  der  Wunderkraft  aller  Art  herbeischaffte, 
um  den  Schatz  ihrer  Tugenden  zu  bereichern,  so  hat  Meusebach  durch 
seinen  Scharfsinn  Schätze  gesammelt,  die  man  nirgends  wieder- 
findet. —  Die  Bibliothek  ist  ein  Nationaldenkmal,  das  dem  hohen 
Ruhm  bringt,  der  es  dem  Vaterlande  erhält.  —  Die  Bibliothek  wird 
als  unschätzbar  erachtet,  ich  füge  hier  eine  kurze  Übersicht  dessen 
bei,  was  man  im  ersten  Augenblick  wahrnehmen  kann.  —  Sie  ent- 
hält über  30000  Bände.  —  Was  ich  in  Vorschlag  gebracht  wissen 
möchte,  darüber  habe  ich  mich  vielleicht  nicht  deutlich  genug  aus- 
gedrückt, aber  das  Herz  Eurer  Majestät  weiß  hier  die  Straße  besser 
zu  finden,  als  ich  sie  andeuten  kann.'* 

Nicht  der  aufbrausenden  Begeisterung  Bettinens,  erst  der  be- 
harrlichen Bestimmtheit  eines  Meusebach  nahestehenden  Biblio- 
philen ist  die  Erhaltung  der  Sammlung  gelungen.  Freundschaft- 
lich dem  Kreise  Meusebachs  nahestehend,  durch  Bücherliebhaberei 
und  Sammeleifer  ihm  ebenfalls  verbunden,  war  der  spätere  Adju- 
tant Friedrich  Wilhelms  IV.  und  General  Gustav  von  Below, 
der  1852  starb.  „Herr  von  Below  ist  bibUomanisch  angesehen 
mein  ärgster  Feind  und  kauft  mir  alles  weg^',  meinte  Meusebach 
einmal  mit  jenem  Bibliophilen-Fanatismus,  der  sich  die  Herrschaft 
über  das  eigene  Sammelgebiet  nicht  gern  streitig  machen  läßt.  Auch 
sonst  fehlte  es  ihrem  Verkehr  nicht  an  ähnlich  scherzhaft-spötti- 
schen Wendungen,  wovon  eine  [in  Meusebachs  Fisehartstudien, 
herausgegeben  von  Wendeler,  abgedruckte]  Urkunde  aus  dem  Jahre 
1826  ein  hübsches  Zeugnis  liefert,  die  Below  und  Meusebach  über 
ein  zwischen  ihnen  stattfindendes  Tauschgeschäft  errichteten. 
Below  war  seit  1820  ein  Pantagruehst  und  seine  Vorliebe  für 
Rabelais,  der  in  einer  stattlichen  Ausgabenreihe  seine  Bibliothek 
schmückte,  machte  ihn  ebenso  zum  Förderer  und  Gönner  des  neuen 
deutschen  Rabelaisübersetzers  Regis,  wie  sie  ihn  des  alten  deutschen 

329 


DEUTSCHLAND 

Rabelaisbearbeiters  Fischart  Schriften  suchen  und  damit  zu  Meuse- 
bachs  Nebenbuhler  werden  ließ.  Freilich  ein  Nebenbuhler  von  einer 
unter  Sammlern  seltenen  Selbstlosigkeit,  dem  nicht  der  eigene  Besitz 
sondern  die  Buchpflege  das  Höchste  war.  G.  von  Below  hat  in  seiner 
einflußreichen  Stellung  die  dreijährigen  Verhandlungen  [1847—1850], 
die  dem  Ankauf  der  Bücherei  Meusebachs  vorangingen,  geleitet  und, 
mit  Moritz  Haupt  und  Karl  Lachmann,  zu  einem  glücklichen  Ende 
geführt.  Die  Aufnahme  des  Bestandes  der  Meusebach-Bücherei 
wurde  nach  seinen  Ratschlägen  vorgenommen,  weil  er,  eine  sehr  be- 
herzigenswerte Regel,  darauf  hinwies,  daß  die  geschäftliche  Ver- 
wertung einer  Büchersammlung,  die  nicht  aufgelöst  werden  soll, 
nur  auf  Grund  ihres  guten  Verzeichnisses  möglich  werde.  Als  dann 
durch  allseitiges  Entgegenkommen,  auch  Frau  von  Meusebach  hatte 
den  ursprünglichen  Verkaufspreis  der  Bibliothek  von  60000  Talern 
auf  40  700  Taler  gemindert,  und  nach  Überwindung  der  mannigfach- 
sten Widerstände  1850  die  Bücher  Meusebachs  in  die  Berliner 
Königliche  Bibliothek  aufgenommen  werden  konnten,  gab  das  Datum 
des  Erwerbes  der  glänzendsten  deutschen  Bibliophilen-Germanisten- 
Privatbibliothek  für  eine  öffentliche  Sammlung  auch  das  der  Be- 
endigung einer  Sammelrichtung  an.  Ahnliche  deutsche  Privat- 
bibliotheken geringeren  Umfanges  sind  wohl  auch  noch  in  der 
zweiten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  aufgebaut  und  auf- 
gelöst worden.  Aber  vorwiegend  bevorzugte  die  literarhistorische 
Orientierung  von  nun  an  die  Zeit,  die  den  Bibliophilen-Germanisten 
ferner  lag,  weil  sie  ihnen  noch  allzu  nahe  gewesen  war,  die  Zeit  des 
seit  etwa  1750  neu  aufblühenden  deutschen  Schrifttums,  die 
Klassiker-  und  Romantiker-Epoche. 

Von  den  Berliner  Buchfreunden,  die  gleich  Meusebach  das  alte 
deutsche  Buch  seines  Inhalts  wegen  und  als  Sprachgut  liebten,  sind 
die  meisten  ihm  in  der  strengen  Begrenzung  des  Sammelgebietes 
nicht  gefolgt,  da  sie  ihre  Ausflüge  in  die  Bücherwelt  viel  weiter  aus- 
zudehnen liebten,  wie  das  auch  der  Generalpostmeister  und  Staats- 
minister Karl  Ferdinand  Friedrich  von  Nagler  [1770 — 1846]* 
tat,  der  sich  von  seinem  [in  die  Berliner  Königliche  Bibliothek  und 
die  königlichen  Museen  aufgenommenen]  Sammelbesitz  noch  bei  Leb- 

330  *  Abb.  220 


19.  JAHRHUNDERT 

zelten  trennte.  ,,Es  ist  ein  beschwerliches  Ding  mit  dem  Sammeln. 
Da  ist  kein  Halten  —  bis  endlich  einer  auf  die  Sprünge  des  Herrn 
von  Nagler  und  seines  Arztes  Dr.  Kloss  kommt  und  die  ganzen 
Sammelfreuden  hingiebt  für  weniges  Geld.  Herr  von  Nagler  für 
92000  Thl.  !**  schrieb  Meusebach  darüber  am  14.  Juli  1835  an  Moritz 
Haupt.  Ein  ähnliches  und  doch  noch  schlimmeres  Schicksal,  das 
ihrer  gänzlichen  Auflösung,  ist  den  Büchereien  von  Karl  Wilhelm 
Ludwig  Heyse  [1797-1855]  und  Karl  Biltz  [1830-1901]  nicht 
erspart  geblieben,  die  nach  ihrer  Art  der  Meusebach-Bücherei  ver- 
gleichbar gewesen  waren,  obgleich  sie  deren  Umfang  und  Wert 
nicht  erreicht  hatten.  Dafür  sollte  die  bedeutendste  Bibliophilen- 
Germanisten-Bibliothek  Süddeutschlands  das  Ehrendenkmal  ihres 
Urhebers  werden. 

Mehr  noch  als  Uhland  vertrat  in  Schwaben  die  Bibliophilen- 
Germanisten  und  die  Romantiker  Joseph  Freiherr  von  Laß- 
berg [1770—1855],  dessen  Bildnis  in  der  Geschichte  der  deutschen 
Bücherliebhaberei  und  des  deutschen  Büchersammelwesens  das 
Gegenstück  zu  des  Freiherrn  G.  v.  von  Meusebach  Porträt  ist.  In 
Donaueschingen  geboren  und  bis  1817,  seit  1804  als  Geheimrat  und 
Landesforstmeister,  in  fürstlich  Fürstenbergischen  Diensten  stehend, 
hat  er  auf  seinem  Landsitz  Eppishausen  im  Thurgau  —  nach  dem  er 
sich  Meister  Sepp  von  Eppishausen  auf  seinen  Schriften  zu  nennen 
pflegte  —  und  [seit  1838]  auf  dem  alten  Schlosse  Meersburg  am  Boden- 
see einen  altdeutschen  Bücherschatz  zusammengetragen,  der  nach 
seinem  Tode  in  die  fürstlich  Fürstenbergische  Hausbibliothek  kam, 
die,  an  kostbaren  Manuskripten  schon  vorher  reich,  recht  eigent- 
lich erst  seit  der  Einverleibung  der  11000  Druckwerke  und  273 
Handschriften  der  Laßbergschen  Privatbibliothek  den  raschen  Auf- 
schwung zu  ihrer  gegenwärtigen  Bedeutung  nahm.  Manche  Unter- 
stützung seiner  Sammelarbeit  hatte  der  Enthusiast  und  histori- 
sierende Romantiker  der  fürstlichen  Familie,  insbesondere  der  Fürstin 
Elise,  verdankt.  Sie  war  es  auch  gewesen,  die  ihm  jene  250  Dukaten 
lieh,  mit  denen  er  die  Nibelungenhandschrift  [C]  gekauft  hatte,  die, 
während  des  Wiener  Kongresses  unter  den  dort  versammelten  Wür- 
denträgern ausgeboten,  in  Gefahr  geraten  war,  nach  England  ent- 

331 


DEUTSCHLAND 

führt  zu  werden.  In  einer  ,mittelalterlichen*  Umgebung,  die  er  sich 
im  romantischen  Zeitgeschmack  schuf,  der  er  aber  doch  das  Opfer 
seiner  gewaltigen  Tabakspfeifen  nicht  zu  bringen  vermochte,  lebte 
der  Buchfreund  und  Bücherkenner  in  der  deutschen  Vergangenheit; 
ein  geselliger  Mann,  mit  Begeisterung  und  Eifer  die  neugewonnene 
Wissenschaft  pflegend  und  durch  Besuche  und  Briefwechsel  einen 
regen  Verkehr  mit  ihren  Meistern  unterhaltend.  Und  wenn  er  dann 
in  einen  seiner  Kodizes  mit  der  kunstgeübten  Hand  sein  gotisch 
stilisiertes  Wappen  als  Büchereizeichen  hineinmalte,*  dann  durfte  er 
wohl  seinen  Liebhngstraum  träumen:  als  Schwabe  ein  echter  Nach- 
komme jener  Minnesänger  und  goldenen  Ritterzeit  zu  sein,  mit  deren 
Entdeckung  die  Bibliophilen- Romantiker  der  Germanistik  einen  Weg 
gewiesen  hatten,  der,  wenn  er  schließlich  auch  zu  anderen  Tielen 
führte,  ohne  die  fleißigen  Sammler  den  fleißigen  Sichtern  viel  be- 
schwerlicher geworden  sein  würde. 

Unter  den  Verdiensten  der  Romantik  war  dieses  nicht  das 
geringste  gewesen,  aus  den  literarischen  Studien  die  literarhistori- 
schen zur  Anerkennung  gebracht  und  recht  eigentlich  erst  für  das 
deutsche  Sprachgebiet  einer  Literaturwissenschaft  gegründet  zu 
haben.  Aus  dem  katalogisierenden  Literator,  der  in  der  Gelehrten- 
geschichte recht  und  schlecht  auch  die  schönen  Geister  registriert 
hatte,  wurden  die  Vertreter  wissenschaftlicher  Fächer,  die  mehr  und 
mehr  auf  engere  Sondergebiete  sich  einschränkten.  Hatten  am  An- 
fange des  Jahrhunderts  noch  Germanistik  und  Romanistik,  hatte  die 
vergleichende  Sprachwissenschaft  immerhin  noch  einen  romantisch 
weiten  Ausblick  auf  die  Universalpoesie  gehabt,  so  verlor  sich  dieser 
desto  mehr,  je  strenger  wissenschaftlich  die  neuen  Disziplinen  sich 
entwickelten.  Ja  die  allgemeine,  die  philosophierende  Betrachtung 
der  Geschichte  des  menschlichen  Geistes  und  seines  Schrifttums, 
die  im  Herderschen  humanitätsidealistischen  und  im  Goetheschen 
sozialethischen  Sinne  auf  eine  Weltliteratur  wies,  kam  ebenfalls  auf 
die  Einschränkung  in  das  literarhistorische  Element  zurück  und  die 
literarische  Orientierung  der  Bibliophilen  wurde  in  der  zweiten  Hälfte 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  zu  einer  bibliographisch-kritischen; 
zu  einer  Orientierung,  die  nun  allerdings,  dank  der  Ausbreitung  und 

332  *  Abb.  222 


19.  JAHRHUNDEKT 

Vertiefung  der  Fachwissenschaften,  allseitiger  und  tiefer  die  Bücher- 
massen übersah.    Das  Bibliotheksideal,  das  die  Bücherwahl  hieraus 
sich  bilden  konnte,  erweckte  das  Verlangen,  die  Meisterwerke  aller 
Völker  und  Zeiten  in  der  Bücherei  zu  vereinen,  Vollständigkeit  der 
wertvollsten  Werke  in  ihren  besten  Ausgaben  zu  gewinnen.   Das  war 
ein   Eklektizismus,    der    mehr  noch    als  international,    der    inter- 
intellektuell zu  nennen  sein  würde,  sofern  dann  für  die  Persönlich- 
keit des  Sammlers  selbst  in  seiner  Bücherstube  kein  Raum  mehr 
bliebe.     Doch  hat  schon  der  deutsche  Buchfreund,  der  in  seinen 
Katalogwerken   seit   1894   die  Weltliteratur  so  interpretierte,   der 
Dichter  Eduard  Grisebach  [1845—1906],*    den  Subjektivismus 
einer  derartigen  Auswahl  nicht  nur  betont,  sondern  auch  selbst  be- 
wiesen.   Sie  ist  nichts  weiter  als  die  mit  der  Entwicklung  der  Natio- 
nalliteraturen    sich    verbreiternde    Anerkennung    eines    Klassiker- 
kanons   auf   literarhistorischer   Grundlage,    verbunden   mit   dessen 
bibliographischer   Ausdeutung.     Und    sie   wird   immer   mehr   oder 
weniger  die  Richtungen  einer  Sammlung  sich  festen  Mittelpunkten 
Zuwenden  lassen,  die  für  die  Bibliothek  Grisebachs  eine  ästhetische 
Orientierung   nach   der   Persönlichkeit   Schopenhauers   hin   wurde. 
Die  Betrachtungsweise  des  Schrifttums  ist  hierbei  zu  der  seiner 
Kunstwerke  geworden,  nicht  im   Sinne  einer  ausschließlichen  Ein- 
schränkung auf  die  Wortkunst,  sondern  in  dem  der  Anerkennung 
einer  geistigen  und  literarischen  Schöpfung,  die  die  Buchverkörperung 
eines  Werkes  zeigt.    [Wozu  dann  die  literarhistorische  Betrachtungs- 
weise noch  die  Ergänzungen  heranzieht,  die  den  Begriff  der  literari- 
schen Persönlichkeit  biographisch-psychologisch  vertiefen.]    Auch  in 
den  Fachwissenschaften  lassen  sich  solche  nach  Form  und  Inhalt  blei- 
bende Leistungen  auffinden;  ebenso  wie  in  der  Philosophie  und  nicht 
nur  in  der  Poesie  der  Begriff  des  Kunstwerkes  sich  ihren  besten 
Büchern  aneignen  läßt.    Daraus  ergibt  sich  aber  auch  die  eigene 
seelische   Mitarbeit   als   die   Quelle   des    Kunstgenusses.     In   dieser 
[,objektiven']  Kunsttheorie  liegt  nun  eine  Erklärung  für  das  Wesen 
der  Bibliophilie  überhaupt.    Die  geistige  und  die  gelehrte  Arbeit  des 
Forschens  und  Lernens  verbindet  sich  in  ihr  am  Gegenständlichen 
des  Buches  und  an  der  geschichtlichen  Greifbarkeit  eines  Vergangen- 

*  Abb.  233—236  333 


DEÜTSCHL  AND 

heitszeugen,  wo  dann  das  alte  Buch  in  seinen  verschiedenartigen 
Erscheinungsformen  des  Sammlerstückes  für  den  Buchfreund  ebenso 
wie  das  seiner  Gegenwart  ihm  lebendig  wird.  So  läßt  sich  die  Biblio- 
philie  als  ein  Vergnügen  und  eine  Weisheit,  die  mit  allen  Mitteln  die 
sinnliche  Anschaulichkeit  eines  Werkes  zu  erhöhen  und  für  den 
Leser  zu  erreichen  strebt,  von  der  ihr  ebenfalls  notwendigen  Arbeits- 
zweckform einer  Büchersammlung  trennen,  deren  beste  Buchpflege 
das  Buch  im  Dienste  seines  Gebrauchers  hält.  BibUophilie  ist  die 
Auffassung  des  Buches  als  des  Vermittlers  eines  Geisteswerkes  und, 
in  einer  Erweiterung  der  Doktrin  der  Bibliophilen- Humanisten,  die 
in  ihm  lediglich  den  Vertreter  einer  literarischen  Persönlichkeit 
sahen,  als  eines  Stimmungsträgers,  der  etwa  eine  geschichtliche 
Rückerinnerung  versinnlicht,  ein  seelisches  Erlebnis  verstärkt. 
Weiterhin  aber  auch  eine  Bibliotechnik,  die  die  beste  Buch-  und 
Büchereigestaltung,  die  nach  Möglichkeit  alle  Buchnutzwerte  er- 
schließt, sich  wünscht.  Von  der  Bücherliebhaberei,  der  angeborenen 
oder  anerzogenen  Buchfreude,  kann  sie  sich  bis  in  die  geistigen  und 
seelischen  Höhen  erstrecken,  die  sie  des  Bibliophilen  Persönlichkeit 
finden  läßt,  sich,  nach  ihrer  jeweiligen  Artung,  in  einem  Biblio- 
philentemperament  ausgleichend.  Inwieweit  dabei  der  Buchfreund 
auch  noch  zu  einem  Büchersammler  wurde,  ist  hierfür  gleich- 
gültiger. 

Arthur  Schopenhauer  [1788— 1860] ,  Verächter  und  Verehrer 
des  Buches,  war  wohl  derjenige  unter  den  großen  Philosophen,  der  die 
gewählteste  Privatbibliothek  hatte.  Seine  sehr  weitreichende  Bil- 
dung —  er  war  ebenso  als  Weltmann  mit  den  europäischen  Haupt- 
sprachen, in  deren  Ländern  er  gelebt  hatte,  vertraut  geworden,  wie 
mit  den  klassischen  Sprachen  in  streng  philologischer  Schulung,  er 
hatte  das  naturwissenschaftliche  Studium  auf  der  Universität  nicht 
vernachlässigt  und  den  Erzeugnissen  des  orientalischen  Schrift- 
tums eine  ununterbrochene  Aufmerksamkeit  zugewendet  —  bedingte 
ihm  eine  umfassendere  Auswahl  als  sie  die  üblichen  wissenschaftlichen 
Büchersammlungen  haben  konnten;  eine  Auswahl,  deren  Breite  seine 
strengen  Ansprüche  an  das  Buch  einschränkten  auf  eine  dünne  Ober- 
schicht der  besten  Bücher.    Denn  auch  er  mußte  sich,  obschon  er 

334 


19.  JAHRHUNDERT 

sein  Leben  der  freien  Beschäftigung  seines  Geistes  widmen  durfte; 
obschon  er  die  Kunst  des  Lesens  in  der  Vollendung  übte,  eingestehen, 
es  wäre  gut,  Bücher  kaufen,  wenn  man  die  Zeit,  sie  zu  lesen,  mit- 
kaufen könnte.    Niemand  hat  so  häufig  über  die  Verschwendung 
von  Zeit  an  die  schlechten  Bücher  geklagt.    Und  niemand  mit  so 
herbem  Urteil  die  kopfverderbenden  Bücher  verachtet.    Für  Scho- 
penhauer  galt   es  als   Grundsatz:      Kein  Buch  kann  den    eigenen 
Geist  ersetzen,  und  als  Ausnahme  dieser  Regel:  die  Menschen  können 
nicht  allein   sein,  sie  brauchen  Gesellschaft,  wenigstens   ein  Buch. 
Eine  Ausnahme,  die  er  sich  in  Lebensregeln  bestätigte:  Man  kann 
Bücher  von  Leuten  lesen,  an   deren   Umgang  man  kein  Genügen 
finden  würde  —  Hohe  Geisteskultur  bringt  dahin,  daß  man  nur  noch 
an  Büchern,  nicht  mehr  an  Menschen  Unterhaltung  findet.   Wer  das 
Glück  hat,  mehr  mit  Büchern  als  mit  Menschen  leben  zu  dürfen, 
vergißt  leicht,  wie  es  in  der  wirkhchen  Menschenwelt  hergeht  und 
übersieht  die  Kluft,  welche  zwischen  dem  Volk  und  den  Büchern  ist. 
Aber  die  Ablehnung  der  Bücher  hält  mit  seiner  Anerkennung  des 
Buches  sich  doch  die  Wage.    Die  Zahl  der  Bücher,  welche  in  einer 
Sprache  geschrieben  werden,  mag  sich  zur  Zahl  derjenigen,  welche 
einen   Teil   ihrer   bleibenden    Literatur   ausmachen,   verhalten   wie 
Hunderttausend  zu  Eins.  —  Wohl  neun  Zehntel  aller  Bücher  sind 
schlecht    und    hätten    sollen    ungeschrieben   bleiben.    —    Schlechte 
Bücher  sind  intellektuelles  Gift.   —   Viele  Bücher  taugen  bloß  zu 
zeigen,  wie  viele  Irrwege  es  gibt.  —  Derart  mahnte  er  sich  ständig 
zur  Vorsicht  in  seinem  Büchergebrauch  und  in  seiner  Bücherwahl, 
empfahl  sich,  das  Buch  wegzuwerfen,  bei  dem  man  merke,  daß  man  in 
eine  dunklere  Region  gerate  als  die  eigene  sei  und  der  Autor  bloß 
schreibe,    um  Papier  zu  füllen.     Man  hüte  sich,  immer  nach  den 
neuesten  Büchern  zu  greifen  und  die  gediegenen  älteren  ungelesen 
zu  lassen.   Jedes  wichtige  Buch  soll  man  sogleich  zweimal  lesen.  Mit 
ähnlichen    Aussprüchen    Schopenhauers    ließe    sich    ein    modernes 
Philobiblon  kompilieren,  so  mannigfaltig  und  zahlreich  sind  sie  in 
seinen    Schriften    zerstreut.     Ein    modernes    Kompendium.     Denn 
Schopenhauer    gehörte     zu    den    ersten,    die   aus    dem  Begriff   der 
Literatur,  wie  ihn  die  Bücher  durch  ihr  Vorhandensein  schufen,  den 

335 


DEUTSCHLAND 

Begriff  einer  Literatur  aussonderte,  der  die  Bücher  als  deren  Wert- 
träger auffaßte.    Er  meinte,   Litteratur  müsse  geschrieben  werden 
nicht  Literatur,  welches  von  linere,  schmieren,  kommt.    Übrigens 
könnte  man  eine  sehr  kleine  Litteratur  und  eine  sehr  ausgedehnte 
Literatur  unterscheiden.    Es  gibt,  zu  allen  Zeiten,  zwei  Literaturen: 
eine  wirkliche,  bleibende,  stehende  Literatur,  welche  sehr  klein  ist, 
und  eine  bloß  scheinbare,  vergängliche,  fließende  Literatur,  welche 
sehr  groß  ist.    Zu  fast  jeder  Zeit  ist  in  der  Literatur  eine  falsche 
Grundansicht,  Manier,  im  Schwange.    Welch  unschätzbarer  Gewinn 
würde  es  sein,  wenn,  in  allen  Fächern  einer  Literatur,  nur  wenige, 
aber  vortreffliche  Bücher  existierten.    Bei  dieser  Sachlage  und  einer 
richtigen  Einschätzung  des  Lesens  [Das  Leben  ist  ein  bloßes  Surro- 
gat des  Denkens  —  Gelesene  Gedanken  sind  die  Überbleibsel  eines 
fremden  Mahls  —  Man  soll  sich  nicht,  des  Lesens  wegen,  den  An- 
blick der  realen  Welt  entziehen.  —  Wir  behalten  viel  besser,  was  wir 
erlebt,  als  was  wir  gelesen  haben]  muß  in  Hinsicht   auf  die  Lek- 
türe, die  Kunst,  nicht  zu  lesen,  höchst  wichtig  sein.   Man  lese  nicht, 
was  soeben  das  größere  Publikum  beschäftigt^  auch  nicht  die  Dar- 
stellungen der  Lehren  großer  Geister  aus  zweiter  Hand.    Um  das 
gute  zu  lesen,  ist  eine  Bedingung,  daß  man  das  Schlechte  nicht  lese. 
Vom  Schlechten  kann  man  nie  zu  wenig  und  das  Beste  nie  zu  oft 
lesen.    So  stellte  Schopenhauer  ein    Bibliophilieideal  auf,   das  als 
Bibliosophieideal  gelten  kann.    Doch  verschloß  er  sich  auch  keines- 
wegs der  Wirklichkeit,  der  Zweckerfüllung  des  Buches.   Bücher  sind 
das  papierne  Gedächtnis   der  Menschheit.     Bücher  teilen  nur  Be- 
griffe mit,  keine  Anschauung.   Bücher  sind  nicht  als  Quellen  der  Er- 
kenntnis, sondern  nur  als  Beihilfe  zu  benützen;  sie  sind  bloße  Sprossen 
der  Leiter,  auf  der  man  zum. Gipfel  der  Erkenntnis  steigt.    Ein  Buch 
kann  nie  mehr  sein,  als  der  Abdruck  der  Gedanken  des  Verfassers. 
Man  lese  die  Urheber  der  Sachen  und  kaufe  lieber  die  Bücher  aus 
zweiter  Hand  als  ihren  Inhalt.    Der  Wert  Hegt  entweder  im  Stoff, 
in  dem,  worüber  der  Verfasser  gedacht  hat,  oder  in  der  Form,  in 
dem,  was  er  darüber  gedacht  hat.   Vermöge  des  Stoffes  können  ganz 
gewöhnliche    Menschen    wichtige    Bücher   schreiben,    z.    B.    Reise- 
beschreibungen; wo  es  hingegen  auf  die  Form  ankommt,  da  vermag 

336 


19.  JAHRHUNDERT 

nur  der  eminente   Kopf  etwas   zu  leisten.    Quantität    des  Wissens 
[Gelehrsamkeit]  erteilt  den  Büchern  bloß  Dicke,  Qualität  desselben 
[Einsicht]  hingegen  Gründlichkeit  und  Stil.    Die  Hälfte   fast  jedes 
Buches  besteht  aus  Gedanken,  die  an  und  für  sich  keinen  Wert  haben, 
die  aber  der  Zusammenhang  nötig  macht.    Bücher,  die  aus  lauter 
wertvollen  Gedanken  bestehen,  wobei  das  Wertvolle  zugleich  das 
Notwendige  und  umgekehrt  ist,  sind  ein  Wunder.    Als  Büchersamm- 
ler hat  Schopenhauer  das  Wunderbare  nicht  gesucht,  hat  er  auch  die 
ihm  vermöge  ihres  Stoffes  wichtigen  Bücher  bewahrt,  um  sie  zur 
Hand  zu  haben.     Die  Ansicht  Schopenhauers  war:    ,,Wie  die  zahl- 
reichste Bibliothek,  wenn  ungeordnet,  nicht  soviel  Nutzen  schafft  als 
eine  sehr  mäßige,  aber  wohl  geordnete,  ebenso  ist  die  größte  Menge 
von  Kenntnissen,  wenn  nicht  eigenes  Denken  sie  durchgearbeitet  hat, 
viel  weniger  wert  als  eine  weit  geringere,  die  aber  vielfältig  durchdacht 
worden.'*     Dieser  Vergleich  des  Philosophen  verweist  darauf,   daß 
die  Bibliothekstechnik  noch  einen  höheren  Zweck  erfüllen  müsse, 
als  den,  die  Büchersammlung  durch  ihre  Aufstellung  in  eine  äußere 
Ordnung  zu  bringen.    An  einer  solchen  ließ  es  der  Philosoph  nicht 
fehlen.    Ebenso,  wie  er  seine  Bücherei  planmäßig  anlegte  und  ver- 
mehrte, dabei,  seine  Auktionsaufträge  mit  ihren  Limiten  beweisen 
das,^  achtsam  auf  das  wirtschaftliche,  hielt  er  sie  bei  aller  Bescheiden- 
heit in  ihrer  Ausstattung  in  gutem  Stande;  er  verwendete  ein  Ex  libris,* 
um  jedem  Bande  seine  Zugehörigkeit  zum  Ganzen  anzudeuten.   Denn 
den  Büchern,  die  er  für  minderwertig  hielt,  versagte  er  dieses  Zeichen. 
Die  Anschauungen  des  englischen  Gentleman,  die  das  Beispiel  seines 
Vaters  und  seine  Jugenderziehung  ihm  verliehen  hatten,  die  er  in 
seiner  Lebensführung  verwirklichte,  ließen  ihm  die  Bücher  als  einen 
zum    Komfort    des    Lebens   notwendigen    Hausrat   erscheinen.     Er 
verleugnete    sein  Weltmannstum,    das   Kosmopolitische   in   seinem 
Wesen,  auch  nicht  in  seiner  Privatbibliothek,  in  der  er,  der  neben 
den   deutschen   auch   die   griechischen,   lateinischen,   französischen, 
italienischen,  spanischen,  englischen  Autoren  in  ihrer  Ursprache  las; 
es    in  eine  philosophische  Universalität  weitete.    Wenn  er  dann  die 
beste   Zeit  des  Tages,   die  frühen  Vormittagsstunden,   der  eigenen 
schöpferischen  und  schriftstellerischen  Tätigkeit  vorbehalten  hatte, 

BOGEKO    2a  *Abb.  218,219  337 


DEUTSCHLAND 

kam  er  in  der  bedachtsam  eingerichteten  Ökonomie  seiner  Lebens- 
führung am  Abend  zu  den  Büchern.  Viel  weniger  feierlich  als  Ma- 
chiavelli,  viel  weniger  an  ihre  Autorität  glaubend  als  der  Italiener. 
Er  benutzte  dann  seine  Bücher,  durch  Anstreichungen  oder  Rand- 
schriften den  Stoff,  den  er  für  die  Darstellung  seiner  eigenen  Ge- 
danken brauchen  oder  verbrauchen  wollte,  sich  erläuternd.  Nicht 
ohne  daß  ihm  diese  Unterhaltungen  mit  seinen  Büchern  gelegentlich 
auch  zu  einer  lebhafteren  Auseinandersetzung  mit  ihren  Verfassern 
wurden;  wobei  es  dann  im  raschen  Urteilen  an  Anerkennung  oder, 
häufiger  noch,  an  Widerspruch  nicht  fehlte.  Bisweilen  sind  die  mit 
Blei  gemachten  Randschriften  später  mit  Tinte  nachgezogen,  ein 
Zeichen  wiederholten  Lesens,  bisweilen  verlaufen  sie  in  kleinen 
Kritzeleien  oder  Porträtskizzen  auf  den  Vorsatzblättern,  ein  Zeichen 
verweilenden,  nachdenklichen  Lesens.  Doch  fehlte  es  hierbei  nicht 
an  einer  gewissen  äußeren  Ordnung  der  kritischen  Siglen,  die  in  sich 
gleichbleibender  Form  die  Nuancierung  der  Randschriften  durch- 
führten. Die  Persönlichkeit  des  Philosophen  in  seiner  Privatbiblio- 
thek wiederzufinden  gestatten  die  Randschriften  Schopenhauers; 
und  dazu,  an  einem  unvergleichlichen  Vorbilde  einen  modernen 
Bibliophilencharakter  in  seiner  Vollendung  zu  studieren.   — 

Der  Buchhandel  in  den  deutschen  Landen  hatte  die  nationale 
Einigung  im  neuen  Reich  vorweggenommen  und  damit  selbst  eine 
starke  wirtschaftliche  Stellung  errungen.  Waren  im  Anfange  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  unter  dem  Zwange  äußerer  und  innerer 
ungünstiger  politischer  Verhältnisse  die  das  achtzehnte  Jahrhundert 
beschäftigenden  Auseinandersetzungen  über  Preßfreiheit  und  Ur- 
heberrechtsschutz weitergeführt  worden;  so  gab  jetzt  der  im  Zu- 
sammenhange mit  ihnen  entstandene  Metternichsche  Plan,  zur 
Beaufsichtigung  des  Buchhandels  ihn  zu  verstaatlichen,  den  Anlaß 
zur  Begründung  des  ,Börsenvereins  der  Deutschen  Buchhändler' 
[1825]  und  damit  zur  Einigung  des  deutschen  Gesamtbuchhandels, 
die  bald  von  ihren  ersten  politischen  Zwecken  abgehend  die  ökono- 
mischen voranstellte;  derart  den  buchgewerblichen  Wirtschafts- 
zweigen, die  infolge  der  Industrialisierung  der  Buchherstellungs- 
verfahren, die  das  Maschinenzeitalter  mit  seinen  neuen  deutschen  Er- 

338 


19.  JAHRHUNDERT 

findungen  der  Schnellpresse,  des  Holzpapieres  usw.  veranlaßte,  einen 
festen  Halt  verleihend,  dessen  Mittelpunkt  Leipzig  war.  In  den 
siebziger  Jahren  des  neunzehnten  Jahrhunderts  beendete  auch  die 
Reichsgesetzgebung  die  noch  bestehenden  Rechtsunsicherheiten  auf 
dem  Gebiete  des  Verkehrs  mit  Geistesgütern.  Das  Anwachsen  der 
Büchermassen  ließ  dann  am  Ende  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
ebenso  in  Norddeutschland  [Berlin]  wie  in  Süddeutschland  [München 
und  Stuttgart]  eine'nötig  gewordene  Dezentralisierung  eintreten,  ohne 
das  feste  Gefüge  der  buchhändlerischen  Organisation  zu  zerstören, 
der  der  deutsche  Altbuchhandel  sich  sinngemäß  eingegliedert  hatte. 

„Die  Litteratur  umfaßt  beynahe  das  ganze  geistige  Leben  des 
Menschen."  Dieses,  Friedrich  Schlegels  , Geschichte  der  alten  und 
neuen  Literatur*  entlehnte,  Motto  hatte  Friedrich  Perthes  1816  auf 
das  Titelblatt  seiner  Flugschrift:  ,Der  deutsche  Buchhandel  als  Be- 
dingung des  Daseyns  einer  deutschen  Litteratur'  gesetzt,  in  der  er 
von  dem  eben  geschlossenen  äußeren  Bund  der  deutschen  Staaten 
für  das  innere  Bildungsmittel  , Deutsche  Sprache  und  Litteratur* 
einen  die  Ordnung  des  buchhändlerischen  Verkehrs  ermöglichenden 
rechtlichen  Schutz  verlangte  und  es  als  den  eigentlichen  Beruf  des 
deutschen  Buchhandels,  eines  auf  sich  selbst  beruhenden,  aus  dem 
eigensten  deutscher  Geschichte  und  Verfassung  hervorgegangenen 
Instituts,  bezeichnete,  die  Einheit  der  deutschen  Litteratur  zu  er- 
halten und  zu  befördern  und  alles  zu  beseitigen,  was  diese  stören  und 
gefährden  könne. 

Altbuchhandel  mit  Druckwerken  bestand  seit  den  Anfängen  der 
Wiegendruckzeit,  da  bereits  damals  die  Buchführer  nebeneinander 
alte  und  neue  Bücher  kauften  und  tauschten.  Seine  Ausbildung  zu 
den  heute  hier  noch  üblichen  Geschäftsformen  vollzog  sich  seit  dem 
achtzehnten  Jahrhundert;  seitdem  der  Begriff  des  Liebhaber- 
preises, der  alten,  seltenen,  vergriffenen  Werke  die  Begehrlichkeit 
der  Sammler  auf  bestimmte  Ausgaben  lenkte.  Demgemäß  vollzog 
sich  die  Entwicklung  des  Antiquariats  im  Zusammenhange  mit  der 
der  Bibliographie  und  Bibliophilie.  Um  1800  waren,  durch  die 
Säkularisationen  in  Süddeutschland,  die  alten  geistlichen  Anstalts- 
bibliotheken, von  denen  manche  eben  nach  langem  Verfall  zu  einer 

22*  339 


DEUTSCHLAND 

neuen  Blüte  kamen,  aufgelöst  und  verstaatlicht  worden.  Aber  dem 
Altbüchermarkt  und  den  Büchersammlern  ging  ihr  Anteil  an  diesem 
plötzlichen  Bücherüberfluß  häufig  kostbarer  und  seltener  Werke 
trotzdem  nicht  verloren;  zumal  da  bisweilen  die  Überführung  der 
Büchermassen  in  die  staatlichen  Sammlungen  sich  nicht  mit  der  not- 
wendigen geschäftlichen  und  wissenschaftlichen  Strenge  vollzogen 
hatte.  In  München,  wo  mit  einem  Male  die  Hof-  und  Staatsbiblio- 
thek auf  etwa  400000  Druckwerke,  darunter  13000  Wiegendrucke, 
und  auf  16000  Handschriften  angewachsen  war,  konnte  ein  Bücher- 
kenner wie  Carl  Erenbert  Freiherr  von  Moll  [1760— -1838] 
fast  ein  Hunderttausend  Bände  zusammenbringen,  die  er  durch  Ge- 
schenke oder  Verkäufe  —  1815  kaufte  das  British  Museum  von  ihm 
für  4500  Pfund  eine  Auswahl  von  20000  Bänden,  1816  die  durch  den 
Brand  von  1812  vernichtete  Moskauer  Bibliothek  gegen  eine  Leib- 
rente von  2500  Gulden  50000  Bände,  1817  und  1827  schenkte  er  der 
Münchener  Hofbibliothek  an  die  15000  bis  20000  Bände  —  großen- 
teils weiterleitete.  Und  lange  nachher  noch  gelang  es  dem  Augs- 
burger Händler  Albert  Fidelis  Butsch,  Dublettenankäufe  von 
der  Hofbibliothek  in  München  zu  machen,  deren  Art  seine  Auktion 
von  1858  erkennen  läßt,  die  erweist,  von  welchen  Bücherschätzen 
sich  in  diesen  Jahrzehnten  eine  große  öffentliche  Bibliothek  noch  zu 
trennen  vermochte. 

Die  Bewältigung  der  sich  aufstauenden  Büchermassen  durch 
einen  gelehrten  und  geschickten  Sammler  bewies  Johann  Georg 
Burckhard  Franz  Kloss  [1787—1854],  bekannt  als  Geschichts- 
schreiber der  Freimaurerei,  seit  1810  praktischer  Arzt  in  seiner 
Vaterstadt  Frankfurt  a.  M.  Schon  als  Student  hatte  er  systematisch 
10000  medizinische  Dissertationen,  die  er  1820  für  560  Taler  der 
Universität  Bonn  verkaufte,  zusammengebracht.  Dann  sammelte 
er  nach  genau  bestimmtem  Plane,  zunächst  mit  der  Absicht,  Panzers 
bis  1536  sich  erstreckende  Bibliographie  zu  vervollständigen,  die 
deutschen  bis  zum  Jahre  1550  erschienenen  Druckwerke.  Dabei  half 
ihm  seine  Zeit,  in  der  einerseits  viele  alte  deutsche  Klosterbiblio- 
theken aufgelöst  wurden,  anderseits  nur  verhältnismäßig  sehr 
wenige  deutsche  Sammler  diese  Bücher  verlangten.    So  brachte  er 

340  *  Abb.  232 


19.  JAHRHUNDERT 

in  den  Jahren  1817  bis  1835  eine  Bibliophilenbibliothek  zustande, 
deren  Grundstock  drei  alte  Büchereien  bildeten,  die  des  1503  ge- 
storbenen Bischofs  von  Worms,  Johannes  von  Dalberg,  die  des 
Bernhard  Adelmann  von  Adelmannsted  und  die  Kirchen- 
bibliothek von  Eßlingen.  Dazu  kamen  dann  viele  wertvolle  Erwerbun- 
gen aus  den  Sammlungen  des  1542  gestorbenen  Christoph  Scheurl, 
Schöffers,  Johann  Fichards,  der  1581  gestorben  war,  und  aus 
der  Abteibibliothek  zu  Ochsenhausen,  sowie  aus  dem  Besitze  mancher 
zeitgenössischer  Sammler.  Diese  Bibliothek  ließ  Kloß  1835  durch 
Sotheby  in  London  versteigern.  Mr.  S.  L.  Sotheby  wollte,  wie  er 
auch  in  einem  besonderen,  1839  erschienenen,  Werke  zu  beweisen 
suchte,  gefunden  haben,  daß  zahlreiche  Bücher  der  Kloßschen 
Sammlung  mit  Randschriften  Philipp  Melanchthons  versehen  seien; 
eine  Behauptung,  der  Kloß  selbst  mit  aller  Entschiedenheit  wider- 
sprach [Serapeum  1841,  Nr.  24].  Kloß  hatte  1833  seine  Bibliothek 
verschiedenen  größeren  Bibliotheken  Deutschlands  für  den  geringen 
Preis  von  17000  Talern  angeboten,  und  erst  als  dieses  Angebot  er- 
folglos geblieben  war  —  was  um  so  erstaunlicher  ist,  als  Kloß  seine 
Bücherei,  wie  ihr  in  der  Frankfurter  Stadtbibliothek  befindlicher, 
von  ihm  geschriebener,  Originalkatalog  zeigt,  sich  mit  Recht  den 
damaligen  großen  öffentlichen  Bibliotheken  vergleichen  konnte  — 
sie  ins  Ausland  gehen  zu  lassen.  So  erzielte  diese  prächtige  Samm- 
lung in  einer  miserabel  geleiteten  Auktion,  einer  Auktion,  in  der 
die  Fust-Schöff ersehe  Bibel  von  1462  £  20  10  s,  das  Catholicon  von 
1460  £  19  15  s  brachten,  die  außerordentliche  geringe  Summe  von 
£  2261  für  4682  Lose.  Auch  nach  solch  doppelt  schmerzlichem  Ver- 
lust seiner  schönen  Bücherei  sammelte  Kloß,  aber  nur  in  beschränk- 
tem Umfange,  Monumenta  typographica;  sein  Sammlertalent  ver- 
wertete er  jetzt  für  den  Ausbau  seiner  die  Freimaurerei  betreffenden 
Kollektion  von  Handschriften  und  Drucken.  Sie  ging  nach  seinem 
Tode  in  den  Besitz  des  Prinzen  Friedrich  der  Niederlande  über,  der 
sie  der  Großloge  der  Niederlande  zum  Geschenk  machte.  1862  wurde 
sie  dann  im  Haag  gesondert  aufgestellt. 

Buchgeschichtliche  und  buchgewerbliche  Sammlungen  sind  seit- 
dem in  Deutschland  zu  einer  ganz  anderen  Geltung  gelangt  und  die 

341 


DEUTSCHLAND 

berühmte  Inkunabelnbibliothek  des  1889  gestorbenen  Kommissions- 
rates Heinrich  Klemm,*  die  1884  vom  sächsischen  Staate  erworben 
wurde,  brauchte  nicht  das  Schicksal  der  ,Kloss  Library'  zu  teilen, 
in  London  in  alle  Winde  auseinanderzufliegen.  Aber  die  beste  Ge- 
legenheit ist  doch  für  immer  verpaßt  worden.  Manchen  Buchfor- 
schern mochten  noch  Sondersammlungen  gelingen,  die,  durch 
Spezialisierung,  eine  achtunggebietende  wissenschaftliche  Höhe  er- 
reichten. Seitdem  wandelten  sich  indessen  unter  dem  Zwange  der  not- 
wendigen Beschränkung  auf  die  erreichbaren,  marktgängigen  Stücke 
die  buchgeschichtlichen,  die  historisch-typographischen  Kollektionen 
größeren  Umfanges  und  größerer  Vollständigkeit  immer  mehr  in 
buchkunstgeschichtliche  Auswahlsammlungen,  diese  wiederum  ver- 
schoben ihr  Sammlungsgebiet  immer  weiter  in  die  der  Gegenwart 
näheren  Jahrhunderte  hinein  —  wie  die  Kostümbibliothek  des  Ver- 
legers Franz  Freiherrn  von  Lipperheide,*  die  zu  einer 
der  Bibliothek  des  Kunstgewerbemuseums  in  Berlin  gestifteten 
kulturhistorischen  Spezialbibliothek  ersten  Ranges  wurde  —  das 
alte  Buch  kam  in  Deutschland  ebenso  wie  in  den  anderen  Ländern 
langsam  zum  Ausverkauf,  immer  tiefer  wurde  der  Gipfel  des  Bücher- 
gebirges, das  in  dem  Gutenberg- Jahrhundert  lag,  abgetragen. 

Buchdruckgeschichte  und  Buchkunstgeschichte  sind  eng  ver- 
bunden. Bild-  und  Buchdruck  hatten  in  ihrer  Frühzeit  die  nächsten 
Zusammenhänge.  Deshalb  beachteten  die  Forschungen  und  Samm- 
lungen zur  ältesten  Buchdruckgeschichte  auch  die  vermeintlichen 
Vorläufer  der  Druckwerke,  die  Holtzafeldrucke,  überhaupt  die 
ältesten  Erzeugnisse  der  Bilddruckverfahren.  Allmählich  gelangte 
man  dann  dazu,  mehr  und  mehr  die  Buchdruckgeschichte  nach 
ihren  ästhetischen  als  nach  technischen  Voraussetzungen  zu  prüfen. 
Und  wie  man  die  Buchhandschriften  teils  wegen  ihres  diplomatisch- 
historischen und  ihres  literarhistorischen  Wertes,  teils  aber  auch 
ihrer  künstlerischen  Ausstattung  wegen  suchte,  fand  man  mit  dem 
Einsetzen  der  neuen  Buchkunstbewegung  am  Ende  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  zum  schönen  Buch  der  Wiegendruckzeit  als  einem  der 
edelsten  Zeugnisse  für  die  Kunst  im  Buchdruck  zurück.  Indessen 
die  Klemmsche  ,bibliographische  Sammlung'  Dokumente  der  Proto- 

342  *  ^»>*>  «24,  230 


19.  JAHRHUNDERT 

typographie  historisch  vereinen  wollte,  beschäftigte  sich  bereits  der 
Berliner  Architekt  Hans  Grisebach  [1848—1904]  mit  einer 
Bücherei,  die  die  Buchkunstmeisterwerke  des  fünfzehnten  bis 
zwanzigsten  Jahrhunderts  lediglich  ästhetisch  wertete.  Das  Bild 
im  Buche,  die  Illustration,  hatte  seine  Höhepunkte  gehabt,  deren 
beste  Beispiele  zu  Sondersammlungen  verlockten;  um  so  mehr,  als 
auch  die  Beziehungen  von  der  Buchkunst  zu  den  Urausgaben  man- 
nigfache waren.  So  dehnte  sich  ein  ergiebiges  Sammelgebiet  den 
es  Bestellenden  immer  weiter  aus;  die  um  1900  beginnende  Buch- 
kunstbewegung mit  ihrer  Forderung  einer  Kunst  im  Buchdruck 
ließ  nicht  nur  an  die  Buchkunstfreunde  sich  wendende  Liebhaber^' 
ausgaben  entstehen.  Sie  schuf  auch  in  deren  Form  dem  deutschen 
Buche  der  Gegenwart,  das  in  dieser  Sonderart  einzelne  Verlage  mit 
Eifer  und  Erfolg  pflegten,  eine  starke  Anhängerschaft,  die,  über- 
legen an  Zahl  den  Bewunderern  des  alten  Buches,  der  Bibliophilie 
in  Deutschland  zu  einer  starken  Stütze  wurden,  freilich  auch  bis- 
weilen buchgewerbliche  Mißstände  und  buchhändlerische  Über- 
treibungen veranlassend.  Altbuchkunstsammlungen,  deren  Grenze 
gegen  das  Kunstgewerbe  überhaupt  die  Einbandsammlungen  an- 
deuten, so  die  von  Dr.  Carl  D.  Becher- Karlsbad  1911  an  den 
deutschen  Buchgewerbeverein  verkaufte  Einbandreihe,  verlangen, 
wenn  sie  Ausdehnung  und  Gehalt  gewinnen  sollen,  wie  die  von  Frau 
Ida  Schoeller  [1863 — 1917]*  angelegte,  großenteils  an  das  Düssel- 
dorfer Museum  übergegangene  schöne  Bücherei,  eine  Anspannung 
der  Kräfte  und  Mittel  des  Sammlers,  die  nicht  immer  aufzubringen 
ist.  Andererseits  fehlt  ihnen,  wofern  sie  nicht  bis  in  die  Gegenwart 
des  Sammlers  gelangen,  die  Berührung  mit  den  Kunststrebungen 
von  dessen  eigener  Zeit.  Hieraus  ergab  sich,  auch  in  engerer  Ver- 
bindung mit  den  literarischen  Sammelrichtungen,  die  Bevorzugung 
des  seit  dem  achtzehnten  Jahrhundert  entstandenen  illustrierten 
Buches.  Die  Ausbreitung  der  Bücherliebhaberei  in  Deutschland 
um  1900  —  1897  war  die  Zeitschrift  für  Bücherfreunde  von 
Fedor  von  Zobeltitz,  1899  die  Gesellschaft  der  Biblio- 
philen gegründet  worden  —  folgte  in  ihrem  raschen  Verlaufe  der 
Anerkennung  einer  literarischen  Moderne,  die  auch  beispielgebend 

*Abb.  242  343 


DEUTSCHLAND 

in  ihren  Veröffentlichungen  und  Zeitschriften  für  die  Buchaus- 
stattung gewesen  ist.  Dem  älteren  Eduard  Grisebach  nach- 
eifernd hatten  die  damals  jungen,  hatten  Otto  Julius  Bierbaum, 
Richard  Dehmel,  Otto  Erich  Hartleben,  Oskar  Panizza 
dem  Buchschmuck  ihrer  Schriften,  deren  Druckausführung  und 
Papierwahl  die  größte  Sorgfalt  zugewendet.  Ästhetische  Zeitschriften 
bemühten  sich,  vor  allem  der  ,Pan*  [1895]  und  die  ,Inser  [1899], 
die  Alfred  Walter  von  Heymels  [1878—1914]  Mäzenatentum 
entstehen  ließ,  buchgeschmackbildend  zu  wirken.  Eine  Bewegung, 
die,  nachdem  sie  erst  einmal  zu  einer  buchgewerblichen  und  buch- 
geschäftlichen Festigung  gelangt  war,  eine  deutsche  ,Bibliophilie 
Moderne'  entstehen  ließ,  die  auf  der  Auktion  Lennartz  [1914] 
zum  ersten  Male  mit  ihren  Liebhaberpreisen  ihre  Selbständigkeit 
erwies. 

Ein  Jahrzehnt  vorher  war  die  deutsche  „Erstausgabe*'  zu  ihren 
neuen  Liebhaberpreisen  gekommen ;  die  AuktionJosefKürschner 
[1853—1902],  die  1904  in  Leipzig  stattfand,  bezeichnet  hier  den 
Wendepunkt.  Durch  geschäftliche  Geschicklichkeit  in  der  Wahr- 
nehmung einer  Zeitströmung  ist  damals  die  deutsche  Klassiker- 
Originalausgabe  und  bald  auch  die  Originalausgabe  der  deutschen 
Dichtung  des  neunzehnten  Jahrhunderts  zu  einem  bevorzugten 
Sammelgegenstande  geworden.  Der  immerhin  die  deutschen  Biblio- 
philenbibliotheken  einen  festeren  Mittelpunkt  finden  ließ  als  ihn 
die  fachwissenschaftlich  gerichteten  Sondersammlungen  geben  konn- 
ten, deren  Voraussetzung,  auch  soweit  sie  die  Form  einer  Liebhaber- 
bücherei annahmen,  ganz  abgesehen  von  dem  Aufwände,  den  sie  er- 
fordern mochten,  eine  methodische  und  systematische  Arbeit  war.  Eine 
Arbeit,  die  bisweilen  neue  Wege  erschließen  mußte,  immer  jedoch  ohne 
Geduld,  Gelehrsamkeit,  Geschmackssicherheit  nicht  zu  leisten  war. 
Unverkennbar  ist  mit  der  Ausbreitung  der  Bibliophilie  in  Deutsch- 
land auch  eine  nervöse  Sammlerstimmung  verbunden  gewesen, 
deren  Eklektizismus  aus  dem  Begehren  entstand,  rasch  eine  an- 
erkennenswürdige  Bücherei  zu  gewinnen.  Und  die  eine  Verkleidung 
solcher  Wünsche  dem  glücklichen  Umstände  verdankte,  daß  einer- 
seits die  deutsche  Dichtung  seit  dem  achtzehnten  Jahrhundert  ein- 

344 


19.  JAHRHUNDERT 

geschlossenes  Hauptsammelgebiet  war,  andererseits  Buchkunst  und 
Liebhaberausgabe  dessen  Erweiterung  zwanglos  gestatteten,  wo- 
durch dann  alle  derartigen  Büchereien,  mochten  sie  auch  nur  aus 
einem  Verzeichnis  von  Nummern  bestehen,  die,  hineingehören',  eine 
nicht  zu  bestreitende  Abrundung  nach  außen  hin  erlangten.  Selbst- 
verständlich gab  es  und  gibt  es  unter  den  deutschen  Bibliophilen- 
bibliotheken  neuerer  und  neuester  Zeit  auch  viele  höheren  Wertes. 
Aber  es  ist  noch  eine  voreilige  Beurteilung  der  Bibliophilie  in  Deutsch- 
land, wenn  man  lediglich  aus  der  Vermehrung  von  Liebhaberbüche- 
reien und  Liebhaberpreisen  den  Schluß  ziehen  soll,  sie  bedeute  auch 
eine  Vermehrung  der  inneren  Werte  der  deutschen  Bibliophilie. 
Hierüber  kann  allein  die  Zukunft  zutreffend  urteilen.  Der  Gegen- 
wert erscheint  sie  gelegentlich  allzu  ästhetisch-einseitig  gerichtet; 
nicht  zum  wenigsten  wegen  der  Absonderung  des  Künstlerischen 
vom  Wissenschaftlichen. 

Für  den  Bereich  der  Naturwissenschaften  gilt  das  vor  allem. 
Das  mag,  wenn  man  es  derart  auslegen  will,  eine  Bibliophilieoppo- 
sition  des  Idealismus  gegen  den  Materialismus  sein.  Bibliothek- 
ornamentik von  nicht  geringer  Kostbarkeit  waren  von  altersher  die 
großen  naturwissenschaftlichen  Prachtwerke  und  Reiseschriften, 
die  umfangreichen  Unternehmungen  mit  den  Tafeltausenden,  die 
häufig  zwischen  Anfang  und  Ende  schon  veralteten,  gewesen.  Denn 
fühlbarer  als  bei  den  Büchern,  die  den  Geisteswissenschaften  an- 
gehörten, machten  sich  bei  den  naturwissenschaftlichen  die  neuen 
Entdeckungen  und  Erfindungen  geltend.  Welch  einen  Abstand  fort- 
schreitenden Wissens  zeigen  die  drei  Jahrhunderte  voneinander  ent- 
fernten Bibliotheken  der  fleißigen,  gelehrten  Sammler  Konrad 
Geßner  [1516—1565]  und  Alexander  v.  Humboldt  [1769-1859]; 
welche  Änderungen  des  Gesamtgebietes  der  Naturwissenschaften 
in  einem  Halbjahr  hundert  konnte  der  Verfasser  des  ,  Kosmos' 
registrieren,  den  der  Maler  und  Weltreisende  Eduardt  Hildebrandt 
in  seiner  bescheidenen  deutschen  Gelehrtenstube  gezeichnet  hat;  der 
Mann,  der  allein  noch  einmal  Erde  und  Himmel  zu  überschauen 
versuchte  und  trotzdem  in  seinen  eigenen  Werken  —  sie  sind  eine 
Bibliothek  für  sich,  hier  gilt  die  allzu  oft  mißbrauchte  Wendung  — 

345 


DEUTSCHLAND 

schon  die  Ausbildung  des  naturwissenschaftlichen  Buches  zeigt 
zum  Gemeinschaftssammelwerk,  zur  Monographie  des  Spezialisten. 
Und  wozu  diente  dem  ausgezeichnetsten  BerUner  Genossen  Alexander 
von  Humboldts  in  den  naturwissenschaftlichen  Regionen,  wozu 
diente  dem  Geographen  Carl  Ritter  [1779—1859]  kostspieliger 
Kupferprunk  pittoresker  Reisebeschreibungen,  der,  um  die  Ergebnisse 
der  Forschung  zu  verwerten,  zu  den  letzten  Berichten,  Briefen  und 
Tagebüchern,  die  in  der  Unrast  und  in  dem  Unrat  von  mühevollen 
Expeditionen  geschrieben  waren,  griff?  Die  Arbeitsmittel  der 
Naturwissenschaften,  soweit  Büchersammlungen  zu  ihnen  gehören, 
waren  seit  dem  neunzehnten  Jahrhundert  wenig  mehr  deren  Ent- 
faltung in  eng  geschlossener  ruhiger  Sicherheit  günstig;  die  besten 
Fachbibliotheken  wurden  Sondersammlungen  mit  ihrem  Apparat 
von  Kleinschriften  und  vollständigen  Zeitschriftenreihen;  nur  da, 
wo  geschichtliche  Rücksichten  eine  Sammlung  leiteten,  kamen  die 
alten  Bände  noch  einmal  zu  ihrem  Recht.  Es  sei  denn,  daß  sie 
auch  sonst,  aber  ihrer  buchgewerblichen  Eigenschaften  wegen  und 
nicht  als  Werkzeuge  wissenschaftlicher  Wichtigkeit,  in  die  Lieb- 
haberbüchereien aufgenommen  wurden,  die  nunmehr  beinahe  stets 
bis  auf  einige  Klassiker  ganz  und  gar  die  Naturwissenschaften  ver- 
nachlässigten. 

Aber  auch  die  Geistes-  und  Geschichtswissenschaften  sind  in  deut- 
schen Liebhaberbüchereien  des  zwanzigsten  Jahrhunderts  oft  ver- 
nachlässigt worden,  in  denen  man  durch  die  beiden  Abteilungen 
Kulturhistorie  und  Philosophie  alles  außerhalb  der  Kunst  und  ins- 
besondere der  Poesie  liegende  bequem  zusammenzufassen  sich  ge- 
wöhnt hat.  Als  ein  Erinnern  an  die  Vergangenheit  des  eigenen  Volkes, 
das  in  den  Büchereien  anderer  Länder  stark  ist,  treten  in  den  deut- 
schen BibliophilenbibUotheken  diese  Gebiete  sehr  zurück.  Über- 
gänge vom  Kulturhistorischen  zum  Literarhistorischen,  doch  eher 
umgekehrt,  vermitteln  besonders  die  Musik-  und  Theatersamm- 
lungen. Aber  auch  sie  bilden  sich  da,  wo  sie  eine  Erfassung  ihres 
Gebietes  erreichen,  in  fachwissenschaftliche  Sondersammlungen  um, 
wie  die  eigentlichen  kulturhistorischen  und  kunsthistorischen  Privat- 
bibliotheken.   Das  ist  immerhin  verständlich,  weil  es  in  ihrer  Art 

346 


19.  JAHRHUNDERT 

liegen  muß,  die  Beschränkung  auf  das  iBibliophilenbuch  im  aus- 
schließlichen Sinne  einer  Kostbarkeit  oder  Seltenheit  zu  vermeiden, 
weil  sie  die  Bücher,  die  für  sie  wertvoll  und  wichtig  sind,  gleich 
hoch  achten  müssen.  Und  da  die  Vollständigkeit  auf  wissenschaft- 
lichem Gebiete  im  Wettbewerb  mit  den  bestehenden  großen  Biblio- 
theken von  der  meist  in  einem  Menschenalter  entstehenden  Privat- 
bibliothek nur  schwer  zu  erreichen  ist,  bleibt  deren  Verdienst  auch 
hier  die  durch  die  Persönlichkeit  eines  Bibliophilen  sich  ordnende 
Sondersammlung.  In  dem  Fache  der  Geschichte  wird  das  besonders 
in  den  lokalhistorischen  Privatbibliotheken  sich  zeigen;  am  stärksten 
da,  wo  eine  bedeutende  irgendwie  historische  Persönlichkeit  eine  be- 
deutende Büchersammlung  hinterläßt,  die  zu  einer  Beurkundung 
ihrer  Leistungen,  zu  einem  der  Nachwelt  sich  erhaltenden  Ausdruck 
ihres  Wesens  geworden  ist.  Damit  ist  dann  auch  gesagt,  daß  der  Be- 
griff des  Provenienzexemplares  dem  Buchfreunde  der  Gegenwart 
sich  weitete.  Einmal,  indem  er  ohnehin  den  Begriff  einer  geschicht- 
lich merkwürdigen  Persönlichkeit  ausdehnt.  Sodann,  indem  er  fast 
mehr  deren  Bücherei  als  ein  Ganzes  hochschätzt  als  das  Einzelstück 
aus  ihrer  Zerstreuung. 

Archiv-Bibliotheken,  deren  historischer  Charakter  in  den  Per- 
sönlichkeiten ihrer  im  politischen  Leben  sich  auszeichnenden  Samm- 
ler ruht,  insbesondere  also  Büchersammlungen  hervorragender  Staats- 
männer, sind  im  Deutschland  des  neunzehnten  Jahrhunderts,  in 
größerem  Umfange  wenigstens,  kaum  entstanden.  Im  Anfange  dieses 
Jahrhunderts  besaß  zwar  der  Staatskanzler  Fürst  Clemens 
Lothar  Metternich  eine  sehr  ansehnliche  Repräsentations- 
bibliothek und  auch  sein  federgewandter,  geistreicher,  gelehrter 
Gehilfe  Friedrich  von  Gentz  war  nicht  ohne  einiges  Biblio- 
philentemperament.  Aber  im  allgemeinen  sind  es  doch  mehr  die 
Tagesschriftsteller  als  die  im  Amte  befindlichen  Politiker  ge- 
wesen, die  in  ihren  Privatbibliotheken  auch  literarische  Dokumente 
der  Politik  vereinten.  Und  auch  sie  sind,  gleich  E.  M.  Arndt 
und  J.  von  Görres,  weit  eher  dem  wissenschaftlichen  und  schön- 
wissenschaftlichen Schrifttum  zugewandte  Buchfreunde  gewesen 
als  die  Errichter  politischer  Registraturen.    Es  mag  ja  nun  leicht 

347 


DEUTSCHLAND 

erklärlich  sein,  daß  Neigungen  für  Sammelarbeit  in  der  Stille  un- 
schwer eine  Verbindung  mit  politischer  Tätigkeit  eingehen  werden. 
Als  Beispiel  dafür  kann  die  Bibliothek  Bismarcks  gelten. 

Ein  außerordentlich  belesener  Mann  ist  Fürst  Otto  von  Bis- 
marck  zwar  gewesen,  jedoch  kein  Buchfreund  und  Büchersammler 
im  eigentlichen  Wortsinne.  Seine  Beschäftigungen  mit  dem  Buch- 
wesen, wie  etwa  sein  Festhalten  an  der  Frakturschrift,  entsprangen 
keinen  bibliographischen  Rücksichten.  Und  der  beeilte  Staats- 
mann mußte  der  ephemeren  politischen  Literatur  so  viel  von  seiner 
kostbaren  Zeit  zuwenden,  daß  für  ein  geruhsameres  Lesen  nichts 
übrig  blieb.  Der  entspannende  Roman  und  die  Tageszeitungen  waren 
für  den  alternden  Fürsten  hauptsächliche  Lektüre.  Doch  pflegte  er 
auch  die  Aufsehen  machenden  Neuerscheinungen  zu  durchblättern 
und  mit  seinem  scharfen  Blick  für  das  wesentliche,  von  seinem  vor- 
trefflichen Gedächtnis  unterstützt,  das  aufzunehmen  und  zu  behalten, 
was  er  bei  Gelegenheit  mit  genialer  Intuition  zu  einem  treffenden 
Zitat,  zu  einer  geistreichen  Anspielung  benutzen  konnte,  hierin 
Shakespeare  vergleichbar.  Waren  doch  die  Lesefrüchte,  die  der 
langjährige  Leiter  der  preußisch-deutschen  Politik  in  seinen  Reden 
und  Staatsschriften,  die  die  Ornamentik  der  Klassiker- Reminiszen- 
zen mit  prägnanter  Stilsicherheit  verzierte,  in  den  Mußejahren  des 
jungen  Gutsherren  gesammelt  worden.  Alles  Lesen  wurde  für  Bis- 
marck  zu  einem  Zwiegespräch  mit  dem  Buch,  seine  kräftigen  Rand- 
schriften folgten  sich  Seite  auf  Seite;  sogar  in  den  Zeitungsblättern, 
die  sogleich  in  den  Papierkorb  flogen,  brachte  der  gewaltige  Zimmer- 
mannsbleistift die  großen  steilen  Bismarckischen  Vermerke  an. 
Wäre  dieser  Überfluß  den  Bänden  und  Blättern  einer  eigenen  sorg- 
fältig geordneten  und  verwalteten  Büchersammlung  zugute  gekom- 
men, dann  wäre  sie  eine  deutsche  politische  Privatbibliothek  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  geworden,  wie  es  keine  zweite  gäbe. 

Als  Urkundensammlungen  zur  Zeitgeschichte  haben  die  Zeit- 
schriften- uud  Zeitungssammlungen  angefangen,  die  nicht  die  gering- 
wertigsten unter  den  geschichtswissenschaftlichen  sind.  Das  Bild 
im  Flugblatt,  die  Flugschrift,  die  den  Mangel  eines  fehlenden  regel- 
mäßigen   Nachrichtendienstes    und    der    fehlenden    Organe    öffent- 

348 


19.   JAHRHUNDERT 

lieber   Meinung  recht   und   schlecht   ausglichen,   mußten   schon   in 
früheren  Jahrhunderten  zur  Aufbewahrung  verlocken.    Freilich,  die 
Kleinarbeit,  die  in  den  vielen  Sammelbänden  steckt,  die  dergleichen 
Tagesblätter   und   Tagesbüchlein   zusammenhielten,   ist   nur   selten 
zu  einer  systematischen  Vervollkommnung  dieser  Art  von  Samm- 
lungen gelangt.   Vor  allem  waren  es  die  ikonographischen  Materialien, 
die  methodisch  für  die  Anlage  einer  Bandfolge  zur  Zeitgeschichte 
dienten  —  ein  Beispiel  ist  etwa  der  Thesaurus  Picturarum  des  Kur- 
pfälzischen  Kirchenrates   Dr.    Marcus   zum   Lamm   [der  um   die 
Wende  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  lebte]  —  während  in  den  Biblio- 
theken seit  dem  sechzehnten  Jahrhundert,   auch  unter  dem   Ein- 
flüsse buchhändlerischer  Vertriebsgewohnheiten,  die  aus  Sparsam- 
keitsrücksichten sich  ergebende  Vereinigung  von  Druckwerken  ge- 
ringen Umfanges  allmählich  bibliothekstechnisch  in  die  Formen  «des 
gelehrten  Handapparates  hineinwuchs,  der,  nachdem  bis  ins  acht- 
zehnte Jahrhundert  hinein   die  Dissertationenkollektionen    in   lan- 
gen  Reihen   die   Arbeits-   und    Bücherzimmer   geschmückt   hatten, 
dann  seine  Auflösung  in  den  beweglichen  Buchkästen  fand.   Aber  fast 
alle  diese  Einzelsammlungen  waren  doch  mehr  oder  minder  Neben- 
sammlungen geblieben  und  erst  im  neunzehnten  Jahrhundert  ent- 
standen   größere,    selbständige    Sondersammlungen,    die    einen    ge- 
schichts wissenschaftlichen  Grundplan  auszuführen  versuchten;  ent- 
standen aus  geschichtswissenschaftlichen  Rücksichten  Flugblätter-, 
Flugschriften-,   Zeitungssammlungen.     Die  Abgrenzung  bestimmter 
neuer  Sammlungsgebiete,  für  die  sie  kennzeichnend  sind,  ergibt  sich 
aus  der  wissenschaftlichen  Bestimmung  des  Unterschiedes  zwischen 
, Presse*  und  , Schrifttum*,  wobei  dann  das  Buch,  wie  in  den  Kriegs- 
sammlungen unter  den  anderen  Druckerzeugnissen  keine  ausschließ- 
liche Wertgeltung  mehr  hat.   Es  ist  ein  Grenzgebiet,  auf  dem  Bücher-, 
Griffelkunstblatt-,    Handschriften-   und    andere    Sammler   sich   be- 
gegnen;   ein  Grenzgebiet,    auf    dem    mehr   eine    archivalisch- doku- 
mentierende Orientierung  gegeben  ist  als  eine  bibliographisch-biblio- 
phile.   So  sind  die  Bibliophilenbibliotheken  in  dieser  ihrer   neuesten 
Sonderform  wieder  in    die  Anfänge   des  Bibliothekswesens,  in  das 
Archivwesen   zurückgelangt.     Ein   Anzeichen   dafür   vielleicht,   wie 

349 


OESTERREICH 

Buch  und  Presse  für  den  Buchfreund  und  Büchersammler  sich  durch 
die  Art  der  Sammelverfahren  genauer  scheiden  werden.  — 

Wenn  die  Bibliophilie  des  Deutschen  Reiches  seit  Kaiser  Maxi- 
milians I.  Tagen  in  Wien  keinen  festen  Mittelpunkt  finden  konnte, 
so  ist  das  damit  einfach  genug  zu  erklären,  daß  weder  Wien  noch 
sonst  eine  deutsche  Stadt  ein  die  deutschen  Länder  verbindendes 
Kulturzentrum  war.  Aber  die  äußere  Machtlosigkeit  des  alten 
deutschen  Reiches  war  letzten  Endes  doch  nur  eine  Folge  seiner 
geistigen  inneren  Zerrissenheit.  Und  die  Bedeutungslosigkeit  der 
alten  deutschen  Reichshauptstadt  für  die  ökonomisch  und  politisch 
immer  mehr  selbständig  werdenden  deutschen  Staaten  beruhte  eben 
darauf,  daß  sie  allein  dem  Namen  nach  Reichshauptstadt  war,  ihr 
Ansehen  und  Aussehen  indessen  lediglich  dem  Umstände  verdankte, 
gleich  anderen  deutschen  Städten  auch  eine  Residenzstadt  zu  sein. 
Daraus  ergaben  sich  nun  freilich  gewiß  nicht  zu  unterschätzende 
soziale  Zusammenhänge.  Immerhin,  Frankreichs  gesellschaftliches 
Leben  fand  nicht  in  Paris  sondern  in  Versailles  die  stärkste  Stütze; 
nicht  in  London  sondern  in  Oxford  und  den  alten  anderen  Uni- 
versitäten Englands  waren  die  Pflegestätten  des  geistigen  Lebens 
der  englischen  Nation.  Dafür  aber  wurden  London  und  Paris  früh 
schon  die  Handelshauptplätze  der  Buchware.  Im  Deutschen  Reiche 
hatte  sich,  den  geistigen  Bewegungen  nachfolgend,  der  Buchhandel 
immer  weiter  nach  Norden  zurückgezogen;  in  Österreich  war  er 
überhaupt  nie  zu  einer  Vormachtstellung  geistiger  oder  wirtschaft- 
licher Art  gelangt.  Anfänglich  hatten  hier  der  Ausbreitung  des 
Buchdrucks  die  Kriegswirren  in  seiner  Entstehungszeit  entgegen- 
gewirkt. Im  ständigen  Kampf  stand  Kaiser  Friedrich  IV.  [1440 
—  1493]  mit  seinen  Brüdern  Albrecht  und  Siegmund  von  Tirol, 
mit  dem  Könige  Georg  Podebrad  von  Böhmen  und  Matthias  Cor- 
vinus  von  Ungarn.  Daher  gestaltete  sich  auch  für  das  Buchwesen 
kein  nach  außen  hin  wachsender  Kern  in  Wien.  Von  Süden  her,  von 
Trient,  war  das  neue  Buch  nach  Österreich  gelangt;  die  Hofbibliothek 
und  die  Humanisten  Kaiser  Maximilians  I.  hatten  ihm  Anerkennung 
verschafft.  Doch  auch  sie  lokalisierte  sich  mehr  als  daß  sie  sich  de- 
zentralisiert hätte,  wofür  immerhin  die  Voraussetzung  eine  Zentrali- 

350 


16.  JAHRHUNDERT 

sierung  gewesen  sein  würde.  Die  seit  dem  siebzehnten  Jahrhundert 
berühmt  werdenden  Büchersammlungen  Wiens  sind,  soweit  sie  nicht 
die  Hofbibliothek  in  ihren  Umkreis  zog,  vereinzelte  Erscheinungen 
geblieben,  weil  das  geistige  Band  einer  fester  werdenden  nationalen 
Bibliophilietradition  sie  nicht  zusammenhielt.  Bezeichnend  genug  ist 
es,  daß,  als  sich  eine  solche  im  achtzehnten  Jahrhundert  auszubilden 
begann,  sie  mit  den  ViennensiakoUektionenin  den  Grenzen  der  Wiener- 
stadt selbst  genügsam  blieb,  im  Gegensatz  zu  dem,  was  Kaiser  Maxi- 
milian I.  gewollt  und  sich  gewünscht  hatte.  Die  Humanistenbiblio- 
theken waren  international,  die  Juristen-,  Philologen-,  Theologen- 
Bibliotheken  universal  gewesen,  die  Bibliophiliemoden,  denen  die 
reichen  Wiener  Sammler  sich  späterhin  anbequemten,  wurden  kosmo- 
politisch nach  dem  guten  Pariser  Ton,  nirgends  aber  entwickelte 
sich  ein  Aufwärtsstreben  aus  den  Bereichen  des  deutschen  geistigen 
Lebens;  auch  dann  nicht,  als  eine  Klassikerepoche  dem  deutschen 
Sprachgebiete  nationale  Einheit  sicherte.  In  den  österreichischen 
Privatbibliotheken  dieser  Zeit  erglänzten  die  privilegierten  Nach- 
drucke, fehlten  die  eben  zur  Führung  kommenden  Philosophen  und 
sonst  Verbotenen.  Es  war  nicht  die  Schuld  der  Buchfreunde  und 
Büchersammler  Österreichs,  daß  sie  nur  schwer  vorwärts  kommen 
konnten.    — 

Mancher  Bibliophilenname  guten  Klanges,  der  von  der  Bücher- 
liebe und  Bücherliebhaberei  Österreichs  im  siebzehnten  Jahrhundert 
zeugt,  wäre  mehr  als  eines  nur  flüchtigen  Gedenkens  wert.  So  der 
des  Bischofs  von  Wien,  Melchior  Khlesel  [1552—1630]  und  der 
des  Tirolers  Zacharias  Geizkofler  [1560—1617],  der  lange  in 
Augsburg  lebte  und  in  Prag  starb.  Aber  ihre  Bücher  sind  zerstreut; 
die  Bände,  die  davon  berichten,  wie  ihr  einstiger  Besitzer  für  sie 
sorgte,  bringen,  so  die  nicht  wenigen  Büchereizeichen  Geizkoflers, 
keine  Kunde  mehr  von  der  Art  ihres  Sammeins  und  ihrer  Samm- 
lungen, sie  sind  Stücke  bekannten  und  doch  unbekannten  Ur- 
sprunges. Daß  damals  deutsche  Buchfreunde  lebten,  die  ebenso  für 
die  Auswahl  wie  für  die  Ausstattung  ihrer  Bücher  keine  Mühe- 
waltung scheuten,  die  ansehnliche  und  umfangreiche  Privatbiblio- 
theken zu  unterhalten  verstanden,  könnte  das  Beispiel  des  Regenten 

351 


OESTERREICH 

der  niederösterreichischen  Lande  Joachim  Grafen  von  und  zu 
Windhag  [Enzmüller  1600—1678]  lehren,  der  es  nicht  ver- 
schmähte, seinen  Buchbindern  genaue  Regeln  für  eine  gute  Binde- 
arbeit aufzustellen.  Er  hinterließ  seinen  im  Schlosse  Windhag  auf- 
gestellten Bücherschatz  dem  Dominikanerorden  in  Wien  als  eine 
bibliotheca  pro  usu  publice  fundata.  Ein  ähnliches  Bücherdenkmal 
errichtete  sich  der  Hofbibliothekar  und  Leibarzt  Kaiser  Karls  VL, 
Pius  Nicolaus  Garelli  [1675-1739],  während  der  Hofbibliothek 
eben  die  erlesenste  Liebhaberbücherei  Österreichs,  die  im  acht- 
zehnten Jahrhundert  bestanden  hat,  zugefallen  war,  diejenige  des 
Prinzen  Eugen  von  Savoyen  [1663—1736].* 

Das  Büchersammeln  als  die  Erholung  eines  glanzliebenden 
großen  Herren  liebte  Prinz  Franz  Eugen  von  Savoyen  [1663 
—  1736].*  Der  edle  Ritter,  wie  er  im  Volksliede  hieß,  wurde  frei- 
lich durch  seine  militärische  und  politische  Tätigkeit  mehr  in  An- 
spruch genommen  als  die  anderen  Bibliophilen  seiner  Zeit,  deren 
Mittel  ihnen  einen  gleichen  Bibliothekenluxus  gestatteten.  Da- 
für wurde  ihm  seine  Bücherei  die  Hoffnung  kommender  Muße- 
stunden, und  als  er  1719  ein  ruhigeres  Leben  beginnen  durfte,  war 
seine  erste  Freude,  daß  er  mit  einem  solchen  Büchervorrate  versehen 
sei:  ,,daß  die  Zeit  mir  nicht  lang  werden  soll".  Der  Feldherr  hatte 
es  verstanden,  auch  sein  Bücherheer  guter  Leitung  anzuvertrauen 
und  so  kleiden  zu  lassen,  daß  ihm  und  seinen  Besuchern  die  Parade 
dieser  Truppen  stets  wohlgefiel.  Eine  geregelte  Ordnung  herrschte 
überall.  Dem  Aufwände  entsprachen  die  Erfolge.  Begonnen  wurde 
die  Bibliothek  des  Prinzen  Eugen  um  1712  durch  umfangreiche 
Bücherkäufe  in  London.  Agenten  und  Korrespondenten  ixk .  den 
europäischen  Hauptstädten  sorgten  mit  seinen  Bibliothekaren, 
unter  denen  hervorragende  Männer  wie  J.  B.  Rousseau,  Nicolas 
Lenglet,  Pierre  Mariette  waren,  für  ihren  Ausbau.  Angeschafft 
sollten  die  besten  und  schönsten  Ausgaben  und  dabei  solche  bevor- 
zugt werden,  die  sich  durch  ansehnliches  Format  und  lesbare  Typen 
auszeichneten;  das  Gesamtgebiet  der  Wissenschaften  in  gleich- 
mäßiger Verteilung  berücksichtigt  werden.  Demgemäß  kamen  hier 
die  bändereichen  Prachtwerke  in  ihren  Fürstenausgaben  zusammen, 

352  *Abb.  170, 171 


18.  JAHRHUNDERT 

deren  Preise  in  die  Zehntausende  stiegen.  Bezahlte  doch  Prinz 
Eugen  noch  1732  für  die  sechsundvierzig  Folianten  seines  Blaeu* 
sehen  Atlas  die  runde  Summe  von  30000  Talern.  Ein  einheitlicher 
Bibliotheksband  mit  dem  Wappensupralibros  in  Ziegenleder  — 
blau  für  die  theologischen  und  juristischen  Fächer,  rot  für  die 
historischen,  gelb  für  die  naturwissenschaftlichen  —  gab  dem  Ganzen 
einen  aristokratischen  Stil.  Es  war  die  Bibliothek  einer  Grand* 
Seigneurs,  die  repräsentierte;  die  aber,  ohne  darauf  zu  verzichten, 
durchaus  nicht  literarische  Antiquitäten,  bibliographische  Rari- 
täten in  einer  Bücherschatzkammer  aufhäufen,  sondern  eine  Ge- 
brauchsbücherei mit  neueren  und  neuesten  Werken,  die  einen  vor-» 
züglichen  Buchgeschmack  zeigten,  werden  wollte. 

Angegliedert  war  der  Bibliothek  eine  Bildnissammlung,  die  aus 
der  60000  Nummern  zählenden  Porträtkollektion  des  Nürnberger 
Polyhistors  Gottfried  Thomasius  hervorgegangen  war.  Auch 
sie  stand  in  reichvergoldeten  roten  Buchkästen  wohlgeordnet  und 
wohlverwahrt  anfangs  in  dem  1705  erbauten  Wiener  Palaste  des 
Prinzen  an  der  Himmelpfortgasse  und  kam  dann  mit  der  Biblio- 
thek 1716  in  die  Büchersäle  des  Belvedere-Palastes,  die  zu  den  da- 
maligen europäischen  Sehenswürdigkeiten  gerechnet  wurden.  Auch 
die  Bibliophilenbibliothek  seines  Generaladjutanten  Freiherrn 
G.  G.  Hohendorf  hatte  Prinz  Eugen  erworben.  Aus  dem  Nach- 
lasse des  Prinzen  verkaufte  seine  Erbin  und  Nichte  die  auf  150000 
Gulden  geschätzte  Sammlung  —  sie  zählte  15000  Druckwerke  und 
237  Handschriften,  darunter  die  Tabula  Peutingeriana,  290  Kupfer- 
stichwerke, für  die  eine  halbe  Million  Taler  ausgegeben  waren, 
215  mit  Bildnissen  und  Stichen  gefüllte  Buchkästen  —  gegen  eine  Leib- 
rente von  10000  Gulden  an  die  Hofbibliothek.  Man  mußte  damals 
in  Österreich  ein  großer  Herr  sein,  um  sich  eine  Bücherei  gleich  dieser 
leisten  zu  können.  Nicht  nur  des  Aufwandes  wegen,  den  sie  ver- 
langte, sondern  auch,  um  die  Freiheit  zu  haben,  als  Bibliophile  auf- 
treten zu  dürfen. 

Der  ,Bücher-Narr*  gehörte  um  1700  schon  zu  den  auffälligen 
Erscheinungen  der  deutschen  Kaiserstadt,  die  ein  Pseudo-Abraham 
k  S.  Clara  in  seinem  ,Centifolio  Stultorum'  verspotten  durfte.    Zwar 

4 
BOGENO    n  353 


OESTEBREICH 

gelte  es:  „Bücher  lesen  ist  eine  schöne /ehrliche /nutzliche  Lustbar- 
keit; durch  dieses  wird  manches  sonst  vernebletes  Hirn  außgeheitert/ 
und   mancher  auß  Narren-Netz   herauß  gezogen  /  in  welchem  er 
sonst    sich    unaußläßlich    verwickelt    hätte:    wie    bescheidener    die 
Leuth/  destomehr  seyn  sie  in  diese  Lust  vertief ft:  .  .  .    Aber:    Bey 
diesen  allen  doch  leydet  der  gemeine  Lehr-Satz  /  Stultorum  plena 
sunt  omnia,  alles  ist  mit  Narren  voll  /  bey  den  Büchern  selbst  kein 
bey  gesetzte  un  umbgängliche  Exception:     Es  mischen  sich  unter 
die  volle  Reyen  deren  aus  denen  Büchern  Weißheit-schöpffenden 
manche  Narren  mit  ein.    Nicht  die  Geringste  seyn  diese/  welche  viel 
zusammen  kauffen  /  alle  Gewölber  und  Täntl-Märckt  auslauffen  / 
gleichwohlen  wenig  oder  selten  darinn  lesen  /  und  nur  vor  einen 
Schein  gantze  Stellen  voll   im  Zimmer  stehen  haben  /  selbige  in 
schöne  Ordnung  stellen/  abstauben  und  sauber  halten;  sodann  last 
einer  sich  schon  für  Hochgelehrt  /  Excellenz  /  als  einen  Doctor  der 
Rechten  tituliren/  wann  er  gleich  kein  Recht  kan  außführen/  und 
öfftermahls  nöthig  wäre/  die  Bücher  mit  sich  vor  Gericht  zu  nehmen/ 
daß  solche  selbst  reden  möchten.  //  Bücher  lesen  ist  ein  so  edle  / 
nutzlich-  und  ergötzliche  Sach  /  daß  der  sich  darein  begibt  /  verliebt 
und  begierig  wird/  davon  nicht  mehr  ablassen  kan.  .  .  .//  Aber  jene/ 
welche  ohne  Unterschied  alle  Bücher/  so  ihnen  vor  die  Hand  kommen 
/  lesen  /  und  theils  hierdurch  verkehrt  /  aber  nicht  gelehrt  werden  / 
indeme  /  wo  sie  nur  ein  närrisch-unzüchtig-  oder  verbottenes  Buch 
können  aufftreiben  /  sie  es  theuer  genug  bezahlen  /  gehören  in  das 
große  Narren-Buch . . ."  Die  Moral  dieser  Narrenpredigt,  die  schließ- 
lich in  eine  Anleitung  zum  bedächtigen  Lesen  ausklingt,  hat  indessen 
einen  neuen,  den  alten  Angriffen  auf  die  Bibliophileneitelkeit  und 
die  Bibliomanenuntugenden   fehlenden  Sinn    erhalten,    sie   polemi- 
siert  gegen   die   ,malitiosen,   verbottenen*    Bücher,   die   ihre   Leser 
verführen,   verirren,    perturbiren    ,,und    öfftermahls   z  weif  fei-    und 
teuffelhafft/  gar  verdammt'*  werden  lassen,  „dahereo  ein  verdächtig- 
oder  verbottenes  Buch  keiner  ohne  große  Sund  nicht  lesen  kan;"  sie 
wendet  sich  gegen  die  Bücher,  die  zu  ,,verbottnen  Sachen  anleiten/ 
welches  leyder  nur  gar  zu  offt  geschieht  /  durch  manches  ketzerisch- 
zauberisch-schwarzkünstlerisch- oder  verliebtes  Buch  /  welche  uns 

354 


18.  JAHRHUNDERT 

alles  Übels  berichten  /  lehren  /  und  den  grössten  Seel-  und  Leibs- 
Schaden  zufügen^';  und  sie  bezeichnet  damit  dasjenige  Sammelgebiet, 
dessen  beide  bibliographische  Pole  der  ,  Index  librorum  prohibitorum* 
und  Miltons  Areopagitica  sind.  Den  Beschränkungen  der  Freiheit  in 
Rede  oder  Schrift  durch  Gesetz  oder  Sitte  entsprach  eine  Einschrän- 
kung des  Lesens  und  des  Sammeins,  die  in  verschiedenen  Ländern, 
zu  verschiedenen  Zeiten  sich  sehr  verschiedenartig  gestaltete.  Aber 
die  verbotenen  Bücher,  die  verpönten  Werke  wurden  nicht  allein 
durch  einen  Geheimhandel  hergestellt,  den  sie  hervorgerufen  hatten, 
um,  ,unter  dem  Mantel'  verborgen,  von  Hand  zu  Hand  weitergegeben 
zu  werden;  sie  gelangten  nicht  nur  an  die  Neugierigen,  sondern  sie 
wurden  auch  ein  Gegenstand,  der  die  Bemühungen  der  Bücher- 
sammler wachrief.  Denker  und  Dummköpfe,  Forscher  und  Selten- 
heitsjäger zogen  sie  in  gleicher  Weise  an.  Auf  den  Bücherreisen  und 
im  Gelehrtenbriefwechsel  suchte  man  ihrer  habhaft  zu  werden; 
ernsthafte  Sammler  erfanden  für  sie  bibliographische  Systeme,  so 
Zacharias  Conrad  von  Uffenbach,  der  in  seinem  Kataloge  kunstvoll 
die  allerlei  libri  prohibiti  trennte.  Als  das  achtzehnte  Jahrhundert 
längst  schon  in  der  Aufklärung  ,fortgeschritten*  war,  hatten  ihre 
Hauptstücke  noch  höchste  Liebhaberwerte.  Aber  in  Wien  endeten 
die  vielen  Buchtragödien,  die  manchesmal  das  Scheiterhaufenfeuer 
unglücklicher  Verfasser  beleuchtet  hatte,  in  einem  Satyrspiel,  das 
die  Geschichte  der  Wiener  Zensur  heißt.  Eine  Bureaukratie  ver- 
waltete hier  das  Amt  der  Bücherpolizei,  die  in  ihren  Maßnahmen 
sondergleichen  war.  Selbst  den  Diplomaten  fremder  Staaten  nahm 
sie  die  ihnen  gehörenden  nicht  gehörigen  Bücher  weg.  Und  sie 
achtete  mit  einer  Empfindlichkeit  auf  das  erlaubte  und  das  ver- 
botene Wort,  sofern  es  gedruckt  oder  geschrieben  oder  auf  der  Bühne 
und  sonstwo  gesprochen  wurde,  daß  sie  schließlich  ihrem  eigenen 
Urteil  nicht  mehr  vertraute,  weil  sie  nicht  wußte,  ob  es  nicht  auch 
noch  zu  verbieten  sein  würde.  — 

In  seiner  , Einleitung  in  die  Bücherkunde'  vermerkte  [1795] 
Michael  Denis,  um  auch  von  der  Menge  der  wienerischen  Privat- 
sammlungen ein  Urteil  zu  fällen:  „daß  nur  das  Jahr  1776  hindurch 
in  28  öffentlichen  Auctionen  bey  30000  Bücher  zu  Kaufe  gewesen 

w  355 


OESTERREICH 

sind.  Würden  die  dabey  herauskommenden  Kataloge  nur  ein  wenig 
correcter  gehalten,  und  verriethen  sie  nur  soviel  von  Bücherkenntniß, 
daß  sie  zum  Nachschlagen  brauchbar  wären,  dann  könnten  sie  bey 
den  traurigen  Zersplitterungen,  die  auch  in  der  Bücherwelt  jährlich 
vorgehen,  eine  Art  Trostes  seyn,  und  verdienten  in  Büchersälen 
beygesetzt  zu  werden,  wo  man  oft  große  und  den  Bibliographen 
nützliche  Sammlungen  von  Verzeichnissen  abgelebter  Privatbiblio- 
theken unter  dem  Namen  Bibliotheca  oder  Catalogus  findet/* 
Beisetzung  in  den  Büchersälen.  Das  hieß  eine  Anschauung  über  die 
Bestimmung  öffentlicher  Bibliotheken,  die  man  damals  nicht  ungern 
in  Wien  hegen  mochte,  treffend  bezeichnen.  Und  der  beklagte 
Mangel  bibliographischer  Gründlichkeit  war  doch  wohl  nicht  die 
eigentliche  Ursache  davon,  daß  der  Altbuchhandel  und  mit  ihm  das 
Büchersammelwesen  in  der  Hauptstadt  des  deutschen  Reiches 
keinen  Vergleich  mit  dem  in  London  oder  Paris  wagen  ließ.  Allzu- 
sehr beengten  ihn  eben  jene  geistigen  und  gewerblichen  Schranken, 
die  noch  ein  halbes  Jahrhundert  hindurch  in  den  österreichischen 
Erblanden  um  das  Buch  gezogen  waren,  obschon  der  Kaiser  selbst 
das  Beispiel  eines  Bibliophilen  war. 

Als  der  Erzherzog  Franz  [1768 — 1835,  als  römisch- deutscher 
Kaiser  (1792-1806)  Franz  IL,  als  Kaiser  von  Österreich  (1804-1835) 
Franz  I.  genannt]  1784  seine  Vaterstadt  Florenz  verließ,  um  in 
Wien  von  seinem  kaiserlichen  Oheim  Joseph  II.  in  die  Regierungs- 
geschäfte eingeführt  zu  werden,  brachte  er  nicht  allein  seine  ansehn- 
liche Büohersammlung  an  den  neuen  Wohnort  mit,  sondern  auch 
die  Leidenschaft  des  Büchersammelns,  der  die  [K.  K.]  Habsburg- 
Lothringische  Familien- Fideikommiß- Bibliothek  ihre 
Entstehung  verdankte.  Des  Kaisers  Vorliebe  war  wissenschaftlichen 
Zwecken  zugewendet.  Neben  dem  in  seinen  Jugendjahren  noch 
selbstverständlichen  Grundstock  einer  guten  Privatbibliothek,  der 
gewählten  Ausgabenreihe  griechischer  und  römischer  Klassiker, 
standen  die  archäologischen  und  kunstwissenschaftlichen  Pracht- 
werke sowie,  damals  noch  etwas  ungewöhnliches,  Bücher  der  techno- 
logischen Literatur.  Bald  dehnten  sich  auch  die  Fächer  der  Erd- 
kunde  und  Geschichte,    der  Kriegswissenschaften  und    der  Natur- 

356 


19.  JAHRHUNDERT 

Wissenschaften  aus,  in  den  letzteren  füllten  die  in  ihrer  Art  auf  einen 
Höhepunkt  gelangten  großen  Bilderwerke,  vor  allem  die  botanischen, 
jenen  Raum,  der  noch  ein  Jahrhundert  vorher  der  Folianten- 
gewichtigkeit gelehrter  lateinischer  Werke  vorbehalten  wurde.  Die 
Wendung  einer  ästhetisch  bedeutsamen  in  eine  naturwissenschaft- 
lich bedeutsame  Zeit  wird  durch  diese  ihre  Buchvorläufer  gekenn- 
zeichnet, die  als  Bildersammlungen  in  Buchform  mit  einem  früher 
und  später  nicht  wieder  versuchten  Aufwände  veröffentlicht  wurden. 
Gerade  ihre,  von  etwa  1750  bis  1850  reichende  Glanzperiode  schuf 
eine  Form  kostspieligster  Liebhaberausgaben,  die  in  deren  Voll- 
endung und  Vollständigkeit  nur  wenigen  zugänglich  waren,  zumal 
da  sich  ihr  Erscheinen  bisweilen  über  Jahrzehnte  ausdehnte.  Diese 
Staatsbücher  im  Doppelsinne  [denn  sie  machten  nicht  nur  Staat, 
sie  ruhten  auch  auf  staatlichen  Subventionen,  eine  Fortbildung  der 
höfischen  Prachtwerke  des  siebzehnten  Jahrhunderts]  etwa  das 
französische  Kaiserliche  Agyptenwerk,  Humboldts  Amerikanische 
Reisebeschreibung  und  ähnliche,  verlangten  ein  Bibliophilen-Mäze- 
natentum  in  einem  modernen  Sinne:  die  Gewährung  erheblicher 
Mittel,  um  die  kostspielige  Herstellung  umfangreich  angelegter 
Werke  ihres  wissenschaftlichen  Nutzens  wegen  zu  ermöglichen.  Sie 
wendeten  sich  an  den  vornehmen,  wohlhabenden  Privatmann,  der 
auch  auf  die  bibliographische  Repräsentanz  Wert  legte  wie  das 
Franz  I.  Staatskanzler  Clemens  Fürst  von  Metternich-Winneburg 
[1773—1859]  tat,  dessen  1907  aufgelöste  Büchersammlung  nach  An- 
lage und  Ausgestaltung  das  Muster  einer  derartig  gewählten  Privat- 
bibliothek zeigte.  Allerdings,  Franz  I.  selbst  blieb  allzu  sehr  Bücher- 
kenner und  Bücherliebhaber,  um  sich  damit  zufrieden  zu  geben, 
als  Kaiser  Buchgeschenke  zu  empfangen  oder  Buchunternehmungen 
zu  unterstützen.  Von  ständigen  bibliographischen  Studien  geleitet, 
bestimmte  er  bis  zu  seinem  Tode  die  Auswahl  seines  Bücherschatzes 
in  allen  ihren  Einzelheiten  und  bis  1806  hatte  er  auch  allein  dessen 
Aufstellung  und  Ordnung  geleitet.  Als  dann  die  angewachsene 
Büchersammlung  einem  besonderen  Bibliothekar,  Thomas  Peter 
Young  [t  1829],  anvertraut  wurde,  verlor  ihr  Schöpfer  trotzdem  nicht 
seinen  engen  Zusammenhang  mit  ihr.    Er  kannte,  eine  bei  biblio- 

357 


\ 


OESTERREICH 

philen  Temperamenten  nicht  ungewöhnliche  Erscheinung,  gedächt- 
nismäßig genau  den  Standort  der  einzelnen  Bandgruppen  in  den 
Fächern  der  vielen  Bandtausende,  war  das  lebendige  Standorts- 
verzeichnis seiner  Privatbibliothek.  Unter  den  festlichen  Ver- 
anstaltungen des  Wiener  Kongresses  von  1814  wiederholte  sich  für 
die  bevorzugten  Gäste  das  bibliographische  Vergnügen  einer  Biblio- 
theksausstellung, in  der  der  Kaiser  die  ausgezeichnetsten  seiner 
40000  Bände  und  100000  Bildblätter  vorwies.  Diese  Kollektion 
historischer  Porträts  war  aus  der  Beschäftigung  Franz  I.  mit  Kants 
anthropologischen  und  Lavaters  physiognomischen  Studien  ent- 
standen, großzügig  in  Angriff  genommen  und  vermehrt  worden. 
Ihre  bedeutendste  Bereicherung  brachte  1828  der  Erwerb  der 
Hauptmasse  des  ikonographischen  Materials  aus  dem  Lavater- 
nachlasse  bei  der  Gelegenheit  des  Gräflich  Friesischen  Konkurses: 
22000  Bildnisse  in  den  verschiedensten  Griffelkunstverfahren,  die 
meisten  mit  eigenhändigen  Bemerkungen  Lavaters  in  Hexametern. 
Bilder-  und  Büchersammlung  vereinte  Franz  I.  zu  einer  Fidei- 
komißstiftung  für  die  Kaiserliche  Familie,  in  deren  Form  sie  nach 
Angliederung  weiterer  Bestände,  so  der  Privatbibliothek  Kaiser 
Franz  Josefs  I.,  weiter  wuchs. 

Die  Kaiserstadt  war  im  Kongresjahr  nicht  zur  Weltstadt  ge- 
worden. Die  Beschränkungen  der  biedermeierischen  Gemütlichkeit 
von  Staats  wegen  erstreckten  sich  auch  auf  das  Buch;  die  Ein- 
schränkungen des  Untertanenverstandes,  die  ihm  die  Politik  ver- 
boten, fanden  im  Klatsch  ein  Mittel,  sich  aus  geistigen  Spannungen 
zu  befreien.  Vor  allem  waren  es,  wie  damals  auch  sonst  in  den  deut- 
schen Landen,  die  Ablenkungen  der  Bühne,  nicht  der  von  strenger 
behördlicher  Aufsicht  geregelten  dramatischen  Dichtung,  die  dem 
daseinsfreudigen  Völkchen  der  Wienerstadt  mit  deren  einheimischen 
Ereignissen  zum  Vermittler  aller  Geschehnisse  wurde.  Buchhandel 
und  Zeitungswesen,  im  vormärzlichen  Wien  von  der  Zensur  ein- 
geschnürt, ließen  keine  Ausblicke  in  die  Weiten  jenseits  der  Grenz- 
pfähle zu.  Auch  auf  die  Büchersammler  und  Büchersammlungen 
übte  das  alles  einen  nicht  geringen  Einfluß.  Es  entstand  eine  Vor- 
liebe für  die  Anekdote  und  die  Memoiren,  die,  anders  als  in  Frank- 

358 


19.  JAHRHUNDERT 

reich,  wo  sie  zu  einem  Ausdruck  der  Gesellschaftspsychologie  ge- 
worden war,  hier  mehr  die  Nahrung  einer  äußerlichen  Neugier  blieb. 
Als  lokale  Originale  angesehen  zu  sein,  war  eine  Art  Ehrgeiz  auf  den 
Wiener  Ruhm.  Man  sammelte  Theatralia  und  Viennensia,  ohne 
daß  dabei  meist  allzu  viel  herauskam.  Nur  einer  fest  auf  sich  be- 
ruhenden Persönlichkeit,  Franz  Haydinger,  dem  „Wirt  von 
Margarethen"  [1797—1876]  gelang  es,  auf  solchem  Untergrunde 
und  unter  solchen  Umständen  eine  Privatbibliothek  aufzubauen, 
die  etwas  bedeutete. 

An  äußerem  und  inneren  Wert  der  Haydinger- Sammlung  ver- 
gleichbar wurde  nur  die  Austriaca- Viennensia- Kollektion  des  Ger- 
manisten und  Historikers  Th.  G.  v.  Karajan  [1810—1873],  die 
den  Hauptbestandteil  seiner  teils  in  Leipzig  und  teils  in  Wien  ver- 
steigerten Bibliothek  bildete.  Und  auf  dem  Gebiete  der  Theater- 
geschichte übertraf  sie  durch  die  weitergezogenen  Grenzen  ihres 
stofflichen  Umfanges,  vor  allem  jedoch  durch  ihre  methodisch- 
systematische Anlage  erst  die  noch  bestehende  Bücherei  des  Burg- 
theaterleiters Hugo  Thimig.  Weit  mehr  abgeschlossen  und  ab- 
seits von  den  lokalpatriotischen  Tendenzen,  ohne  deshalb  deren 
eigentliche  Werte  zu  verschmähen,  blieben  eine  Anzahl  Liebhaber- 
büchereien, die  in  der  Stille  anwachsend  und  eigentlich  erst  durch 
ihre  Auflösung  bekannter  werdend,  sich  im  neunzehnten  Jahr- 
hundert in  Wien  bildeten  und  größtenteils  auch  wieder  zerstreuten. 
Daß  unter  den  berühmten  Büchersammlern  dieses  Jahrhundert  der 
Feldzeugmeister  Franz  R.  v.  Hauslab  [1798—1883]  wenig  ge- 
nannt wird,  ist  nicht  allein  durch  seine  bescheidene  Zurückhaltung 
zu  erklären.  Weder  die  alte  noch  die  neue  Hauptstadt  Deutsch, 
lands  sind  jemals  für  die  Büchersammler  tonangebende  Buchvororte 
gewesen.  Und  dann  fehlten  der  Bibliophilie  in  Deutschland  als  einer 
allgemeiner  anerkannten  Vertreterin  der  Buchpflege  bis  zum  zwan- 
zigsten Jahrhundert  die  nationale  Organisation,  die  sie,  wie  in  Eng- 
land und  Frankreich,  als  eine  bestimmte  Erscheinung  der  Kultur 
und  ZiviUsation  hervortreten  ließ.  So  löst  sich  die  Betrachtung  des 
Büchersammelwesens  in  deutschen  Landen  fast  überall  und  selbst 
da,  wo  eine  Großstadt  die  Ausbreitung  einer  Tradition  hätte  be- 

359 


OESTEBREICH 

günstigen  können,  in  die  Bewertung  einzelner  Sammlungen  durch 
den  weit  eher  zu  einer  internationalen  Geltung  gelangten  deutschen 
Buchhandel  auf.  Allzu  sehr  entbehrte  die  deutsche  Bibliophilie  noch 
einer  von  den  nationalen  Liebhaberwerten  ausgehenden  Entwick- 
lungsrichtung, als  daß  die  großen  Sammler  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts für  sie  hätten  wegweisend  werden  können.  Zu  ihnen  ge- 
hörte Franz  R.  v.  Hauslaub,  dessen  Bücherschatz,  in  einem  langen, 
reich  von  Sammlerglück  begünstigt  gewesenen  Leben  zusammen- 
getragen, sonst  einen  europäischen  Ruf  gewonnen  hätte.  Vielleicht 
hätte  die  Auflösung  dieser  kostbaren  Privatbibliothek  den  Namen 
ihres  Begründers  berühmt  werden  lassen.  Sie  blieb  aber,  vom 
Fürsten  Johann  IL  Lichtenstein  erworben  und  den  Bücher- 
sammlungen seines  Hauses  zu  Wien,  Feldberg  usw.,  die  nach  ihrer 
Art  und  Bedeutung  eher  den  öffentlichen  als  den  privaten  Biblio- 
theken zu  vergleichen  sind,  einverleibt,  in  ihrem  Bestände  erhalten. 
Doch  auch  der  Katalog,  der  sie  als  ein  Ganzes  gekennzeichnet  hätte, 
blieb  ihr  versagt. 

Daß  auch  Joseph  Freiherr  von  Hammer- Purgstall 
[1774—1856],  der  Orientalist,  der  auf  die  Ausstattung,  seiner  eigenen 
Bücher  die  größte  Sorgfalt  verwendete,  das  Verzeichnis  seiner  Bücher- 
sammlung nicht  herausgab,  ist  um  so  mehr  zu  bedauern,  weil  dieser 
Bibliophile  es  liebte,  die  abendländische  und  die  morgenländische 
Bücherliebhaberei  in  seiner  Buchpflege  zu  vereinen  und  sein  Katalog 
vielleicht  zu  einer  sehr  ersprießlichen  Anregung  geworden  sein  würde, 
die  Bibliophilie  des  Okzidents  und  die  des  Orients  vergleichend  zu 
studieren.  Ein  Bericht  August  Lewaids  aus  dem  Jahre  1856  er- 
öffnet einen  Einblick  in  das  Bücherzimmer  des  Freiherrn.  „Ein 
Freund  führte  mich  in  das  Vielen  bekannte  von  Henniksteinsche 
Haus  in  der  Kärntnerstraße,  wo  der  berühmte  Orientalist  wohnte, 
dessen  Gattin  eine  geborene  von  Hennikstein  gewesen.  Wir  trafen 
Hammer  in  einem  großen  Gemach,  das  seinen  Bücherschatz  ent- 
hielt und  als  Arbeitszimmer  diente.  Die  Bücherschränke  waren  nach 
verschiedenen  Richtungen  aufgestellt  und  bildeten  Gassen,  in  denen 
man  sich  frei  bewegen  konnte.  Sie  waren  aus  künstlerisch  geschnitz- 
ten und  vergoldeten  Palmbäumen  gebildet,  und  ein  jeder  enthielt 

360 


19.  JAHRHUND  ERT 

an  einer  Art  von  Frontispiz  eine  arabische  Inschrift/*  Nach  dem 
Abschlüsse  seiner  osmanischen  Geschichte  hatte  Freiherr  von  Harn* 
mer-Purgstall  die  200  historischen  Manuskripte,  die  er  hierfür  im 
Orient  gesammelt,  für  deren  Ankaufspreis  der  Wiener  Hofbibliothek 
überlassen  und  die  anderen  412  Handschriften  —  100  von  ihnen 
hatte  er  mit  einem  Kostenaufwande  von  450  Gulden,  um  sie  gegen 
Wurmfraß  zu  schützen,  in  Zedernholz  binden  lassen  —  gelangten  nach 
seinem  Tode  ebenfalls  in  die  Hofbibliothek.  Die  von  ihm  hinter- 
lassene  Druckwerksammlung,  ausgezeichnet  in  den  Fächern  der 
Linguistik  und  orientalischen  Literaturen  erwarb  die  Leipziger  Uni- 
versitätsbibliothek 1857  für  10000  Gulden.  Sie  kam,  in  fünfzig 
Kisten  verpackt,  Anfang  1858  nach  Leipzig,  und  enthielt  nach  Aus- 
scheidung der  in  der  Universitätsbibliothek  schon  vorhandenen 
Werke  noch  etwa  9000  Bände. 

Verlockend  waren  allerdings  im  vormärzlichen  Wien  die  für  die 
Drucklegung  eines  Liebhaberbüchereiverzeichnisses  zu  machenden 
Voraussetzungen  nicht  gewesen,  weder  für  dessen  Aufnahme  noch  für 
dessen  Ausführung.  Der  Altbuchhandel  in  Osterreich  und  Ungarn  war 
durch  mancherlei  Widerstände  [,Antiquariats*-  und  ,Sortiments*- 
Streitigkeiten  um  die  Auslegung  der  Buchhändlerprivilegien,  Bücher- 
zoll, Konzessionszwang,  Zensur]  an  seiner  AusbildunS  noch  die  erste 
Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  hindurch  vielfach  behindert,  das 
Antiquariat  dem  minderwertigen  Büchertrödel  gleichgestellt  worden. 
Während  man  in  Wien  noch  aus  Brotneid  um  die  Gewerbegrenzen 
stritt,  hatte  der  Altbuchhandel  in  anderen  Ländern  bereits  seine 
ebensosehr  kaufmännisch  wie  wissenschaftlich  anerkannten  führen- 
den Vertreter;  ein  Zustand,  der  für  die  Abhängigkeit  der  damaligen 
Büchersammler  deutscher  Lande  in  manchen  nicht  unwichtigen  Be- 
ziehungen [Antiqarisch  -  bibliographische  Terminologie,  Biblio- 
philie-Moden,  Liebhaberwerte,  Sammlergewohnheiten]  kennzeich- 
nend ist.  1852,  bei  den  Vorarbeiten  für  ein  neues  österreichisches 
Handelsgesetzbuch,  erklärte  die  Handelskammer  in  Wien,  daß  als 
Fondsausweis  für  die  Bewerber  um  eine  Buchhandlungsbefugnis  in 
der  Kaiserstadt  10000  fl.  C.  M.,  für  die  um  eine  Antiquarbuchhand- 
lungsbefugnis 4000  fl.  C.  M.  als  genügend  angemessen  zu  erachten 

361 


OESTERREICH 

seien.  Die  Behinderungen  durch  Zensur  und  Zunftzwang  beschränk- 
ten die  Antiquariats  Vertriebsformen  auf  ein  Mindestmaß.  Die  Ver- 
öffentlichung eines  Bücherverzeichnisses  war  der  vielen  politischen 
Bücherverbote  wegen  im  vormärzlichen  Wien  ein  Wagnis,  weil  nicht 
allein  die  konfiskablen  Bücher  konfisziert  wurden,  sondern  auch  die 
sie  ausbietenden  Kataloge,  und  der  für  diese  verantwortliche  Antiquar 
in  Strafe  genommen  wurde,  wie  1847  Ignaz  Klang,  der  zu  200  fl. 
C.  M.  Geldstrafe  nebst  einmonatlichem,  allerdings  erlassenen,  Haus- 
arrest verurteilt  wurde,  da  sein  Antiquariatskatalog  u.  a.  einige  der 
Moderomane  von  E.  Sue  verzeichnet  hatte.  Auch  dieser  Zensur- 
strenge erklärt  es  sich,  daß  bis  etwa  1850  nur  sehr  wenige  Anti- 
quariatskataloge in  Wien  erschienen  sind.  Man  begnügte  sich  damit, 
Neuerwerbungen  in  der  Kaiserlichen  Wiener  Zeitung  zu  inserieren 
und  die  Sonderdrucke  solcher  Anzeigen  als  Bücherpreislisten  zu  ver- 
werten. Ähnlich  wirkten  die  „Gewerbsgränzen^-Schranken.  Kupfer- 
stiche und  Landkarten,  die  nicht  fester  Bestandteil  eines  Buches 
waren,  durften  ausschließlich  von  Kunsthändlern  vertrieben  werden. 
Noch  1854  mußte  der  eben  genannte  Antiquar  Ignaz  Klang  die 
Kühnheit,  einen  alten  Homannschen  Atlas,  ein  Kartenwerk  ohne 
Text,  in  das  Schaufenster  gestellt  zu  haben,  mit  20  fl.  C.  M.  Geld- 
strafe und  dem  Konfiskationsverlust  des  Bandes  bezahlen.  Erst  seit 
dem  Weltausstellungsjahr  1873  bekam  der  Altbuchhandel  in  Wien 
[wo  1788  -  5,  1830  -  10,  1849  ~  12,  1870  -  18,  1900  -  40, 
1909  —  59  Antiquariate  bestanden]  eine  internationale  Geltung, 
die  vor  allem  die  Firma  Gilhofer  &  Ranschburg  [1884]  mit  den  von 
ihr  geleiteten  Versteigerungen  gewann.  In  den  übrigen  Städten 
der  österreichischen  Kronländer  war,  mit  Ausnahme  von  Prag 
[wo  die  1783  begründete  Firma  Taussig  ihren  Vorrang  wahrte], 
das  Antiquariat  bedeutungslos;  wie  der  Buchhandel  überhaupt,  da 
bis  1848  das  Bestehen  von  Buchhandlungen  nur  in  den  Provinz- 
hauptstädten und  den  sogenannten  Kreisstädten  erlaubt  war,  so 
daß  sich  im  ganzen  Österreich- Ungarn  des  Vormärz  [mit  Ausnahme 
von  Wien,  doch  einschließUch  des  venetianischen  Königreiches] 
kein  halbes  Hundert  Buchhandlungen  aufzählen  ließ.  Einen  Auf- 
schwung,   den   die   erleichterte   Bewegungsfreiheit    des   Buches   er- 

362 


19.  JAHRHUNDERT 

laubte,  nahm  seit  den  siebziger  Jahren  auch  die  Bücheriiebhaberei 
und  das  Büchersammelwesen.  Es  entstanden  Bibliophilenbiblio- 
theken,  die  sich  wieder  mehr  nach  der  internationalen  Bibliophilie- 
mode  orientierten,  nicht  nur  in  Wien,  sondern  auch  in  den  anderen 
österreichischen  Staaten.  Adalbert  Freiherr  von  Lanna 
[1836—1909],  in  Prag  ein  Mann  ungewöhnlicher  Sammlerbegabung 
und  ungewöhnlichen  Geschmackes,  verstand  es,  die  bibliographischen 
Cimelien  seinen  sonstigen  Schätzen  einzufügen,  Eduard  Langer 
[1852—1914]  in  Braunau  i.  B.,  die  mustergültige  Organisation  einer 
Privatbibliothek  größeren  Umfanges  [25000  Bände  mit  500  Wiegen- 
drucken, 6000  Einblattdrucke,  800  Handschriften]  festen  wissen- 
schaftlichen Zielen,  zumal  der  Erforschung  der  Frühdruckgeschichte 
Österreichs,  anzupassen.  Buchkunst  der  Gegenwart  und  Buchkunst- 
geschichte sind  in  manchen  österreichischen  Privatbibliotheken 
neuerer  und  neuester  Zeit,  auch  die  Auflösung  einiger  dieser  Lieb- 
haberbüchereien  bewies  das,  mit  Erfolg  und  Verständnis  gepflegt 
worden.  Welche  Wendung  im  zwanzigsten  Jahrhundert  die  Biblio- 
philie  der  Republik  Österreich  aber  auch  nehmen  wird,  die  Verluste, 
die  ihrem  öffentlichen  Büchersammelwesen  dadurch  entstanden  sind, 
daß  die  alten  Bestände  der  größten  öffentUchen  Bibliotheken  teil- 
weise aufgelöst  werden  mußten,  um  dorthin  zurückzukehren,  von 
wo  sie  vor  Jahrhunderten  nach  Wien  gekommen  waren,  werden  nicht 
leicht  zu  überwinden  sein.  Denn  es  handelt  sich  hierbei  ja  nicht  ledig- 
lich um  eine  Rückgabe  wertvollsten  Büchergutes.  Sehr  viel  schwerer 
wiegt  die  Auffassung,  der  die  Bestimmungen  dieser  Rückgabe- 
leistung entsprangen.  Die  Auffassung,  daß  selbst  die  Büchersamm- 
lungen eines  Staates  als  Bücherschutzstätten,  die  Dauer  haben,  nicht 
gelten  sollen. 


363 


VI.  SLAVIEN  UND  SKANDINAVIEN 

Die  Ausbildung  einer  magyarischen  Nationalliteratur  konnte  na- 
tionale Privatbibliotheken  erheblicheren  Umfanges  in  Ungarn 
erst  mit  ihrer  Ausbreitung  seit  dem  Ende  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts ermöglichen.  Dazu  war  lange  das  Lateinische  Umgangs- 
sprache gebildeter  Ungarn  geblieben;  hatten  die  Beziehungen  zu 
Wien,  dem  Wohnsitz  des  Königs,  und  die  durch  ihn  geschaffene  Ver- 
bindung mit  der  österreichischen  Monarchie  dem  deutschen  Buche 
Anerkennung  in  Ungarn  verschafft;  waren  die  Nachbarschaft 
Slawiens  und  der  bei  solcher  Vie'sprachigkeit  sich  ohnehin  ergebende 
Einfluß  der  französischen  Verkehrssprache  in  den  vornehmen 
Kreisen  weiterhin  bestimmend  dafür,  daß  die  Büchersammlungen 
Ungarns  sprachlich  von  nicht  geringer  Verschiedenartigkeit  werden 
konnten,  ohne  trotzdem  ihre  nationale  Tendenz  zu  verlieren,  die  sie 
vor  allem  in  ihren  geschichtswissenschaftlichen  Grundlagen  suchten. 
Das  allmähliche  Anwachsen  der  magyarischen  Literatur  bedingte 
dann  in  den  Privatbibliotheken  Ungarns  deren  Eingrenzung  auf 
ihr  eigenes  Sprachgebiet;  eine  Erscheinung,  die  für  alle  kleineren 
europäischen  Literaturen  gilt.  Aus  dem  Umkreise  der  in  den  Be- 
zirken einiger  führender  europäischer  Sprachen  verbleibenden  Biblio- 
philie  verschwinden  selbst  die  angesehenen  Büchersammlungen  der 
kleineren  Staaten  und  Völker  mehr  oder  weniger,  soweit  sie  nicht 
auch  bibliographisch  und  linguistisch  internationalen  Ranges  sind. 
Das  pflegt  bei  einer  Betrachtung  der  Bücherliebhaberei  und  der 
Liebhaberbüchereien  in  diesen  Ländern  oft  ein  falsches  Bild  für  den 
ihnen  Fernerstehenden  zu  ergeben,  weil  er  gerade  die  ihnen  eigen- 
artigen Wesenszüge  nicht  erblickt  und  sie  auch  erst  dann  richtig 
erkennen  könnte,  wenn  er  nicht  allein  den  Bibliotheken,  sondern 
auch  den  Literaturen,  die  sie  repräsentieren,  eine  erhöhte  Aufmerk- 
samkeit zuwenden  würde.  — 

Der  Bibliophile  hatte  eine  Hochburg  an  seinem  glänzenden 
Hofe  in  Ofen  König  Matthias  Corvinus  [1458—1490]*  errichtet. 
Uberschwänglich  feiert  eman  im  humanistischen  Italien  den  ,cultus 
librorum  luxuriosissimus',   den   er  trieb,   denn   er  sparte  nicht  mit 

364  *Abb.  252— 255 


UNGARN 

seinen  Aufträgen  an  die  florentinischen  Handschriftenverleger  und 
ließ  sich  von  Vespasiano  di  Bisticci  eine  Büchersammlung  zusam*« 
menstellen.  Doch  auch  in  seinem  eigenen  Lande  verstand  er  es, 
dem  Buchgewerbe,  das  er  ins  Leben  rief,  ein  Mäzen  zu  werden. 
Lebten  und  sammelten  doch  auch  in  Ungarn  Bibliophilen-Huma- 
nisten  wie  Johann  Vit6z.  Daß  die  Bibliotheca  Corvina  in  ihrer 
Zeit  eine  der  hervorragendsten  Liebhaberbüchereien  war,  dafür  sind 
ihre  Prachtbände  noch  heute  gewichtige  Zeugen.  Aber  die  mancher- 
lei späteren  Nachrichten  übertrieben  ihren  Umfang  und  ihren  inneren 
Wert.  Nach  der  unglücklichen  Schlacht  bei  Mohöcz  [1526]  wurde 
die  etwa  1000  bis  1500  Bände  zählende  Büchersammlung  eine 
Kriegsbeute  der  Türken  und  zerstreut.  Schon  König  Wladislaus  IL 
hatte  in  seiner  Geldnot  und  Machtlosigkeit  den  ererbten  Schatz 
weder  vermehren  noch  wahren  können  seine  kostbarsten  Stücke 
an  die  Gesandten  verpfändet  oder  verschenkt.  Heute  ist  die  Cor- 
vinus-Sammlung  bis  auf  kärgliche  Überreste  verloren  oder  aus  der 
Blick  weite  der  Geschichtsschreibung  verschwunden. 

Dem  Beispiel  des  Königs  Corvinus  folgten  in  den  späteren  Jahr- 
hunderten die  Magnaten,  die  große  Privatbibliotheken  anlegten,  so 
die  Fürsten  Esterhdzy  in  Eisenstadt.  Graf  Samuel  Teleki 
hatte  1795  auf  seinem  Schlosse  in  Maros-VäsÄrhely  eine  der  aus- 
gezeichnetsten  Bibliophilenbibliotheken,  Graf  Franz  von  Sze- 
chenyi  legte  1802  mit  der  Stiftung  seiner  ausgedehnten  Bücherei 
den  Grundstock  der  dem  Ungarischen  Nationalmuseum  ange- 
gliederten Landesbibliothek.  Um  das  Jahr  1800,  als  die  Bemühungen 
der  in  Wien  lebenden  Gardisten  eine  neue  Blütezeit  des  magyarischen 
Schrifttums  wachriefen,  kam  die  Bücherliebhaberei  ebenfalls  zu 
einer  erneuerten  Anerkennung.  Die  Martin  Georg  Kovachich 
[1743-1821],  Nikolaus  Jancovich  [1773-1846],  Martin  Georg 
^^gy»  dessen  Handschriften  und  ungarische  Wiegendrucke  der 
ungarische  Staat  für  125000  Gulden  ankaufte,  Ludwig  Parkas, 
Stefan  Nagy,  Kardinal  und  Fürstprimas  von  Ungarn  Johann 
Simor  [1813—1893]  in  Gran,  Domprobst  Josef  Dankö  [1829 
— 1894]  in  Preßburg  mühten  sich,  mit  Gelehrsamkeit  und  Ge- 
schmack  ihre   Privatbibliotheken   auszustatten.     Aus   allen   diesen 

365 


BÖHMEN 

Sammlungen  gelangten  wertvollste  Bestände  in  die  öffentlichen 
Bibliotheken  Ungarns.  Die  große  Hungaricakollektion  des  Senats- 
präsidenten Georg  von  Räth  kam  in  den  Besitz  der  Königlich 
ungarischen  Akademie  der  Wissenschaften.  Eine  ähnliche  bedeutende 
Bücherei,  die  er  durch  ein  vortreffliches  Katalogwerk  zugänglich 
werden  ließ,  hatte  Graf  Alexander  Apponyi  sich  erworben. 
Und  neben  den  eigentlichen  Liebhaberbüchereien  des  neunzehnten 
Jahrhunderts,  den  Sammlungen  Josef  Agoston,  Gustav  von 
Emich,  Graf  Stefan  Keglevich,  Ferdinand  Knauz,  Etzel 
von  Szemere  ließen  die  alten  Familienbibliotheken  der  Grafen 
Karolyi,  Karätsonyi,  Zichy,  Teleki,  Szechenyi,  Vigyazö 
und  anderer  es  sich  angelegen  sein,  für  die  Buchpflege  in  Ungarn  zu 
wirken.  — 

Kaiser  Karl  IV.  aus  dem  Hause  Luxemburg  hatte  1348  die  erste 
deutsche  Universität  in  Prag  gegründet  und  bald  [1336]  ist  mit  ihr 
auch  eine  Universitätsbibliothek  verbunden  gewesen.  Die  alte 
Karolinische  Bibliothek  blieb  bis  1555  erhalten,  in  welchem  Jahre 
sie  die  Jesuiten  übernahmen  und  im  Dominikanerkloster  St.  Clemens, 
dem  Clementinum,  unterbrachten,  sie  vermehrend.  Als  dann  1638 
Kaiser  Ferdinand  IH.  die  Universität  wiedel*  der  jesuitischen  Leitung 
entzog,  entstand  auch  eine  neue  Universitätsbibliothek,  die  1773, 
nach  der  Aufhebung  des  Jesuitenordens,  mit  der  früheren  vereinigt 
und  dazu  erheblich  aus  den  Klosterbibliotheken  vergrößert  wurde. 
Andererseits  hatten  die  Hussitenkriege,  hatte  der  Bücherraub  der 
Schweden  im  Dreißigjährigen  Kriege  bedauerliche  Verluste  den 
älteren  und  ältesten  Beständen  gebracht.  An  diesem  Beispiel  der 
Prager  Universitätsbibliothek,  das  sich  bis  in  unsere  Gegenwart 
weiter  verfolgen  ließe,  ist  die  Bibliophilieentwicklung  in  Böhmen, 
wo  von  Nürnberg  her  über  Pilsen  und  Prag  zwischen  1470  und  1480 
der  Buchdruck  eingeführt  worden  ist,  zu  erklären.  Sie  ist  bisher  nie, 
obschon  es  weder  an  reich  und  reichhaltig  ausgebauten  Familien- 
bibliotheken fehlte,  obschon  die  Büchersammlungen  mancher  Klöster 
und  Stifte  sehr  umfangreich  und  wertvoll  geworden  sind,  obschon 
auch  bedeutendere  Privatbibliotheken  entstanden  und  vergingen,  zu 
einer  eigenen  Gestaltung  gewachsen;  nicht  zum  wenigsten  deshalb, 

366 


POLEN 

weil  auch  in  den  Büchersammlungen  das  deutsche  und  das 
tschechische  Element  einander  widerstrebten,  jenes  zu  keiner  selb- 
ständigen Auswirkung  im  Buchwesen  kam,  dieses  sich  dem  deutschen 
Buchwesen  einschloß.  — 

Kasimir  der  Große  hatte  im  Königreich  Polen  1364  in  Krakau 
eine  Universität  gegründet,  die  aber  erst  1400  von  Ladislaus 
Jage  Ho  ausgebaut  worden  ist.  Damals  ist  ihr  auch  die  Jagelloni- 
sehe  Bibliothek  verbunden  worden.  Zwar  ermangelten  die  Edelsitze 
und  Gelehrtenstuben  Polens  in  den  späteren  Jahrhunderten  nicht  der 
Büchereien,  aber  die  staatlichen  Verhältnisse  und  Verwicklungen 
waren  dem  Aufbau  größerer  Büchersammlungen  oft  wenig  günstig, 
die  in  der  Ausbreitung  einer  Volksbildung  keine  Stützpunkte  finden 
konnten.  So  sind  denn  auch  die  bedeutenderen  polnischen  Privat- 
bibliotheken meist  die  Familienbibliotheken  der  alten  führenden 
Geschlechter  gewesen,  die,  obschon  den  westlichen  Zivilisationen  zu- 
geneigt, ihnen  einen  nationalpolnischen  Charakter,  der  die  polnischen 
Traditionen  verkörperte,  zu  verleihen  strebten;  während  die  Biblio- 
philenbibliotheken  einer  internationaleren  Orientierung  sich  eben- 
falls weit  mehr  nach  dem  Westen,  insbesondere  nach  Frankreich  hin, 
als  nach  einer  allgemeineren  slawischen  Richtung  weiteten. 

Arbeitskraft  und  Bücherleidenschaft,  Gelehrsamkeit  und  Ge- 
schicklichkeit, gerichtet  auf  ein  hohes  Ziel,  vereinten  sich  in  dem 
berühmtesten  Bibliophilen  Polens,  dem  Kronreferendar  und  späteren 
Bischof  von  Kiew,  Josef  Andreas  Zaluski  [1702-1774].*  Mit 
achtzehn  Jahren  hatte  er  bereits  13000  Bücher  gesammelt.  Während 
er  sie,  Gelegenheiten  und  Reisen  nutzend,  unablässig  vermehrte, 
versuchte  er  gleichzeitig  die  Herstellung  einer  vollständigen  polni- 
schen Bibliographie  So  hat  er  ebenso  als  Bücherforscher  wie  als 
Büchersammler  die  Inventarisierung  der  polnischen  Literatur  vor- 
genommen, ehe  es  dafür  zu  spät  wurde;  immer  von  dem  Gedanken 
getrieben,  in  seiner  Bibliothek  einen  Mittelpunkt  des  geistigen  Le- 
bens seines  Volkes  zu  schaffen.  Und  das  alles  gegen  die  ihm  überall 
in  dem  verfallenden  Königreiche  sich  entgegensetzenden  Wider- 
stände. Indessen  er  sich  bemühte,  von  einem  außerordentlichen  Ge- 
dächtnis unterstützt,  in  die  Büchermassen  Ordnung  zu  bringen,  Ver- 

♦  Abb.  256  367 


BUSSLAND 

zeichnisse  herstellen  zu  lassen,  Mitarbeiter  auszubilden,  ungedruckte 
Werke  zu  veröffentlichen,  einen  Plan  zu  verwirklichen,  nach  dem  in 
Warschau  eine  Akademie  seiner  Bibliothek  angegliedert  und  eine 
Universität  ihr  verbunden  werden  sollten,  fand  er  nur  geringe  Teil- 
nahme. Die  Benutzung  seiner  dem  allgemeinen  Gebrauch  eröffneten 
Sammlung  blieb  weit  hinter  seinen  Erwartungen  zurück,  dafür 
kamen  die  Diebe  in  um  so  größerer  Zahl.  Seine  eigenen  Mittel  ver- 
sagten und  die  des  Staates  versagten  sich  ihm.  Zwar  gelang  es  ihm 
noch,  ein  Gebäude  für  die  Sammlung,  die  1774  rund  230000  Bände 
sowie  11000  Handschriften  zählte  und  auf  3000000  Gulden  ge- 
schätzt wurde,  zu  finden,  aber  die  ihn  treffende  Verbannung  nach 
Kaluga  ließ  sie  verwahrlosen.  Nach  ihres  Begründers  Tode  in  den 
Besitz  des  Staates  übergegangen,  der  das  kostbare  Vermächtnis  an 
das  polnische  Volk  nicht  zu  wahren  wußte,  wurde  sie  1794  eine  Beute 
der  Russen.  Ein  Befehl  der  Kaiserin  Katharina  II.  ließ  sie  nach 
Sankt  Petersburg  überführen,  wobei  ein  Fünftel  des  Zaluskischen 
Bibliothek  gestohlen,  verloren,  vernichtet  wurde,  indessen  der  Über- 
rest größtenteils  den  Grundstock  der  Kaiserlichen  öffentlichen  Biblio- 
thek in  der  Hauptstadt  Rußlands  legte,  deren  Bau  auf  dem  Newski 
Prospekt  1801  fertig  wurde  und  ihn  aufnahm.* 

Das  Buchwesen  in  dem  gewaltigen,  Abend-  und  Morgenland  ver- 
einigenden Reiche  Rußland  hatte  keine  einheitliche  Entwicklung  und 
könnte  sie  auch  nicht  haben.  Und  selbst  in  dem  Bereiche  des  euro- 
päischen Rußland  und  des  russischen  Schrifttums  hatte  diese  Ent- 
wicklung die  stärksten  Hemmungen  zu  überwinden;  Hemmungen, 
die  ebenso  in  der  langsamen  Ausbildung  einer  autorisierten  russischen 
Schriftsprache  und  mit  ihr  eines  russischen  Schrifttums  und  eines 
russischen  Bildungsbegriffes  vorhanden  waren  wie  in  dem  politischen 
Zwange,  den  die  Regierung  bis  in  das  zwanzigste  Jahrhundert  übte. 
Das  russische  Buchwesen  ist  bis  dahin  niemals  frei  geworden,  es  stand 
unter  geistlicher  und  staatlicher  Vormundschaft.  Das  aber  übte 
wiederum  auch  seinen  Einfluß  auf  das  Buch  selbst,  das  seine  höchsten 
Liebhaberwerte  oft  als  Schmuggelware  fand  —  denn  ein  Teil  der 
russischen  Literatur  wurde  ja  auch  im  Auslande  gedruckt  —  und 
erfüllte  den  Leser  mit  einiger  Gleichgültigkeit  gegen  das  Buch,  die 

368  *Abb.a57.2S8 


RUSSLAND 

sich  sogar  auf  den  Sammler  übertrug.  Wozu  noch  hinzukam,  daß  die 
Gebildeten  und  Vornehmen  die  ,westliche  Kultur*  bevorzugten  und 
vor  allem  dem  französischen  Buche  huldigten.  So  fehlte  der  Biblio- 
philie  des  europäischen  Rußland  lange  der  nationale  Zug,  den  sie  erst 
erhielt,  als  die  älteste  russische  Druckgeschichte  durchforscht  wurde; 
die  Literatur  Rußlands  eine  anerkannte  selbständige  Stellung  in  der 
europäischen  gewonnen  hatte.  Zwar  hatte  schon  Sweybold  Veyl  in 
Krakau  1491  die  ersten  slawischen  Bücher  gedruckt,  aber  das  Buch- 
wesen Rußlands  fand  doch  erst  einige  Festigung,  als  der  Zar  Iwan 
der  Schreckliche  aus  politisch-religiösen  Gründen  1563  die  erste 
Druckerei  Rußlands,  die  Moskauer  Synodaldruckerei,  gegründet 
hatte.  Immerhin  sind,  nach  W.  P.  Ssemennikow,  bis  zum  Ende  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  nur  etwa  10000  Bücher  in  Rußland  ge- 
pruckt  worden,  die  größtenteils  populäre,  praktische  und  religiöse 
Schriften,  dazu  Übersetzungen,  verbreiteten.  Im  neunzehnten  Jahr- 
hundert entwickelten  sich  Druckwesen  und  Verlag  freier,  auch  die 
Ausstattung  der  Bücher  fand  weitergehende  Beachtung  und  führte 
bis  zu  den  Liebhaberausgaben.  Bereits  am  Anfange  dieses  Jahr- 
hunderts gab  der  Gönner  der  russischen  Geschichtswissenschaft, 
N.  Rumjanzew  [1754—1826]  in  den  27  auf  seine  Kosten  und  unter 
seiner  Mitwirkung  veröffentlichten  Werken  Beispiele  einer  Biblio- 
philen-Buchpflege,  die  schon  in  einigen  Prachtwerken  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  Vorgänger  gehabt  hatte.  Seine  Bücherei  und  seine 
anderen  wissenschaftlichen  Sammlungen  hinterließ  er  als  eine  Stif- 
tung, aus  der  das  1861  nach  Moskau  verlegte  Rumjanzewsche  Mu- 
seum entstanden  ist. 

Die  Belebung  des  Büchersammelwesens,  die  im  achtzehnten 
Jahrhundert  vielfach  einem  äußeren  Zwange  folgte  —  der  Kaiser- 
liche Hofbuchhändler  Klostermann  verkaufte  die  mit  dem  Zollstock 
abgemessenen  Bandreihen  für  50  bis  100  Rubel,  je  nach  dem  Ein- 
bände, an  die,  die  sich  rasch  auf  einen  Besuch  der  Kaiserin  Katha- 
rina einzurichten  hatten  —  gewann  im  neunzehnten  ihre  innere 
Kraft  aus  dem  nationalen  Selbstbewußtsein.  Seit  dem  Anfange 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  bildeten  sich  Büchereien,  die  sich 
als  Sammlungen  nach  strengerem  System  zusammenschlössen,    so 

300ENa    24  369 


DANEMARK 

die  der  Geistlichen  Pitirim,  des  heiligen  Innocenz  von  Irkutsk 
und  Afanassjis  Kondoidi.  Auch  die  Privatbibliotheken  weltlicher 
Buchfreunde  wurden  nun  häufiger.  Der  Zarewitsch  Alexei, 
Generalfeldmarschall  Bruce,  Graf  A.  Matwejew  und  besonders 
Fürst  D.  Golyzin,  dessen  Sammlung  schon  6000  Werke  zählte, 
sind  die  ersten  angeseheneren  russischen  Bibliophilennamen.  Aber 
die  nationale  Richtung  der  russischen  Bibliophilie  ist  doch  immer 
mehr  oder  minder  mit  einer  internationalen  verbunden  gewesen« 
Eine  ganze  Anzahl  der  größten  russischen  Liebhaberbüchereien  ist 
im  Auslande  entstanden  und  auch  im  Auslande  wieder  zerstreut 
worden.  Diejenigen,  die  streng  russisch  blieben,  konnten  einen 
rechten  Zusammenhang  mit  den  Literaturen  des  Westens  nicht 
finden,  hatten  der  Eigenart  des  älteren  russischen  Schrifttums  wegen 
einen  primitiven  Charakter.  Hier  gab  es  erst  durch  die  Wechsel- 
wirkungen zwischen  den  anderen  europäischen  Literaturen  und  der 
russischen,  dieam  Ende  des  neunzehnten  Jahrhunderts  sich  ver- 
stärkten, Ausgleichungen.  Dafür  mag  die  Büchersammlung  des 
Grafen  Leo  N.Tolstoi  ein  Beispiel  sein  mit  ihrem  Bücherbunterlei. 
In  ihr  sammelte  zum  ersten  Male  ein  russischer  Schriftsteller  in 
den  Reihen  der  Übersetzungen  seiner  Werke  Weltruhm,  mochte  er 
selbst  am  Ende  seines  Lebens  ihn  auch  verachtet  haben.   — 

Die  Anfänge  der  Bibliophilie  in  den  skandinavischen  Staaten 
führen  auf  Deutschland  zurück,  von  hier  aus  kam  der  Buchdruck 
nach  dem  Norden.  Aber  auch  die  geistigen  Strömungen,  hervor- 
gerufen durch  die  Bewegung  der  Reformation,  die  seit  der  Hansezeit 
sich  ausbildenden  ökonomischen  und  politischen  Wechselbeziehungen, 
machten  die  deutschen  Nachbarstaaten  zum  natürlichen  Vermittler 
zwischen  Skandinavien  und  Westeuropa,  indessen  der  Einfluß  Eng* 
lands  durch  Handel  und  Schiffahrt  zurückwirkte.  Diese  Kosmopolit 
tat,  frühzeitig  neben  der  Internationalität  der  Wissenschaften,  die 
auch  Skandinavien  in  das  gelehrte  lateinische  Universalreich  ein- 
bezog, sich  ausbildend,  begann  seit  dem  Erstarken  der  dänisch- 
norwegischen  und  der  schwedischen  Nationalliteratur  zwar  allmäh* 
lieh  in   den  drei  Königreichen  der  Vormachtstellung  ihres  eigenen 

370 


17.  JAHBHUNDEBT 

Schrifttums  zu  weichen.  Indessen  blieben  doch  bis  in  das  neunzehnte 
Jahrhundert  hinein  andere  Länder  sowohl  im  Buchwesen  wie  in 
der  Literatur  für  Skandinavien  mit  tonangebend;  die  allgemeine 
literarische  Bildung  war  weit  weniger  beschränkt  als  die  größerer 
Völker,  war  mehrsprachig;  ein  Zug,  der  sich  deutlich  auch  in  den 
Büchersammlungen  ausprägte. 

Die  Umwandlung  der  alten  katholischen  Kirchen-  und  Kloster'* 
bibliotheken  in  die  neuen  reformierten  weltlichen  hatte  sich  in 
Dänemark,  entsprechend  seiner  ganzen  Reformationsbewegung,  ver-' 
hältnismäßig  ruhig  vollzogen.  In  Kopenhagen  hatte  König  Christian  I. 
im  Jahre  1479  die  Universitätsbibliothek  errichtet,  die  auch  mit  nord-* 
deutschen  Privatbibliotheken,  so  teilweise  denen  von  J,  A.  Fa* 
bricius  und  Reimarus  vermehrt,  aber  [1728]  durch  einen  Brand 
geschädigt  worden  war.  Und  die  von  König  Friedrich  III.  [1640 
—1679]  gegründete  Königliche  Bibliothek  konnte  durch  die  Auf«» 
nähme  einer  Anzahl  bedeutender  Bibliophilen-  und  Familienbiblio'» 
theken,  unter  denen  die  Büchereien  Danneskjold-Samsoe,  Gottorp, 
Moldenhawer,  Rostgaard,  Thott,  Suhm  die.  hervorragendsten  waren, 
ihr  äußeres  und  inneres  Wachstum  erheblich  beschleunigen. 

Die  Büchersammlungen  Dänemarks  im  sechzehnten  und  sieb^ 
zehnten  Jahrhundert  wahrten  noch  ihren  gelehrten  Charakter.  Die 
Verbindung  der  Reformatorenbibliotheken  mit  der  deutschen  Re- 
formationsliteratur, ihr  Gehalt  an  lateinischen  theologischen  Werken 
erschienen  selbstverständlich,  ebenso  selbstverständUch  blieb  noch 
in  der  Fachgelehrsamkeit  die  lateinische  Sprache.  Ein  Tycho 
Brahe  [1546—1601],*  der  auf  seiner  Astronomeninsel  Hven  den 
Betrieb  eigener  buchgewerblicher  Werkstätten  neben  dem  der  großen 
Sternwarte  eingerichtet  hatte  und  dessen  Bücherei  nun  überallhin 
zerstreut  ist,  wendete  sich  mit  seinen  Veröffentlichungen  ebenso  an 
ein  internationales  Publikum  wie  er  ihre  Dedikationsexemplare,  die 
er  kostbar  ausstatten  ließ,  an  seine  Gönner  in  aller  Herren  Länder  ver- 
schickte. Ähnliche  Verhältnisse  bestanden  ja  auch  noch  in  den  ande- 
ren Ländern,  deren  Literatur  schon  einen  erheblichen  Umfang  und 
Wert  gewonnen  hatte,  deren  Sprache  sehr  viel  weiter  galt  als  die 
dänische.    Im  Auslande  kamen  auch  die  dänischen  Diplomaten  und 

«4-  *Abb.259,26o  371 


I 


DANEMARK 

Kavaliere   auf   den   Geschmack   ihrer   Liehhaberbüchereien.     Just 
Hoeg  in  Fultofte  [1640—1694],  der  spätere  Vizestatthalter  von  Nor- 
wegen, sammelte  die  5000  Bände  seiner  1695  in  Kopenhagen  ver- 
steigerten Bücherei  als  Gesandter  in  Nimwegen  [1676—1679]  und  Paris 
[1679—1681],  der  Geheime  Rat  Friedrich  Walter  [1649—1718],  der 
im  Hofdienste  1708  bis  1709  den  König  Friedrich  IV.  nach  Italien  be- 
gleitet hatte,  stellte  in  dem  Bändetausend  seiner  1719  in  Kopenhagen 
unter  den  Hammer  gekommenen  ausgewählten  Bücherei  das  Muster 
einer  auch  durch  die  Einbandliebhaberei  verfeinerten  Buchpflege  auf. 
Am  Anfange  des  achtzehnten  Jahrhunderts  gab  es  manchen 
dänischen  Buchfreund  —  [und  sogar  eine  Bücherliebhaberin,  Karen 
Brahe,  die  eine  von  Anne  Gjee  ererbte,  jetzt  in  Odense  befindliche, 
Bücherei  systematisch  durch   dänische  Drucke  und  Handschriften 
vermehrte]  —  vornehme  und  wohlhabende  Büchersammler  wie  den 
Grafen  Johan  Ludvig  Holstein-Ledreborg  [1694—1763],  der 
eine  Bücherei  von  20000  Druckwerken,   Flugschriften,  600  Hand- 
schriften als  Familiengut  hinterließ,  das  1812  durch  eine  Auktion 
verkleinert   wurde,   oder  den   Grafen  Christian  Danneskjold- 
Samsae  [1702—1728],  dessen  7500  Bände  Druckwerke  und  522  Hand- 
schriften bergende  Büchersammlung  1732  aufgelöst  wurde.  Dazu  Ge- 
lehrte, deren  Privatbibliotheken  nach  Auswahl  und  Umfang  wichtig 
wurden,  wie  Niels  Foß  [1670—1751],  dessen  12000  Bände  meist  histo- 
rische und  philologische  Werke  bargen,  oder  den  Geheimrat  Johan 
Theodor  Holmskjold  [1731—1793],  der  6000  Bände  naturwissen- 
schaftlicher   Schriften    zusammenbrachte,    oder   den    Prediger   der 
deutschen  reformierten  Gemeinde  Johan  Lebrecht  Stubenrauch 
[1707 — 1776],   dessen  Beschäftigung  mit  antiquarisch-bibliographi- 
schen Studien  ihm  zu  einer  ausgewählten  Liebhaberbücherei  verhalf. 
Auch  die  Repräsentationsbibliotheken  fehlten  nicht.    So  hatte  der 
Graf  Johan  Hartwig  Ernst  Bernstorff  [1712—1772]  1744  bis 
1750  sich  in  Paris  eine  Privatbibliothek  im  noblen  Stil  zu  schaffen 
gewußt,  die  er  nun  in  der  Heimat  erweiterte.    Und  mancher  andere 
Bibliophilenname   ließe    sich    hier    noch   anführen.     Die  wichtigste 
Sammelarbeit  dieses  Zeitraumes  leistete  jedoch  ein  Isländer,  Arni 
Magnussen  [1663—1730],  der  von  1702  bis  1712  auf  seiner  Insel  die 

372 


18.  JAHRHUNDERT 

jetzt  in  der  Königlichen  Bibliothek  zu  Kopenhagen  aufbewahrte,  als 
arnemagnäanische  Bibliothek  vielgenannte,  großartige  Sammlung 
altisländischer  Handschriften  zustande  brachte. 

Die  bedeutenden  Büchersammler  Dänemarks,  die  in  der  zweiten 
Hälfte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  hervortraten,  fanden  in  dem 
Buchfreunde  und  Büch«rkenner  B.  W.  Luxdorph  ihren  Führer. 
Amtliche  und  persönliche  Beziehungen  verbanden  ihn  mit  dem 
Grafen  Otto  Thott,*  einem  der  größten  Gutsbesitzer  des  Landes, 
den  er  oft  auch  in  Tiltaelde  besuchte,  wo  dessen  Privatbibliothek 
aufgestellt  war,  die  mit  ihren  wertvollsten  Beständen,  den  alten 
Drucken  [bis  zum  Jahre  1530  6059  Bänden]  und  den  Handschriften 
durch  ein  Vermächtnis  des  Sammlers  der  Königlichen  Bibliothek 
in  Kopenhagen  zufiel,  die  außerdem  in  den  verschiedenen  Thott- 
auktionen  noch  rund  50000  Bände  erwarb.  Auf  seinen  Auslands- 
reisen hatte  Graf  Thott  die  Begründung  seiner  Büchersammlung, 
die  durch  den  Kopenhagener  Brand  von  1728  erheblich  vermindert 
wurde,  begonnen  gehabt.  Sie  ist  dann  aber  schließlich  doch  bis  zu 
ihrer  endgültigen  Aufstellung,  die  der  Büchersaal  im  Kopenhagener 
Palaste  des  Grafen  am  Kongens  Nytorv  zeigte,  auf  138000  Bände 
vermehrt  worden,  die  nach  seinem  Tode  größtenteils  in  den  Auk- 
tionen der  Jahre  1789—1795  zerstreut  worden  sind.  Auch  die 
100000  Bände  der  Bücherei  des  Historikers  Peter  Frederik 
Suhm  [1728-1798]  gelangten  1796  für  10000  Rdl.  an  die  gleiche 
Stelle.  Das  Ergebnis  einer  halbhundertjährigen  Sammlertätigkeit, 
konnte  sich  ihr  innerer  Reichtum  freilich  nicht  mit  dem  der  Biblio- 
theca  Thottiana  messen.  Aber  auch  Suhm  hatte  für  ihre  Ver- 
mehrung viel  aufwenden  können  und  auch  er  hatte  es  nicht  ver- 
säumt, wenn  er  aus  Norwegen  nach  Kopenhagen  kam,  sich  mit 
Luxdorph  zu  beraten.  Weit  wohlhabender  als  Luxdorph  war  auch 
der  dritte  seiner  Gesinnungsgenossen  und  Mitsammler,  Henrik 
Hielmstierne  [1715—1780],*  der  ihm  am  nächsten  stand.  Dem 
Amtskollegen  befreundet,  verband  ihn  mit  Luxdorph  die  ähnliche 
Geschmacksrichtung,  die  auf  die  Qualität,  nicht  bloß  auf  die  Quanti- 
tät ihrer  Bibliotheken  ausging.  Hielmstierne,  der  Sohn  eines  in 
Kopenhagen  zu  Ansehen  gelangten  isländischen  Kaufmanns,  hatte 

*  Abb.  261,  262  373 


DANEMARK 

von  einem  längeren  Aufenthalte  in  Straßburg,  Paris  und  London 
[1740—1742]  eine  Erziehung  zur  Bibliophilie  heimgebracht,  die  er 
im  nationalen  Sinne  auszunutzen  wußte.  In  glücklichen  Verhält- 
nissen lebend,  nahm  er  als  Geheimer  Rat  1771  unter  Struensee 
seinen  Abschied  aus  dem  Staatsdienste,  nicht  unbedeutend  auf  dem 
Gebiete  der  Wissenschaften  —  er  gehörte  äeit  ihrer  Gründung  der 
Videnskabernes  Selskab  und  der  Danske  Selskab  an  —  konnte  er  die 
Aufgabe  lösen,  einen  Bücherschatz  zusammenzubringen,  der  wie 
kein  zweiter  bis  dahin  dänische  Drucke  in  ihrer  Vollständigkeit  einer 
Privatbibliothek  einfügte.  Darauf  bedacht,  ausgesuchte  Stücke  zu 
erwerben,  scheute  er  keine  Kosten  und  Mühen,  defekte  Exemplare 
zu  ergänzen.  Fehlendes  nachbilden  zu  lassen;  kurz,  er  leistete  eine 
Sammlerarbeit,  die  in  ihren  Zielen  sich  mit  denen  der  späteren 
Germanistik  und  skandinavischen  Philologie  begegnete.  Mit  seiner 
Bibliophilenbibliothek,  die  seine  Tochter,  Gräfin  M.  G.  Rosencrone, 
der  Königlichen  Bibliothek  stiftete,  erreichte  er  neben  seinem  Freunde 
Bolle  Willum  Luxdorph  [1716—1788]  den  Höhepunkt  der 
Bücherliebhaberei  und  Buchpflege  Dänemarks  im  achtzehnten 
Jahrhundert.  Denn  diese  Bibliophilen  um  Luxdorph,  unter  denen 
Jacob  Langebek  ebenfalls  die  ehrenvollste  Erwähnung  verdient, 
waren  nicht  lediglich  Bücherjäger  und  Bücherkenner  in  der  Ver- 
gangenheit; sie  verweilten  ebenso  gern  in  der  Gegenwart,  mühten 
sich,  die  Ausbildung  der  Buchkunst  und  in  Verbindung  mit  ihr  die 
nationale  Schrifttumspflege  zu  fördern,  legten  Wert  darauf,  ihren 
Namen  in  den  Subskribtenlisten  neuer  Prachtwerke  zu  finden,  ohne 
deshalb  Unscheinbareres  zu  vergessen.  Luxdorph  hat  eine  in  25  Bände 
gebundene  Reihe  von  500  der  sogenannten,  in  den  Jahren  1771 
bis  1775  veröffentlichten,  Druckfreiheitsschriften  zusammengetragen 
—  Dänemark  war  der  erste  Staat  gewesen,  der,  am  14.  September 
1770,  die  Preßfreiheit  einführte  und  die  Zensur  aufhob  —  Tages- 
blättchen,  die  damals  kaum  verwahrt  wurden  und  heute  kaum 
wiederzufinden  sind.  Die  Hoffnung,  die  sich  in  einer  anderen  von 
ihm  angelegten  Sondersammlung  aussprach,  die  er  ,Icones  Longue- 
vorum*  nannte  und  in  der  er  schließlich  729  Bildnisse  von  Achtzig- 
jährigen und  noch  älteren  vereinte,  ist  ihm  nicht  ganz  und  gar  er- 

374 


19.  JAHRHUNDERT 

füllt  worden.  Er  starb,  zu  seinen  Jahren  gekommen,  in  seiner 
amtlichen  Juristenlaufbahn,  dank  seiner  Kenntnisse  und  Tüchtig- 
keit zu  hohen  Würden  gelangt,  als  Assessor  am  Höchstgericht, 
Kanzleideputierter  und  Geheimrat.  In  bescheidener  Genügsamkeit 
sein  Leben  führend,  suchte  er  seinen  Reichtum  in  der  geistigen 
und  künstlerischen  Atmosphäre  seiner  Bibliothek,  deren  Blumen- 
und  Früchtegarten  er  mit  genießender  Sorgfalt  umhegte.  Schon  in 
der  Büchersammlung  seines  Onkels,  des  Bischofs*  von  Seeland, 
Christen  Worm,  die  1728  großenteils  verbrannte,  war  ihm  die 
Bücherlust  erweckt  worden.  Ohne  in  den  eigenen  wissenschaftlichen 
Forschungen  bis  zu  größeren  Veröffentlichungen  vorzudringen,  wußte 
seine  rezeptive  Natur  aus  den  mannigfaltigsten  Studien  Nutzen  zu 
ziehen.  Dafür  führte  ihn  sein  Bibliophilentemperament  überallhin; 
mit  kleineren  und  größeren  SpezialkoUektionen  in  der  universellen 
Anlage  seiner  Bücherei  auf  eigene  Aussichtspunkte.  Die  Beschäfti- 
gung mit  den  bibliognostischen  Notizen,  die  er  auf  die  Vorsatz- 
blätter seiner  Bücher  schrieb;  ihr  Exzerpieren  und  ihre  Lektüre;  die 
Fürsorge  für  ihre  gute  Ausstattung  —  er  benutzte  ein  besonderes 
Supralibros,  einen  Elefantenkopf  —  und  ihre  Ordnung,  gaben  seinen 
Mußestunden  einen  für  ihn  köstlichen  Inhalt,  an  dem  er  andere  Buch- 
freunde gern  teilnehmen  ließ.  Als  vom  14.  September  bis  zum  14.  Ok- 
tober 1789  die  1151  Folianten,  3310  Quartanten,  7844  Oktavbände 
und  2751  Duodezformate  mitsamt  den  493  Handschriften,  der 
Bildnis-  und  Kartensammlung  versteigert  wurden,  brachten  sie 
einen  ansehnlichen  Erlös,  9657  Rdl.  5  Mk.  6  Sk.  Die  Beruhigung 
eines  Sammlerstillebens,  wie  sie  die  Bibliotheca  Luxdorphiana  zeigte, 
ist  gerade  den  Bibliophilenbibliotheken  der  kleineren  Literaturen 
eigen.  Sie  lassen  es  noch  zu,  daß  der  Gedanke  einer  Auslese  des 
besten  Büchergutes  im  Umkreise  der  Nationalliteratur  nahezu  bis 
zur  Vollständigkeit  möglich  wird,  daß  es  sich  hoffen  läßt,  ein  nächst- 
liegendes Sammlungsziel  zu  erreichen.  An  ausgedehnten  Bücher- 
sammlungen hat  es  Dänemark  auch  im  neunzehnten  Jahrhundert 
nicht  gefehlt.  Der  geheime  Archiv-  und  Konferenzrat  Caspar 
Frederik  Wegener  [1802-1893]  in  Roskilde  hatte  die  rund  22000 
Nummern  seiner  1902  von  der  Staatsbibliothek  in  Aarhus  über- 

375 


SCHWEDEN 

nommenen  Büchersammlung  eigens  in  einem  gewaltigen  Bücher- 
saale untergebracht,  um  sich  an  dem  Anblick  ihres  Umfanges  zu  ver- 
gnügen. Sie  kann  der  langen  Zeit  wegen,  die  sie  im  Besitze  des  einen 
Buchfreundes  durchdauerte,  der  ihren  Aufbau  bereits  als  Schüler 
begonnen  hatte,  gewissermaßen  als  ein  Auszug  der  dänischen  Privat- 
bibliotheken des  neunzehnten  Jahrhunderts  gelten,  obschon  sie  weit 
eher  eine  fachwissenschaftliche  als  eine  Liebhaberbücherei  wurde. 
Wählerischer  ^ar  die  an  32  000  Bände  zählende  Büchersammlung 
des  norwegischen  Juristen  Thorvald  Olaf  Boeck  [1835 — 1901] 
in  Kristiania  zusammengebracht  worden,  die  ebenfalls  die  dänisch- 
norwegische Literatur  in  ihrem  ganzen  Umfange  vereinen  wollte 
und  die  in  den  Besitz  der  norwegischen  Akademie  der  Wissenschaften 
in  Trondhjem  übergegangen  ist.  Buchgewerbe  und  Buchkunst  Däne- 
marks hatten  im  letzten  Viertel  des  neunzehnten  Jahrhunderts  eine 
eigene  kräftige  Entwicklung  genommen,  die  die  Bücherliebhaberei 
und  das  Büchersammelwesen  förderte,  das  sich  im  zwanzigsten  Jahr- 
hundert vertiefte  und  weitete.  Bis  an  die  Grenzen  dieser  neuesten 
Zeit  reichte  die  Bibliotheca  Wegeneriana. 

Die  Bücherbeute  der  Schweden  während  des  Dreißigjährigen 
Krieges  in  den  deutschen  Ländern;  dann  in  Dänemark,  in  Polen  und 
Rußland,  hatte  aus  ihrer  Heimat  die  Bestände  einer  Reihe  alter  Samm- 
lungen geführt.  Bei  Gustav  Adolfs  Lebzeiten  war  diese  Kriegsbeute 
meist  der  Universität  Uppsala  zugewiesen  worden,  dagegen  behielt 
seine  bücherliebende  und  gelehrte  Tochter  Königin  Kristina*  das 
meiste  aus  den  in  den  Jahren  1642  bis  1648  erbeuteten  böhmischen 
und  mährischen  Bibliotheken  für  ihre  eigene  Bücherei  zurück  oder 
gab  es  als  Geschenk  an  ihre  Günstlinge  weiter,  wie  an  den  1686  ge- 
storbenen Reichskanzler  Grafen  Magnus  Gabriel  de  la  Gar- 
die,  dessen  Privatbibliothek  hierdurch  reich  vermehrt  wurde.  Aber 
sie  bedachte  auch  die  kleineren  Kirchen-  und  Schulbibliotheken. 
Nach  ihrer  Thronentsagung  nahm  sie  dann  die  eigene  Büchersamm- 
lung mit  sich  fort,  die  schließlich  in  die  Bibliotheca  Vaticana  ge- 
kommen ist.  Die  alte,  von  König  Johann  IIL  begründete  König- 
liche Schloßbibliothek  ist  zwar  durch  den  Brand  vom  5.  April  1697 
großenteils  vernichtet  worden.   Doch  die  Könige  Gustav  IIL  und  IV., 

376  *  Abb.  263 


17.  JAHRHUNDERT 

dazu  die  allgemeine  nationale  Teilnahme  ließen  sie  wieder  aufblühen. 
Die  deutschen  Feldzüge  hatten  auch  dem  Grafen  Carl  Gustaf 
Wrangel  die  Bücher  geliefert,  die  seine  berühmte  Bücherei  im 
Schlosse  Skokloster  gründeten.  Andere  alte  -Familienbibliotheken 
mehrten  sich  aus  denen  der  polnischen  Feldzüge,  so  die  der  Oxen- 
stierna,  die  1732  teilweise  aufgelöst  wurde.  In  dem  dänisch-schwedi- 
schen Kriege  der  Jahre  1657—60  kamen  auf  diese  billige  Weise,  in 
einem  löblichen  Wetteifer  zwischen  Magnus  Gabriel  de  la  Gardie 
und  dem  Grafen  Carl  Gustav  Wrangel,  auch  einige  dänische  Biblio- 
philenbibliotheken  nach  Schweden,  unter  ihnen  die  berühmte 
Büchersammlung  von  J  er  gen  Seefeld  im  Ringstedkloster,  die 
Karl  X.  Gustav  Corfitz  Ulf eld  verehrt  hatte  und  die  nach  dessen 
Fall  [1660]  in  die  Königliche  Bibliothek  nach  Stockholm  gelangte. 
Es  war  eine  Bewegung  der  Büchermassen  im  derart  bunten  Durch- 
einander der  Auf-  und  Zuteilungen,  in  der  die  Büchereien  getrennt, 
die  Bücher  häufig  verloren  oder  vernichtet  wurden,  daß  sich  die 
Einzelheiten  ihres  raschen  Wechsels  nur  schwer  verfolgen  lassen. 
Jedenfalls  aber  gaben  sie  der  Bibliophilie  Schwedens  im  siebzehnten 
Jahrhundert  ein  eigenes  Gepräge,  in  der  selbst  die  diesem  großen 
Büchersegen,  der  noch  in  den  Versteigerungen  des  achtzehnten  und 
neunzehnten  Jahrhunderts  weiterwirkte,  fernerstehenden  Buch- 
freunde einen  Anreiz  ihrer  Bücherliebhaberei  finden  konnten.  Und 
es  ist  gewiß  kein  Zufall,  daß  auch  der  Hof  rat  La  Gardies,  Ludwig 
Frisenhäuser  [1611—1694]  zu  den  eifrigsten  und  geschmack- 
vollsten Sammlern  seiner  Zeit  gehörte.  Ähnlich  wie  in  Dänemark 
gestaltete  sich  dann  auch  in  Schweden  mit  der  Erstarkung  des  na- 
tionalen Schrifttums  eine  eigenere  Entwicklung  der  Bibliophilen- 
bibliotheken,  die  mit  dem  Ausgange  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
dank  den  Fortschritten  der  bibliographischen  und  bibliotheks- 
geschichtlichen Studien,  dank  dem  Emporstreben  des  Buchgewerbes 
in  der  Buchkunst  eine  Anerkennung  ihres  Sonderwertes  erfuhren. 
Große  Liebhaberbüchereien  waren  im  neunzehnten  Jahrhundert 
entstanden  und  größtenteils  in  der  Stille  oder  in  öffentlichen  Ver- 
steigerungen wieder  aufgelöst  worden,  so  die  des  Doktors  der  Theo- 
logie J.  A.  Lüdecke  [1840],  die  des  Vizebibliothekars  J.  A.  Brun- 

377 


SCHWEDEN 

nerus  [Lund  1875],  die  Ban6rsche  [1876-1877],  die  Ceder- 
hjelmsche  [1878—1880],  die  des  Freiherrn  N.  Gyldenstolpe 
[1884-1885],  die  von  G.  H.  Sträle  [1887].  Der  Freiherr  Nils 
Silfverschiöld  auf  Koberg  hatte  eine  der  kostbarsten  schwedischen 
Privatbibliotheken  in  kurzer  Sammlerzeit  sich  zu  eigen  gemacht, 
der  Freiherr  Per  Hierta  auf  Frammestad  das  Beispiel  eindrin- 
gender Buchforschung  gegeben,  der  Freiherr  Carl  Carlson  Bonde 
auf  Ericsberg  ebenso  wie  der  Graf  Carl  Trolle- Bondeauf  Trolle- 
holm das  der  Buchpflege  einer  ererbten  großen  Familienbibliothek. 
Zu  den  bemerkenswertesten  Buchmännern  Schwedens  hat 
Emanuel  Swedenborg  [1688—1772]  gehört.  Denn  dieser  Vi- 
sionär war  nicht  allein  ein  Gelehrter,  Naturforscher  und  Sprach- 
kenner von  großer  Vielseitigkeit,  sondern  auch  ein  gelernter  Buch- 
binder, der  sich  der  in  seiner  Jugend  erworbenen  handwerklichen  Ge- 
schicklichkeit gern  noch  in  späteren  Jahren  rühmte.  Und  da  ihm 
auch  die  Kupferstechkunst  nicht  fremd  war,  hat  der  eifrige  Besucher 
der  europäischen  Bibliotheken  und  Buchhändler  dem  Buchwesen 
und  der  Wissenschaft  vom  Buche  in  allen  ihren  Zweigen  eine  dauernde 
Teilnahme  geschenkt.  An  einer  1740  zur  Dreihundert] ahrfeier  der 
Buchdruckerfindung  in  Leipzig  veröffentlichten  Festschrift  beteiUgte 
er  sich  mit  einem  lateinischen  Lobgedichte,  für  die  Ausstattung  seiner 
eigenen  Werke  sorgte  er  mit  vielem  Geschmack.  Zwar  besaß  er 
selbst  nur  eine  kleine  Büchersammlung,  die  eine  Wand  seines  1767 
erbauten  Sommerhauses  füllte  doch  war  sie  gewählt  und  durch 
mancherlei  Seltenheiten  geziert.  Deshalb  darf  der  Mann,  der  in 
einer  dies-  und  jenseitigen  Welt  leben  wollte,  ein  Wunsch,  den  ein 
Jahrhundert  später  auch  sein  großer  Landsmann  August  Strindberg 
hegte,  wohl  als  ein  Zeuge  für  die  Bibliophilie  genannt  werden,  der  in 
der  Nobelbibliothek  in  Stockholm  ein  Tempel  der  ideellen  Güter,  die 
sie  schützt,  errichtet  worden  ist.  Denn  die  Aufgabe  dieser  Büchersamm- 
lung ist  die  Verwahrung  der  Meisterwerke  des  Weltschrifttums  und 
wenn  sie  auch  zunächst  ihre  Entstehung  den  praktischen  Zwecken  der 
Nobelstiftung  zu  verdanken  hat,  so  ist  doch  ihr  Leitgedanke  auch  der 
der  BibUophilenbibliotheken  aller  Völker  und  aller  Zeiten  gewesen, 
das  beste  und  schönste  zu  gewinnen,  das  in  den  Büchern  steckt. 

378 


VII.  ENGLAND 

Auch  auf  den  britischen  Inseln  blühte,  von  Irland  sich  ausbrei- 
tend, Bücherliebe  und  Bücherlust  des  Mittelalters;  im  geistigen 
Tauschverkehr,  dessen  Vermittler  die  Bücher  waren,  mit  den  jen- 
seits des  Kanals  gelegenen  Ländern  wachsend,  in  der  englischen  Ge- 
staltung des  Humanismus,  dem  Revival  of  learning,  ausreifend. 
Frühe  Legenden  ranken  sich,  gleich  dem  Efeu  um  die  alten  Kathe- 
dralen und  Kirchen,  um  die  Namen  von  geistlichen  und  gelehrten 
Herren,  die  zu  Büchereiengründern  wurden,  in  denen  sie  die  Pfleg- 
stätten des  Lehrens  und  Schreibens,  Lernens  und  Lesens  schufen. 
Ein  angelsächsischer  Mönch  Benedikt  der  Bischof  [u.  628—690] 
gilt  als  der  erste  große  Büchersammler  Englands  —  aber  was  be- 
deutet eine  solche  Annahme  mehr  als  die  menschliche  Empfindung 
für  den  Anfang  einer  jeden  Erscheinung  —  der  die  von  ihm  ge- 
schaffene Sammlung  teils  seinem  um  867  von  den  Dänen  zerstörten 
Kloster  Wearmouth,  teils  dessen  Schwesterkloster  Jarrow  hinter- 
ließ. Ihn  hatte  manche  Bücherreise  nach  Rom  geführt  und  nichts 
anderes  als  Bibliothecae  christianae  waren  auch  diese  englischen 
Bibliotheken,  durch  die,  ein  Johannes  der  Zeitenwende,  im  drei- 
zehnten Jahrhundert  Roger  Baco  [1214—1294]  schritt.  Er,  der 
schon  in  der  neuen  Gedankenwelt  lebte,  der  von  Flugschiffen, 
Kompaß  und  Schießpulver  sprach,  der  ebensosehr  die  Experimental- 
methode  wie  seinen  eigenen  Ruhm  empfahl,  hat,  obschon  nicht  die 
Brille  selbst  doch  wenigstens  ihre  Idee  gekannt.  So  mag  man  ihn 
einen  Boten  der  kommenden  Jahrhunderte  nennen,  in  denen  Brille 
und  Buch  kennzeichnend  wurden  für  den  Bücherweisen,  von  dem 
sich  immer  weiter  diejenigen  entfernen  wollten,  die  freien  Blickes 
über  die  Erde,  die  sie  durchforschten,  hinaussahen  in  die  weiten 
Welten  des  Himmels  und  der  Seele.  Alcuin  [Ealwhine],  geboren  in 
York  735,  gestorben  in  Tours  804,  am  Hofe  Karls  des  Großen  in  hoher 
Vertrauensstellung,  hat  die  internationale  theologische  Richtung  in 
seinen  dem  Büchersammeln  und  Bücherschreiben  gewidmeten  lateini- 
schen Versen  ausgedeutet.  In  engerer  Verbindung  mit  dem  französi- 
schen Buchwesen  ist  dessen  Verweltlichung  dann  in  England  vollzogen 

379 


ENGLAND 

werden.  Als  Guy  de  Beauchamp,  Earl  of  Warwick  1315  starb, 
hinterließ  er  der  Bordesley  Abbey  in  Worcestershire  seine  Bücherei, 
deren  Liste  diese  Beziehungen  zwischen  den  englischen  und  fran- 
zösischen Vornehmen,  die  gesellschaftliche  Bildung  des  inter- 
nationalen Rittertums  kennen  lehrt:  A  tus  iceux,  qe  ceste  lettre 
verront,  on  ourront,  Gwy  de  Beauchamp,  Comte  de  Warr.  Saluz  en 
Deu.  Salus  nous  aveir  bayl6  e  en  la  garde  le  Abbe  e  le  Covent  de 
Bordesley e,  lesse  a  demorer  a  touz  jours  touz  les  Romaunces  de  sonz 
nomes ;  ceo  est  assaveyr,  un  volum,  qe  est  appele  Tresor.  Un  volum, 
en  le  quel  est  le  premer  livere  de  Lancelot,  e  un  volum  del  Romaunce 
de  Aygnes.  Un  Sauter  de  Romaunce.  Un  volum  des  Evangelies, 
e  de  Vie  des  Seins.  Un  volum,  qe  p'le  des  quatre  principals  Gestes 
de  Charles,  e  de  dooun,  e  de  Meyace  e  de  Girard  de  Vienne  e  de 
Emery  de  Nerbonne.  Un  volum  del  Romaunce  Emmond  de  Ageland, 
e  deu  Roy  Charles  dooun  de  Nauntoyle.  E  le  Romaunce  de  Gwyoun 
de  Nauntoyl.  E  un  volum  del  Romaunce  Titus  et  Vespasien.  E  un 
volum  del  Romaunce  Josep  ab  Arimathie,  e  deu  Seint  Grael.  E  un 
volum,  qe  p'le  coment  Adam  fust  enieste  hors  de  paradys,  e  le  Ge- 
nesie. E  un  volum  en  le  qel  sount  contenuz  touns  des  Romaunces, 
ceo  est  assaveir,  Vitas  patrum  au  comencement;  e  pus  un  Comte  de 
Auteypte;  e  la  Vision  Saint  Pol;  el  pus  les  Vies  des  XH.  Seins.  E  la 
Romaunce  de  Willame  de  Loungespe.  E  Autorites  des  Seins  humes. 
E  le  Mirour  de  Alme.  Un  volum,  en  le  quel  sount  contenuz  La  Vie 
Seint  Pere  e  Seint  Pol,  e  des  autres  liv.  E  un  volum  qe  est  appele 
l'Apocalips.  E  un  livere  de  Phisik,  e  de  Surgie,  Un  volum  del 
Romaunce  de  Gwy,  e  de  la  Reygne  tut  enterement.  Un  volum  del 
Romaunce  de  Troies.  Un  volum  del  Romaunce  de  Willame  de  Oren- 
ges  e  de  Teband  de  Arabie.  Un  volum  del  Romaunce  de  Amase  e 
de  Idoine.  Un  volum  del  Romaunce  Girard  de  Viene.  Un  volum 
del  Romaunce  deu  Brut,  e  del  Roy  Costentine.  Un  volum  de  le 
enseignemt  Aristotle  euveiez  au  Roy  Alisaundre.  Un  volum  de  la 
mort  ly  Roy  Arthur,  e  de  Mordret.  Un  volum  en  le  qel  sount  con- 
tenuz les  Enfaunces  Nostre  Seygneur,  coment  il  fust  mene  en  Egipt. 
E  la  vie  Seint  Edwd.  E  la  Visioun  Saint  Pol.  La  Vengeaunce  n're 
Seygneur  par  Vespasien  a  Titus,  e  la  Vie  Seint  Nicolas,  qe  fust  nez 

380 


14.  J  AHRHUN  DER  T 

en  Patras.  E  la  Vie  Seint  Eustace.  E  la  vie  Seint  Cudlac.  E  la 
Passioun  n're  Seygneur.  E  la  Meditacioun  Seint  Bernard  de  n're 
Dame  Seint  Marie,  e  del  Passioun  sour  deuz  fiz  Jesu  Creist  n're 
Seignr.  E  la  Vie  Seint  Eufrasie.  E  la  Vie  Seint  Radegounde.  E  la 
Vie  Seint  Juliane.  Un  volum,  en  leqel  est  aprise  de  Enfants  et  lu- 
miere  k  Lays.  Un  volum  del  Romaunce  d'a  Alisaundre,  ove  pein- 
tures.  Un  petit  rouge  livere,  en  le  qel  sount  contenuz  mons  diverses 
choses.  Un  volum  del  Romaunce  des  Mareschans,  e  de  Ferebras  e 
de  Alisaundre  .  Les  queus  nous  grauntous  par  nos  heyrs  e  par  nos 
assignes  qil  demorront  en  la  dit  Abbaye   &c.'* 

Die  altberühmten  Bildungsstätten  in  Oxford  und  Cambridge 
fanden,  als  im  dreizehnten  Jahrhundert  die  ersten  jener  selbständi- 
gen Schulen,  jener  Colleges,  entstanden  oder  doch  zu  solchen  re- 
organisiert wurden,  nach  dem  Muster  des  ersten  eigentlichen  College, 
des  Merton  College  [1262]  in  Oxford,  bereits  zahlreiche  Bücher  vor, 
die  zu  sammeln  und  bei  ihren  reichen  Mitteln  ihren  Zwecken  nutz- 
bar zu  machen,  sie  jedenfalls  nicht  versäumten;  zumal  ihre  Aufgabe 
über  die  der  Klosterschulen  hinaus  die  Erziehung  derjenigen  Geist- 
lichen war,  die  sich  dem  öffentlichen  Dienste  als  Staatsmann  oder 
Arzt,  als  Künstler  oder  Gelehrter  widmen  wollten.  In  Oxford  begann 
man  bereits  1320  Vorbereitungen  für  den  Bau  eines  besonderen,  der 
Bibliothek  der  university  bestimmten  Büchersaales  zu  treffen;  ein 
Jahrhundert  früher  hinauf  reichen  die  Nachrichten  über  Bücher- 
schenkungen, aber  erst  1409  war  der  1367  endlich  begonnene  Bau 
vollendet. 

Wahrscheinlich  war  damals  bereits  die  durch  ihren  Besitzer 
angesehenste  englische  Liebhaberbücherei,  die  den  Übergang  zu 
einer  neuen  Zeit  mit  verwirklichte,  zum  größten  Teile  nach  Oxford 
gekommen,  die  des  Kanzlers  und  Schatzmeisters  Königs  Eduard  III., 
Richards  de  Bury*  [wie  er  nach  seinem  Geburtsorte]  oder  Aunger- 
ville  [wie  er  nach  seinem  Vater,  dem  normannischen  Sir  Richard, 
genannt  wurde].  Geboren  1287  bei  Bury  St.  Edmond,  seit  1333  Bischof 
von  Durham,  gestorben  1345,  scheint  Richard  de  Bury  allerdings 
mehr  ein  weltmännisch  gebildeter  Staatsmann,  als  ein  gelehrter 
Geistlicher  gewesen  zu  sein,  der  auch  den  Aufwand  einer  bedeutenden 

*  Abb.  264  381 


ENGLAND 

Büchersammlung  zeigte,  um  durch  sie  Geltung  zu  gewinnen.  Ihr 
Schicksal  ist  ungewiß.  Versprochen  hatte  er  sie  dem  Durham  Colleg 
in  Oxford,  das  im  sechzehnten  Jahrhundert  von  Henry  VIII.  auf- 
gelöst wurde.  Damals  sind  dann  wohl  auch  die  Bücherschätze 
Richard  de  Burys  zerstreut  worden;  teils  in  Duke  Humphreys  Library, 
teils  in  die  Bibliothek  des  Balliot  College,  teils  in  den  Besitz  des 
königlichen  Leibarztes  Dr  George  Owen  de  Godstow  gekommen. 
Vielleicht  aber  waren  die  Bücher  Richard  de  Burys  niemals  im  Durham 
Colleg,  sondern  sind  als  Schuldenzahlung  vor  oder  nach  seinem  Tode 
zerstreut  worden.  Wie  dem  auch  sei,  seine  Schrift  über  die  Bücher* 
liebhaberei  und  die  Buchpflege,  die  er  ein  ,Philobiblon*  nannte 
und  schon  ganz  im  Geschmacke  der  Bibliophilen- Humanisten  ver*' 
faßte  —  war  er  doch  persönlich  mit  Petrarca  in  Avignon  bekannt  ge«» 
worden,  der  ihn  einen:  Vir  ardentis  ingenii  nee  litterarum  inscius 
nannte  —  ist  erhalten  geblieben  und  allein  ihretwegen  schon  darf 
Richard  de  Bury  der  Klassiker  unter  den  Büchersammlern  Alt« 
Englands,  ja  des  europäischen  Mittelalters,  genannt  werden.  Denn 
echt  englisch  ist  in  diesem  humanistischen  Traktat  der  Ausgleich 
zwischen  Idealismus  und  Reahsmus ;  ihr  Gedankenflug  in  die  hohen 
Gefilde  des  geistigen  Lebens  findet,  anders  als  in  den  Meditationen 
Petrarcas,  immer  wieder  zum  Boden  der  Wirklichkeit  zurück;  sie  ist 
auch  der  älteste  Bibliophilielehrmeister  für  die  eben  entstehende 
neue  Bücherwelt,  kein  bloßer  Bücherlobspruch.  [Einige  Hand- 
schriften nennen  allerdings  Robert  Holkot  als  Verfasser  des  am 
24.  Januar  1344  vollendeten  Werkes,  der  es  aber  nur  nach  dem  Plane 
und  den  Anweisungen  seines  Bischofs  ausgearbeitet  haben  dürfte. 
1473  ist  es  in  Köln  zum  ersten  Male  gedruckt  worden.] 

Des  Buches  edle  Geselligkeit  hatten  Edward  III.,  Chaucers  und 
Froissarts  Gönner,  zu  schätzen  verstanden  als  eine  neue  Form 
ritterlicher  Unterhaltung  und  ritterlichen  Zeitvertreibes.  Das  ver- 
raten die  Verse  G,  Chaucers  im  Book  of  the  Duchesse. 

So  whan  I  saw  I  might  not  slepe, 

Til  now  late,  this  other  night, 

Upon  my  bedde  I  sat  upright, 

And  bad  oon  reche  me  a  book, 

382 


14.  JAHRHUNDERT 

A  romauncey  and  he  hit  me  took 
To  rede  and  dryve  the  night  away; 
For  me  thogte  it  better  play 
Than  playen  either  at  chesse  or  tables. 

Bei  aller  Ehrerbietung  vor  der  Bücher  Gelehrsamkeit  und  Weis- 
heit ließ  solche  Bücherfreude  nicht  zum  Bücherwurm  werden.  Das 
gab  derselbe  Dichter  [The  Legend  of  Good  Women]  zu  erkennen. 

Than  mote  we  to  bokes  that  we  finde, 

Through  which  that  olde  thinges  been  in  minde, 

And  to  the  doctrine  of  these  olde  wyse, 

Yeven  credence,  in  every  skilful  wyse, 

And  trowen  on  these  olde  aproved  stories 

Of  holinesse,  of  regnes,  of  victories, 

Of  love,  of  hate,  of  other  sundry  thinges, 

Of  whiche  I  may  not  maken  rehersinges. 

And  if  that  olde  bokes  were  a-weye, 

Y-loren  vere  of  remenbraunce  the  keye. 

Wel  oghte  us  than  on  olde  bokes  leve, 

Ther-as  ther  is  non  other  assay  by  preve. 

And,  as  for  me,  though  that  my  wit  be  lyte, 

On  bokes  for  to  rede  I  me  delyte, 

And  in  myn  herte  have  hem  in  reverence; 

And  to  hem  yeve  swich  lust  and  swich  credence, 

That  ther  is  wel  unethe  game  noon 

That  from  my  bokes  make  me  to  goon, 

But  hit  be  other  up-on  the  haly-day, 

Or  elles  in  the  joly  tyme  of  May; 

Whan  that  I  here  the  smale  foules  singe, 

And  that  the  floures  ginne  for  to  springe, 

Farwel  my  Studie,  a  lasting  that  sesoun! 

Hier  schieden  sich  die  Wege  am  Rain,  wo  der  Buchfreund  der 
Bücher  Narren  zurückließ;  wo  der  Gebildete  sich  vom  Gelehrten 
trennte;  der  Dichter  mit  den  schönen  Künsten  vom  Pedanten. 

383 


ENGLAND 

A  Clerk  ther  was  of  Oxenford  also 

That  un-to  logik  hadde  long  y-go. 

As  lene  was  his  hors  as  is  a  rake, 

And  he  was  nat  right  fat,   I  undertake; 

But  loked  holwe,  and  ther-to  soberly. 

Ful  thredbar  was  his  overest  courtepy; 

For  he  had  geten  him  yet  no  benefyce, 

Ne  was  so  wordly  for  to  have  offyce. 

For  him  was  lever  have  at  his  beddes  heed 

Twenty  bokes,  clad  in  blak  or  reed, 

Of  Aristotle  and  his  philosophye 

Than  rohes  riebe,  or  fithele,  or  gay  sautrye. 

But  al  be  that  he  was  a  philosophre, 

Yet  hadde  he  but  litel  gold  in  cofre; 

But  al  that  he  mighte  of  his  freendes  hente, 

On  bokes  and  on  lerninge  he  it  spente, 

And  bisily  gan  for  the  soules  preye 

Of  hem  that  yaf  him  wher-with  to  scoleye. 

Of  Studie  took  he  most  eure  and  most  hede. 

Noght  o  word  spak  he  more  than  was  nede, 

And  that  was  seyd  in  forme  and  reverence, 

And  short  and  quik,  and  ful  of  hy  sentence. 

Souninge  in  moral  vertu  was  his  speche, 

And  gladly  wolde  he  lerne,  and  gladly  teche. 

Das  Patronat  der  Künste  und  Wissenschaften  lernte  man  als 
eine  Pflicht  verstehen,  die  Vornehmen  wohl  anstand.  Bald  war  das 
Bemühen  des  Buchfreundes  im  fünfzehnten  Jahrhundert  darauf  ge- 
richtet, die  Bücher,  die  es  gab,  kennen  zu  lernen.  Ein  Bibliograph, 
durchforschte  John  Boston  aus  Bury  alle  Büchersammlungen,  in 
die  er  Eintritt  fand,  um  sich  genaue  Titel  Verzeichnisse  anzulegen. 
Bald  war  es  der  Bann  der  Buchschönheit,  dem  man  unterlag.  John 
Plantagenet  [1]  Duke  of  Bedford  erfreute  sich  an  dem  Manu- 
skriptenprunk, den  die  Meister  der  Miniatur  ihm  schufen,  an  seinem 
aus  französischer  Beute  sich  mehrenden  Bücherschatz.     Bald  war 

384 


16.  JAHRHUNDERT 

es  das  Bibliotheksproblem,  die  Überzeugung  von  dem  Wert,  den  die 
gemeinnützige  zweckdienliche  Einrichtung  einer  Büchersammlung 
hat,  die  den  Buchfreund  nicht  ruhen  ließ.  Nicht  allein  beschränkte 
sich  Sir  Walter  Sherington  auf  das  Büchersammeln  für  den 
eigenen  Gebrauch;  er  vertrat  die  Ansicht,  ohne  Bibliothek  sei  eine 
Kathedrale  unvollkommen,  er  machte  den  Versuch,  Regeln,  in  eng- 
lischer Sprache,  aufzustellen,  die  die  Benutzung  der  Bücher  ver- 
bessern sollten.  Sie  alle  standen  noch  vor  den  Grenzen  des  alten 
und  neuen  Buchlandes,  das,  unter  der  Regierung  Edwards  IV. 
Caxton  für  England  erobern  sollte;  wieBedfords  Bruder  Humphrey 
Plantagenet  [1]  Duke  of  Gloucester  [1391—1447],*  der  von 
Jugend  an  die  Bände  der  Gelehrsamkeit  christlicher  Kirchenväter 
und  arabischer  Wissenschaft  um  sich  vereinte  nebst  einigen  wenigen 
der  antiken  Klassiker  [seine  Bücherei  ist  in  Edwards  VI.  Tagen  ein 
Opfer  des  Pöbels  geworden],  der  in  Verbindung  mit  den  italienischen 
Humanisten  stand  und  sich  mit  Büchergeschenken  an  die  Uni- 
versität Oxford  so  verdient  machte,  daß  sie  ihm,  nicht  ohne  einige 
schmeichlerische  Übertreibung,  1444  den  Ehrennamen  des  „Grün- 
ders** ihrer  Büchersammlungen  verlieh.  Zwischen  1439  und  1446 
schenkte  er  ihr  mit  allen  seinen  lateinischen  Büchern  an  600  Hand- 
schriften, von  denen  ein  Teil  vermutlich  aus  der  alten  librairie  der 
französischen  Könige  stammte,  die  nach  Bedfords  Tod  wahrschein- 
lich aufgelöst  oder  in  den  Besitz  seines  Bruders  gekommen  war. 
Dazu  gab  er  reiche  Geldgeschenke,  zuletzt  100  Pfund  für  die  Voll- 
endung der  neuen,  seit  1426  erbauten  School  of  Divinity,  die  die 
immer  mehr  anwachsende  Bibliothek  beherbergen  sollte.  Als  1488 
die  neue  Bibliothek  ihrem  Gebrauche  übergeben  wurde,  ein  dem 
Revival  of  Learning  errichtetes  Schloß  —  es  hieß  nun  Duke  Hum- 
phreys  Library  —  bildete  sie  den  stärksten  Stützpunkt  für  die  er- 
wachenden Geister,  denen  die  Regierung  König  Henrys  VII.,  un- 
gestört durch  innerpolitische  Wirren,  die  Ruhe  des  Schaffens  und 
Schauens  schützte.  Als  dann  nach  der  Renaissance  mit  der  Refor- 
mation die  Revolution  kam,  als  der  Protestantismus,  immer  mehr 
zum  Zelotentum  erstarrend,  unter  Heinrich  VIII.  bei  der  Auf- 
hebung der  Klöster  zum  Bildersturm  führte,  blieb  zwar  die   Ox- 

BOOENO    S6  *  Abb.  265  385 


ENGLAND 

forder  Bibliothek  noch  unberührt  und  unversehrt.  Aber  schon  1550 
wurde  sie  nach  papistischen  Schriften  durchsucht,  geplündert,  ver- 
nichtet und  nur  ganz  geringe  Reste  der  stolzen  ersten  Oxforder 
Universitätsbibliothek  gelangten  in  die  neue,  die  Bodleian  Library, 
deren  Namen  den  des  Neubegründers  der  Oxforder  Universitäts- 
bibliothek nennt.  — 

In  England  war  es  im  fünfzehnten  Jahrhundert  vornehmer  Ton 
geworden,  in  Italien  zu  reisen,  um  an  seinen  Universitäten  zu  stu- 
dieren und  an  seinen  Höfen  zu  leben.  Die  dann  mit  gelehrter  und 
weltmännischer  Bildung  in  die  Heimat  Zurückkehrenden  nahmen 
mit  den  nach  England  entführten  Kunst-  und  Bücherschätzen  auch 
die  Neigung  mit,  diesen  Besitz  zu  mehren.  Und  die  nach  italienischen 
Mustern  begründeten  Liebhaberbüchereien,  so  die  von  Lord  Cob- 
ham,  Sir  Walter  Sherington  [Clastonbury  Library]  und 
John  Tiptoft,  Earl  of  Worcester,  fanden  manche  Nach- 
ahmungen, die  mehr  und  mehr  einen  nationalen  Charakter,  ins- 
besondere auch  durch  die  Ausbreitung  der  Buchdruckerkunst  in 
England  gewannen. 

Das  Beispiel  des  Buchgeschmackes,  daß  der  englische  Hof  gab, 
ist  anfänglich  nur  gering  gewesen.  Zwar  besaßen  auch  Englands 
Könige  Bücher  oder  Büchereien  —  Edward  IV.  [1465—1483],  aus 
dem  Hause  Plantagenet,  hatte  bereits  eine  Anzahl  von  Druckwerken, 
die  in  das  Verzeichnis  der  ihm  gehörenden,  von  London  nach  dem 
Eltham  Palace  überführten  Werte  aufgenommen  wurden  —  in- 
dessen eine  Büchersammlung  des  Königlichen  Hauses  ist  doch  kaum 
vorhanden  gewesen;  zumal  da  auch  das  nationale  Buchgewerbe 
noch  darniederlag,  die  Einführung  der  Buchware  aus  dem  Auslände^ 
besonders  aus  Italien,  dem  Buchhandel  und  den  Bücherkäufern  ge- 
nügte. Derart  ist  der  Begründer  der  Old  Royal  Library  [die 
1757  dem  British  Museum  zufiel]  der  erste  König  aus  dem  Hause 
Tudor,  Henry  VII.  [1485 — 1509],  geworden.  Er  hinterheß  seinem 
Sohn  Henry  VIII.  [1509 — 1547],  der  die  Einfuhr  fremder  Druckwerke 
und  Einbände  durch  ein  ,Act  for  Printers  and  Binders  of  Bokes' 
[25  Hen.  VIII.  cap.  15]  einschränkte,  eine  recht  stattliche  Samm- 
lung, die  bald  anwuchs  und  von  deren  Stamm  Henry  VIII.  eine  An- 

386 


l" 


16.  JAHRHUNDERT 

zahl  Handbüchereien  in  St.  James  und  anderen  Schlössern  sich  ab- 
zweigen ließ.  Sein  Hofbuchbinder,  der  etwa  1556  gestorbene  Fran- 
zose [oder  Italiener]  Thomas  Berthelet  [Bartlet],  hatte  die  neue 
Art  der  Einbandverzierung,  die  Handvergoldung  auf  den  feinen 
Lederbänden  im  Renaissancestil,  nach  England  gebracht.  Seine 
in  der  Fleet  Street  gelegene  Werkstätte,  deren  Ladenschild  die 
,Lucretia  Romana'  zeigte,  kam  in  die  Mode  mit  den  Mustern  der  Ein- 
bände „after  the  Italian  fascion'*  oder  „after  the  fascion  of  Venice". 
Zu  seinen  besten  Kunden  gehörte  der  Fürst  von  Wales,  der  spätere 
König  Edward  VL  [1547—1553]  und  es  bildete  sich  eine  Bücher- 
sammlergruppe,  deren  Einbandliebhaberei  unmittelbar  den  fran- 
zösischen Vorbildern  folgte. 

Die  Einbandliebhaberei,  die  Hochschätzung  des  kunstreichen 
Prachtbandes,  ist  im  England  der  Elizabethanischen  Zeit,  haupt- 
sächlich von  Thomas  Wotton  [1521  —  1587]*  gepflegt  worden,  den 
man,  da  die  Bände  seiner  Liebhaberbücherei  den  Grolierstil  nach- 
ahmten, den  englischen  Grolier  genannt  hat.  Allerdings  ist  die  Aus- 
führung der  für  ihn  gefertigten  Prunkbände  hinter  ihrem  französischen 
Muster  zurückgeblieben.  Thomas  Wotton,  der  Sohn  Sir  Edward 
Wottons,  des  Treasurer  von  Calais  und  eines  der  Testamentsvoll- 
strecker Heinrichs  VHL,  hatte  seit  1547  die  Amtstätigkeit  seines 
Vaters  unterstützt  und  war  ihm  nach  dessen  Tode  1551  in  dieser 
gefolgt.  Auch  er  erfreute  sich  des  königlichen  Wohlwollens,  im 
Juli  1573  durfte  er  die  Königin  Elizabeth  auf  seinem  Landsitze 
Boughton  Malherbe  empfangen.  Ein  Förderer  der  protestantischen 
Religion  und  der  Wissenschaften,  wird  er  als  ein  Mann  „of  great 
learning,  religion  and  wealth'*  geschildert.  Also  als  ein  ernsthafter 
Mann,  dessen  Einbandliebhaberei  einer  tieferen  Verehrung  des 
Buches  entsprang,  ähnlich  wie  bei  seinem  Vorbilde  Grolier,  der 
ebenfalls  Gelehrsamkeit  und  Geschmack  verband.  Eine  nähere  Be- 
kanntschaft Groliers  und  Wottons  erscheint  nicht  ausgeschlossen, 
die  Beziehungen  des  englischen  Buchfreundes  zum  französischen 
Buchwesen  ergaben  sich  ja  leicht  aus  seinem  Aufenthalte  in  Frank- 
reich und  erweisen  sich  auch  durch  die  vielen  französischen  Aus- 
gaben, die  in  seiner  Bücherei  standen.    Gleich  ihm  hatte  ein  anderer 

25«  *  Abb.  267  387 


ENGLAND 

englischer  Einbandliebhaber,  Sir  William  Pickering  [1516 
— 1575]*  seinen  Buchgeschmack  in  Frankreich  gebildet.  Früh 
[1538]  in  Heinrichs  VI  IL  Hof  dienst  gelangt,  ist  er  keineswegs  ein 
grämlicher  Bücherwurm  gewesen.  Das  beweist  eine  am  1.  April 
1543  gegen  ihn  und  Henry  Howard  stattgehabte  Gerichtsverhand- 
lung, weil  die  beiden  nächtlicherweile  Lärm  in  den  Londoner  Straßen 
erregt  hatten:  ,,breaking  the  Windows  of  the  houses  with  stones 
shot  from  cross-bows*\  Nach  dergleichen  jugendlichen  Kavaliers- 
vergnügungen wurde  aber  auch  Sir  William  gesetzter.  Ausgezeichnet 
bei  der  Thronbesteigung  Eduards  VII.,  Parlamentsmitglied  für 
Warwicky  ging  er  als  außerordentlicher  Gesandter  im  Februar 
1550—1  zum  Könige  von  Frankreich,  um  über  ein  Bündnis  zwischen 
den  beiden  Reichen  zu  verhandeln.  Im  April  des  gleichen  Jahres 
zum  Botschafter  ernannt,  gewann  er  auch  dessen  Gunst.  Trotzdem 
bat  er  wiederholt  um  seine  Rückberufung,  weshalb  ihm  unter 
anderem  Thomas  Wotton  als  Gesandtschaftsmitglied  beigesellt 
wurde.  Erst  1553  wurde  er  abberufen,  erst  1558  war  er  wieder  im 
diplomatischen  Dienste  in  Belgien  und  Deutschland  tätig,  den  er 
1559  verließ,  um  sich  auf  seinen  Landsitz  Pickering  House  bei 
London  zurückzuziehen.  Man  sprach  damals  davon,  daß  eine  ehe- 
liche Verbindung  zwischen  der  Königin  Elizabeth  und  ihm  möglich 
wäre.  Doch  starb  er,  gelegentlich  noch  an  politischen  Ehrenstellen 
hervortretend,  unverehelicht.  In  seinem,  vier  Tage  vor  seinem  Tode, 
am  31.  Dezember  1574  errichteten  Testamente  vermachte  er  an  Cecil 
seine  Antiquitäten,  Archivalien,  Globen,  Kompasse  und  sein  Pferd 
,,Bawle  Price**.  Seine  Bücherei,  die  nicht  geteilt  werden  sollte, 
hinterließ  er  für  den  Fall  ihrer  Vermählung  seiner  ehelichen  Tochter 
Hester,  die  später  Sir  Edward  Wotton,  den  Sohn  des  Bibliophilen 
und  Diplomaten,  ehelichte.  Dessen  und  Sir  Pickerings  Bücher 
kamen  dann  wenigstens  mit  ihren  Hauptteilen  als  Heiratsgut  der 
Catharine,  ältesten  Tochter  und  Miterbin  Thomas  Lord  Wottons, 
an  ihren  Mann  Sir  Henry  Stanhope  und  dadurch  in  die  bei  Sothebys 
1920  in  London  versteigerte  Familienbibliothek  der  Chesterfield. 
Königin  Elizabeth  [1533—1603],*  deren  Einbandgeschmack 
die  weibliche  Art  der  Samt-,  Seide-  und  Stickereibände  bevorzugte, 

388  *  Abb.  266,  269 


17.  JAHRHUNDERT 

darf  vielleicht  eine  Buchfreundin  genannt  werden,  obschon  sie  kaum 
eine  Büchersammlerin  gewesen  ist.  Dagegen  legte  der  Hofadel  schon 
vielen  Wert  auf  die  Bibliothekenrepräsentation  des  Einband- 
prunkes; ihr  Liebling,  Robert  Dudley,  Earl  of  Leicester 
[1532—1588],  vergaß  nicht,  des  Besitzes  einer  ansehnlichen  Bücher- 
sammlung durch  Namen-  und  Wappenzeichen  ihrer  für  ihn  nicht 
ohne  Prachtentfaltung  ausgestatteten  Einbände  sich  zu  rühmen. 
Auch  William  Cecil,  Lord  Burghley  [1520—1598],  der  eine 
reichhaltige  Sammlung  von  Druckwerken  und  Handschriften  hatte, 
sowie  der  Erzbischof  von  Canterbury,  Matthew  Parker  [1504 
— 1575],  liebten  den  Einbandluxus  und  dieser  hatte  sogar  im 
Lambeth  Palast  eine  eigene  Buchbinderei  für  sich  einrichten  lassen. 
Er  war  ein  Sammler  großen  Stils,  dessen  Agenten  auf  dem  Kontinent 
ebenso  für  die  Bereicherung  seines  Bücherschatzes  zu  sorgen  hatten 
wie  er  selbst  es  verstand,  die  Auflösung  der  geistlichen  Anstalts- 
und der  Klosterbibliotheken  auszunutzen.  Auch  der  erste  König 
aus  dem  Hause  Stuart,  James  1.  [1566—1625]  gehörte  zu  den  Ein- 
bandliebhabern, der  seine  Hofbuchbinder  John  Gibson  in  Edin- 
burgh, John  und  AbrahamBateman  viel  beschäftigte;  und  gleich 
ihm  förderte  sein  frühgestorbener  Sohn  Henry,  Prince  of  Wales 
[1594—1612]  die  Einbandkunst.  Dieser  junge  Fürst  brachte  den 
zerstreuten  Buchbesitz  der  Könige  aus  dem  Hause  Plantagenet 
wieder  in  die  Royal  Library  zurück.  1609  erwarb  er  die  Bibliothek 
des  John  Lord  Lumley  [1534—1609],  die  bedeutendste  da- 
mals in  England,  neben  der  [im  achtzehnten  Jahrhundert  in  das 
British  Museum  gelangten]  Sammlung  des  Sir  Robert  Bruce 
Gott  on  [1571— 1631],*  vorhandene  Archivbibliothek,  die  nach  seinem 
Tode  in  die  Königliche  Sammlung  aufgenommen  wurde.  Für  sie,  die 
James  l.  auch  mit  der  Büchersammlung  des  Jsaac  Casaubonus 
[1559—1614],  die  er  für  250  Pfund  erwarb,  noch  vermehrt  und  die 
der  Bürgerkrieg  nicht  verschont  hatte,  sorgte  nach  der  Restauration 
zwar  noch  König  Charles  IL  [1660—1680],  dessen  Hofbuchbinder 
Samuel  Mearne  war.  Aber  die  in  Whitehall  aufgestellte  Bücherei 
fand  von  jetzt  an  ihren  besten  Förderer  in  dem  seit  1660  bestehenden, 
1709  erneuerten,  1774  ausgedehnten,  1812  neu  geregelten  und  1842 

*  Abb.  276  389 


ENGLAND 

in  der  gegenwärtigen  Geltung  gesetzten  Kronrecht,  von  jedem  im 
Königreich  entstandenen  Buchdruck  einen  Abzug  der  besten  Aus- 
gabe jeder  Auflage  zu  erhalten;  einem  Rechte,  das  allerdings  1757 
dem  British  Museum  mit  der  alten  Königlichen  Büchersammlung 
überlassen  worden  ist.  — 

Robert  Burton  [1577—1640],  in  seiner  ,Anatomy  of  Melan- 
choly*,  berichtet:  „King  James,  1605,  when  he  came  to  see  our  Uni- 
versity  of  Oxford,  and  amongst  other  edifices  now  went  to  view 
that  famous  library,  renewed  by  Sir  Thomas  Bodley  in  imitation 
of  Alexander  at  his  departure,  brake  out  into  that  noble  speech: 
,If  I  were  not  a  King,  I  would  by  a  University  man:  and  if  it  were 
so  that  I  must  be  a  prisoner,  if  I  might  have  my  wish,  I  would 
desire  to  have  no  other  prison  than  that  library,  and  to  be  chained 
together  with  so  many  good  authors,  et  mortuis  magistris.*"  Burton 
fährt  dann  an  dieser  Stelle  seines  Buches  weiter  fort:  ,So  sweet  is 
the  delight  of  study,  the  more  learning  they  have  [as  he  that  hath 
a  dropsy,  the  more  he  drinks  the  thirstier  he  is]  the  more  they  covet  to 
learn,  and  the  last  day  is  prioris  discipulus;  harsh  at  first  learning 
is,  radices  amarae,  but  fructus  dulces,  according  to  that  of  Isocrates, 
pleasant  at  last;  the  longer  the  live,  the  more  they  are  enamoured 
with  the  Muses.  Heinsius,  the  Keeper  of  the  library  at  Leyden,  in 
Holland,  was  mewed  up  in  it  all  the  yearlong;  and  that  which  to 
thy  thinking  should  have  bred  a  loathing,  caused  in  him  a  greater 
liking.  ,1  no  sooner  [saith  he]  come  into  the  library,  but  I  holt  the 
door  to  me,  excluding  lust,  ambition,  avarice,  and  all  such  vices, 
whose  nurse  is  Idleness,  the  mother  of  Igorance,  and  Melancholy 
herseif,  and  in  the  very  lap  of  eternity,  amongst  so  many  divine 
souls,  I  take  my  seath  with  so  lofty  a  s'pirit  and  sweet  content,  that 
I  pity  all  our  great  ones,  and  rieh  men  that  know  not  this  happiness. 
I  am  not  ignorant  in  the  meantime  [notwithstanding  this  which 
I  have  Said]  how  barbaroushy  and  basely,  for  the  most  part,  our 
rüder  gentry  esteem  of  libraries  and  books,  how  they  neglect  and 
contemn,  so  great  a  treasure,  so  inestimable  a  benefit,  as  Aesop^s 
cock  did  the  jewel  he  found  in  the  dunghill;  and  all  trough  error, 
ignorance,  and  want  of  education.** 

390 


17.  JAHRHUNDERT 

Das  Bücherdenkmal  des  Elizabethanischen  England  erhob  sich 
aus  den  dürftigen  Trümmern  der  alten  Bibliothek  Oxfords:  die  neue. 
Ein  Mann,  dessen  Namen  sie  fortan  tragen  sollte,  Sir  Thomas 
Bodley  [1544—1613],*  erweckte  die  ehrwürdige  Büchersammlung 
zu  neuem  Leben  und  in  einem  Menschenalter  vollendete  er  die  festen 
Grundmauern  seines  ihn  lobenden  Werkes.  Nachdem  Bodley  be- 
schlossen hatte,  wie  er  in  seiner  Autobiographie  sagt,  seinen  Stab 
an  der  Bibliothekstür  von  Oxford  niederzusetzen,  ein  Entschluß, 
den  er  dem  Vice-Chancellor  in  einem,  am  2.  März  in  großer  Ver- 
sammlung verlesenen,  Brief  vom  23.  Februar  1597,  mitteilte,  mußte 
er  über  zwei  Jahre  auf  die  Wiederherstellung  der  alten  Bücherhalle 
verwenden.  Am  25.  Juni  1600  war  der  Raum  für  die  Unterbringung 
einer  neuen  großen  Sammlung  fertig.  Nun  aber  sollte  diese  erst  ge- 
sammelt werden;  und  zwei  dicke  Folianten,  in  die  die  Gaben  und 
Namen  aller  Wohltäter  der  Bodleian  Library  eingetragen  wurden, 
bildeten,  wie  die  Folge  zeigte,  mit  Recht  deren  Eckstein.  Zur  Ver- 
mehrung der  schon  von  ihm  nach  wohlüberlegtem  Plane  —  er  wollte 
keine  alltäglichen  Drucksachen,  wie  Schauspiele  und  Almanache, 
um  nicht  die  vornehme  Bibliothek  durch  solche  ,,Baggage  Books'* 
zu  verunzieren  —  gesammelten  Bücher  sandte  Bodley  den  Londoner 
Buchhändler  John  Bill  nach  dem  Kontinent,  von  dessen  Ankäufen, 
wie  überhaupt  von  vielen  Einzelheiten  der  Bibliotheksvermehrung 
Bodleys  Briefe  an  den  ersten  Bibliothekar  der  Bodleiana,  Dr.  Tho- 
mas James,  berichten,  in  denen  er  häufig  ins  einzelne  gehende  An- 
weisungen zur  Erinnerung  seiner  Gönner  gibt.  Am  8.  November 
1602  konnte  die  Bibliothek,  die  damals  2500  Handschriften  und 
Drucke  enthielt,  dem  gemeinen  wissenschaftlichen  Gebrauch  ge- 
öffnet werden.  Zahlreiche  größere  und  kleinere  Büchergeschenke 
kamen;  der  König,  der  1604  Bodley  zum  Knight  adelte,  bestimmte 
im  gleichen  Jahre,  daß  die  Büchersammlung,  der  er  gleichzeitig 
Körperschaftsrechte  verlieh,  fortan  den  Namen  ihres  Begründers 
zu  tragen  habe.  1610  waren  bereits  Vergrößerungsbauten  nötig  ge- 
worden. Im  selben  Jahre  traf  Bodley  auch  ein  Abkommen  mit  der 
Stationers  Company  in  London,  daß  sie  je  ein  vollständiges  Exem- 
plar aller  von   ihren  Mitgliedern,    den   Verlegern,   veröffentlichten 

*  Abb.  270  391 


ENGLAND 

Werke  der  Bodleiana  überweisen  sollte.  Auch  der  Wunsch  William 
Drummonds  [1585—1649]  —  „to  sucha  worthy  work  all  the  lovers 
of  learning  should  conspire  and  contribute;  and  of  small  beginnings 
who  is  ignorant  what  great  effects  may  foUow?"  —  erfüllt  sich. 

Unter  den  ersten  Förderern  der  Bodleiana  war  jenes  ^^in- 
comparable  pair  of  brethren^\  denen  die  erste  Shakespear- Folio 
gewidmet  ist.  William  Herbert,  Earl  of  Pembroke  schenkte 
ihr  1629  die  aus  242  griechischen  Handschriften  bestehende  Samm- 
lung des  Francesco  Barocci  in  Venedig,  sein  Bruder  Philipp,  der 
vierte  Earl,  gleich  ihm  Kanzler  der  Universität,  stiftete  1649  die 
Pariser  Polyglottenbibel  von  1645.  Die  Gabe  der  Manuskripte 
verdankte  die  Bodleiana  der  Befürwortung  eines  ihrer  größten  Wohl- 
täter, William  Land  [geboren  1573,  seit  1630  Kanzler  der  Uni- 
versität, seit  1633  Erzbischof  von  Canterbury,  hingerichtet  1645], 
der  ihr  von  1633  an  rund  1300  Handschriften  zueignete,  darunter 
die  für  ihn  durch  den  Konsul  von  Aleppo,  Robert  Huntingdon,  er- 
worbenen kostbaren  orientalischen  Manuskripte  und  andere,  die 
aus  Deutschland  gekommen  waren;  aus  dem  Jesuitenkollegium  von 
Würzburg,  aus  den  Klosterbibliotheken  von  Mainz  und  Eberbach. 
Die  Privatbibliothek  des  Erzbischofs,  die  er  in  seinem  Palaste  zu 
Lambeth"^  aufgestellt  hatte,  erhielt  nach  seinem  Tode  Hugh  Peters. 
Auch  Lands  Freund,  SirKenelm  Digby,  folgte  des  öfteren  seinem 
Beispiele.  So  überwies  er  die  ihm  von  seinem  Lehrer  Thomas  Allen 
hinterlassenen  Handschriften  und  Drucke,  aus  eigenem  Besitz  noch 
vermehrt,  1634  der  Bodleiana.  Robert  Burton  hatte  durch  letzt- 
willige Verfügung  bestimmt,  daß  die  Bodleiana  von  seinen  Büchern 
diejenigen,  die  sie  noch  nicht  habe,  nehmen  dürfe.  Und  der  Verfasser 
der  „Anatomy  of  melancholy^^  besaß  viel  von  jenem  „riff-raff^  den  Sir 
Thomas  verschmäht  hatte:  „almanacs  and  play-books^'.  Der  gelehrte 
John  Seiden  [1584—1654]  hatte  in  White  friars  und  im  Temple  in 
London  reiche  Bücherschätze  aufgehäuft,  die  der  Bodleiana  zu  hinter- 
lassen, er  ursprünglich  die  Absicht  hatte;  eine  Absicht,  die  er  später, 
wohl  wegen  des  geringen  Entgegenkommens  der  Oxforder  Gelehrten, 
in  seinem  letzten  Willen  anscheinend  von  der  Erfüllung  besonderer 
Bedingungen  abhängig  machte.    Jedenfalls  kam  ein.  kleinerer  Teil 

392  "  Abb.  268 


17.  JAHEHÜNDEBT 

seiner  Büchersammlung,  insbesondere  orientalische  Handschriften, 
kurze  Zeit  nach  seinem  Tode  in  die  Bibliothek,  ihr  Hauptteil,  rund 
8000  Bände,  aber  erst  1659.  Inzwischen  war  jedoch  schon  vieles 
durch  Ausleihen  in  London  und  durch  ein  Feuer  im  Temple  ver- 
nichtet oder  zerstreut.  Juristische  Werke  erhielt  aus  dieser  Samm- 
lung auch  die  Bibliothek  von  Lincolns  Inn,  medizinische  das  College 
of  Physicians.  Unter  Seldens  Büchern  waren  manche  der  großen 
Folianten,  deren  Herkunft  das  stolze:  SumBen  Jonson  bezeichnete. 
Thomas  Lord  Fairfax  [1611—1671],  der  1646  die  Bodleiana  durch 
eine  besondere  Wache  gegen  seine  Oxford  plündernde  Soldateska 
geschützt  hatte,  hinterließ  ihr  außer  28  Handschriften  von  Werken 
der  frühen  englischen  schönen  Literatur  auch  die  Dodsworth 
Papers,  die  er  von  Roger  Dodsworth  geerbt  hatte.  Er  hatte 
diesem  eifrigen  Sammler  von  Material  zur  Familien-  und  Kirchen- 
geschichte Nordenglands  eine  jährliche  Rente  ausgesetzt,  damit  er 
ungestört  seinen  Studien  leben  könne.  Dodsworth  hatte,  als  die 
Archive  der  nordenglischen  Abteien  eine  Zeitlang  in  St.  Marys 
Tower  zu  York  aufbewahrt  wurden,  diese  Muße  wohl  zu  nutzen  ver- 
standen, und  als  der  Tower  1644  in  die  Luft  gesprengt  wurde,  manches 
wertvolle  Stück  aus  den  Trümmern  gerettet,  so  daß  seine  Sammlung 
am  Ende  seines  Lebens  161  Quart-  und  Foliobände  füllte.  Elias 
Ashmole  [1617—1692]  hatte  zwar  die  Druckwerke  seiner  kostbaren 
Sammlung  1679  durch  einen  Brand  im  Temple  verloren.  Die  Hand- 
schriften, die  in  seinem  Hause  in  South  Lambeth  verwahrt  wurden  — 
sie  schlössen  auch  die  CoUectionen  von  William  Lilly  und  John 
BookersowieteilweisedievonDr.  John  Dee  [1527— 1608]  ein  —  ver- 
machte er  mit  seiner  Münzensammlung  der  Universität  Oxford  für 
ihr  Ashmolean  Museum,  aus  dem  sie  1858  in  die  Bodleiana  über- 
führt worden  sind.  Das  Register  of  Benefactors  der  Bodleiana  Library 
konnte  im  achtzehnten  Jahrhundert  auch  einen  in  der  Geschichte 
der  englischen  Bücherliebhaberei  viel  und  oft  genannten  Namen  ver- 
zeichnen. Dr.  R.  Rawlinson  [1690-1755]*  hinterließ  der  Bibliothek, 
der  er  schon  bei  Lebzeiten  vielfache  Schenkungen  gemacht  hatte,  den 
Hauptteil  seiner  umfangreichen  Sammlungen:  seine  Handschriften 
und  Urkunden  sowie  die  kostbarsten,  rund  2000  Bände,  seiner  Druck- 

*  Abb.  285  393 


ENGLAND 

werke.  Der  berühmte  Altertumsforscher  und  Topograph  Richard 
Gough  [1735 — 1809]  hatte  bei  Lebzeiten  seine  reichen  Sammlungen 
dem  British  Museum  zum  Geschenk  angeboten,  ohne  hier  das  er- 
hoffte Entgegenkommen  zu  finden,  weshalb  er  rund  3700  Bände 
sowie  alle  Griffelkunstblätter  und  Kupferdruckplatten  seines  Be- 
sitzes, seine  topographische  Sammlung,  der  Bodleiana  Library  hinter- 
ließ, damit  diese  damit  „an  Antiquarys  Closet^^  einrichte.  Einen 
besonders  wertvollen  Teil  dieser  Bücherei  bildeten  die  gedruckten 
Bücher  zum  englischen  Kirchendienste,  die  service-books;  ihr  Über- 
rest kam  1810  zur  Versteigerung.  1815  schenkte  Richard  Lord 
Sundertin  der  Bibliothek  die  Malone-CoUection,  die  er  von  seinem 
Bruder,  dem  1812  gestorbenen  Edmund  Malone,  dem  Shake- 
speareherausgeber, geerbt  hatte,  rund  800  Bände  seltener  und  wich- 
tiger Originalausgaben  der  Elizabethan  Poets.  1834  erbte  sie  fast 
die  ganze  Douce-CoUection.  Francis  Douce  [1757 — 1834],  eine 
Zeitlang  Keeper  of  the  Manuscripts  im  British  Museum,  hatte  in 
seiner  reichen  Bibliothek  von  rund  17  000  Bänden  und  rund  400  Hand- 
schriften vieles  besessen,  was  die  Sammlungen  der  Bodleiana  er- 
gänzte und  abrundete.  Sein  kostbares  Geschenk  war  aber  auch  die 
letzte  Liebhaberbücherei  großen  Stiles,  die  ihr  zugefallen  ist,  wenn 
es  ihr  immerhin  im  neunzehnten  Jahrhundert  nicht  an  wertvollen 
kleineren  Zuwendungen  gefehlt  hat.*   — 

Robert  Burton  [in  seiner  ,Anatomy  of  Melancholy']  hat  eine 
Umschreibung  der  Wißbegierde  und  des  Wissenstriebes  seiner  Zeit, 
die  in  den  Büchern  ihre  Helfer  sah,  versucht.  ,To  most  kind  of 
men  it  is  an  extraordinary  delight  to  study.  For  what  a  world  of 
book  offers  itself,  in  all  subjects,  arts,  and  sciences,  to  the  sweet 
content  and  capacity  of  the  reader !  .  .  .  What  vast  tomes  are  extant 
in  law,  physic,  and  divinity,  for  profit,  pleasure,  practice,  specu- 
lation,  in  verse  or  prose,  &c. !  their  names  alone  are  the  subject  of 
whole  volumes;  we  have  thousands  of  authors  of  all  sorts,  many 
great  libraries  füll  well  furnished,  like  so  many  dishes  of  meat,  ser- 
ved  out  for  several  palates;  and  he  is  a  very  block  that  is  affected 
with  none  of  them.'  Im  ,Advancement  of  Learning*  war,  auch  F. 
Bacon,     Lord     Verulam    zeigte    es,    das    Buch    unentbehrlich: 

394  *  Abb.  271-274 


17.  JAHRHUNDERT 

„We  see  then  how  far  the  monuments  of  wit  and  learning  are  more 
durable  than  the  monuments  of  power  or  of  the  hands.    For  have 
not  the  verses    of   Homer,    continued   tventy-five    hundred   years, 
or  more,  without  the  loss  of  a  syllable  or  letter;  during  which  time 
infinite  palaces,  temples,  Castles,  cities,  have  been  decayed  and  demo- 
lished?    It  is    not  possible  to  have  the  true  pictures  or  statues  of 
Cyrus,  Alexander,  Caesar,  no,  nor  of  the  kings  or  great  personages 
of  much  later  years;  for  the  Originals  cannot  last,  and  the  copies 
cannot  but  leese  of  the  life  and  truth.  But  the  images  of  men's  wits 
and  knowledges  remain  in  books,  exempted  from  the  wrong  of  time 
and  capable  of  perpetual  renovation.     Neither  are  they  fitly  to  be 
called  images,  because  they  generate  still,  and  cast  their  seeds  in 
the  minds  of  others,    provoking  and  causing  infinite    actions  and 
opinions  in  succeeding  ages.    So  that  if  the  invention  of  the   ship 
was  thought  so  noble,  which  carrieth  riches  and  commodities  from 
place  to  place,  and  consociateth  the  most  remote  regions  in  parti- 
cipation  of  their  fruits,  how  much  more  are  letters  to  be  magnified, 
which  as  ships  pass  to  participate  of  the  wisdom,  illuminations,  and 
inventions,  the  one  of  the  other?"    Hier  läßt  sich  die  Bibliophilie  in 
ihrer  realistischen  Tendenz  hören,   die  die   Buchwerte  nach  einer 
neuen  Richtung  hin  steigern  sollte.    Die  Anerkennung  des  Buches 
als  Schrifttumsträger,  gewonnen  durch  den  Humanismus,  hatte  das 
eigentliche  Element  der  Entwicklung  einer  modernen  Bibliophilie 
gefunden.  Die  Bedeutung  des  Druckwerkes,  der  öffentlichen  Meinung 
ihre   Verkörperung    zu    verleihen,    bezeichneten    die    ,Areopagitica^ 
JohnMiltons,  dem  die  Freiheit  zu  erkennen,  zu  sprechen  und  nach 
Überzeugung  frei  zu  schließen  mehr  als  alle  anderen  Freiheiten  war; 
der  aus  dem  Kleinkampf  der  Parteien  die  Politik  einer  allgemein- 
menschlichen Angelegenheit   zu   erhöhen  strebte.    ,1  deny  not  but 
that  it  is  of  greatest  concernment  in  the  Church  and  Commonwealth 
to  have  a  vigilant  eye  how  books  demean  themselves,  as  well  as 
men;  and  thereafter  to  confine,   imprison,  and  do  sharpest  justice 
on  them  as  malefactors:    For  books  are  not  absolutely  dead  things, 
but  do  contain  a  potency  of  life  in  them  to  be  as  active  as  that  soul 
was  whose  progeny  they  are ;  nay,  they  do  preserve,  as  in  a  vial,  the 

395 


ENGLAND 

purest  efficacy  and  extraction  of  that  living  intellect  that  bred  them. 
I  know  they  are  as  lively  and  as  vigorously  productive  as  those 
fabulous  dragon's  teeth;  and,  being  sown  up  and  down,  may  chance 
to  spring  up  armed  men.  And  yet,  on  the  other  band,  unless  wariness 
be  used,  as  good  almost  kill  a  man  as  kill  a  good  book.  Who  kills 
a  man  kills  a  reasonable  creature,  God's  image ;  but  he  who  destroys 
a  good  book,  kills  reason  itself ;  kills  the  image  of  God,  as  it  were, 
in  the  eye.  Many  a  man  lives  a  bürden  to  the  earth ;  but  a  good  book 
is  the  precious  life-blood  of  a  master-spirit,  embalmed  and  treasured 
up  on  purpose  to  a  life  beyond  life.  *Tis  true  no  age  can  restore  a 
life,  whereof,  perhaps,  is  no  great  loss;  and  revolutions  of  ages  do 
not  oft  recover  the  loss  of  a  rejected  truth,  for  the  want  of  which 
whole  nations  fare  the  worse.  We  should  be  wary,  therefore,  what 
persecution  we  raise  against  the  living  labours  of  public  men,  how 
we  spill  that  seasoned  life  of  man  preserved  and  stored  up  in 
books;  since  we  see  a  kind  of  homicide  may  be  thus  committed 
sometimes  a  martyrdom,  and  if  it  extend  to  the  whole  impression, 
a  kind  of  massacre,  whereof  the  execution  ends  not  in  the  slaying  of 
an  elemental  life,  but  strikes  as  that  ethereal  and  fifth  essence  — 
the  breath  of  reason  itself;  slays  an  immortaUty,  rather  than  a  life/ 
Nicht  als  archivalische  Materialien  hieß  das  in  den  britischen 
Büchereien  die  Newspapers  und  Pamphlets  werten,  sondern  ebenso 
als  Zeugen  geistiger  Bewegungen  gleich  den  Büchern  nach  ihrem 
strengeren  Wortbegriffe.  Das  aber  hieß  auch  die  bedruckten  Papier- 
massen unbezwingbar,  unübersehbar  werden  lassen;  zu  einer  anderen 
Einschätzung  des  bibliographischen  Kosmos  gelangen,  als  ihn 
die  Humanisten  Italiens  gewinnen  mußten.  Dafür  fand  Sir  T. 
Browne  [in  seiner  , Religio  Medici']  diese  Worte:  *Tis  not  a  me- 
lancholy  Utinam  of  mine  own,  but  the  desires  of  better  heads  that 
there  were  a  general  synod ;  not  to  unite  the  incomportible  diff erences 
of  religion,  but  for  the  benefit  of  learning,  to  reduce  it  as  it  lay  at 
first,  in  a  few  and  solid  authors ;  and  to  condemn  to  the  fire  those 
swarms  and  millions  of  rhapsodies,  begotten  only  to  distract  and 
abuse  the  weaker  judgements  of  scholars,  and  to  maintain  the  trade 
and  mystery  of  typographers.*'  Die  aus  der  Anschauung  des  Bücher- 

396 


17.  JAHRHUNDERT 

Überflusses  entstandene  Mißachtung  der  überflüssigen  Bücher  hatte 
das  Sammelverfahren  Sir  Thomas  Bodleys  ebenfalls  erkennen  lassen; 
man  kann  kaum  sagen,  daß  die  Bodleiana  und  das  Verlangen  einer 
Büchervernichtung  die  beiden  Gegensätze  zeigten,  zwischen  denen 
die  Bibliophilie  Humanismus  und  Realismus  auszusöhnen  hatte. 
Eine  Aussöhnung  durch  die  Auswahl  und  Benutzung  der  Bücher, 
die  späterhin  die  bibliographische  und  bibliothekarische  Technik 
fand,  die  methodisch  und  systematisch  das  ganze  Bücherreich  den 
Menschen,  seinen  Schöpfern,  zurückgewann.  Für  den  sich  beschei- 
denden Buchfreund  gab  es  jedoch  noch  eine  leichtere  Lösung,  die 
ihm  das  Buch  als  Unterhaltungsmittel  und  Werkzeug  wiedergab. 
Nicht  die,  daß  er  es  überhaupt  vernachlässigte,  sondern  die,  daß 
er  in  ihm  seinen  Komfort  fand.  Ein  Komfort,  der  allgemach  aller- 
dings auch  eine  Mode  wurde  —  andeutend  bezeichnete  diese  Ent- 
wicklungsrichtung einmal  Dr.  Johnson:  ,,The  call  for  books  was 
not  in  Milton's  age  what  it  is  in  the  present.  To  read  was  not  then 
a  general  amusement;  neither  traders,  nor  often  gentlemen,  thought 
themselves  disgraced  by  ignorance.  The  women  had  not  then  aspired 
to  literature  nor  was  every  house  supplied  with  a  closet  of  knowledge.** 
Doch  ein  Komfort,  der,  ähnUch  dem  altgriechischen  Ideal  des  Guten 
und  Schönen,  nach  einer  Ausgeglichenheit  der  Persönlichkeit  strebte, 
die  auch  die  Privatbibliothek  zu  erweisen  hatte.  Das  Bedürfnis  des 
Buchgeschmackes,  das  die  Einbandliebhaber  sich  erfüllten,  ver- 
langte Henry  Peacham  vom  Compleat  Gentleman:  „Have  a  care  of 
keeping  your  books  handsome,  and  well  bound,  not  casting  away 
overmuch  in  their  gilding  or  stringing  for  ostentation  sake,  like  the 
prayer-books  of  girls  and  galants,  which  are  carried  to  church  but 
for  their  outsides.  Yet  for  your  own  use  spare  them  not  for  noting 
or  interlining  [if  they  be  printed],  for  it  is  not  likely  you  mean  to 
be  a  gainer  by  them,  when  you  have  done  with  them :  neither  suf f er 
them  trough  negligence  to  mould  and  be  moth-eaten  or  want  their 
strings  and  Covers.  King  Alphonsus,  about  to  lay  the  foundation 
of  a  Castle  at  Naples,  called  for  Vitruvius  bis  book  of  architecture ; 
the  book  was  brought  in  very  bad  case,  all  dusty  and  without  Covers ; 
which  the  king  observing  said,  'He  that  must  cover  us  all,  must  no 

397 


ENGLAND 

go  uncovered  himself;  then  commanded  the  book  to  be  fairly 
bound  and  brought  unto  him.  So  say  I,  suffer  them  not  to  lie  ne- 
glected,  who  must  make  you  regarded;  and  go  in  torn  coats,  who 
must  apparel  your  mind  with  the  Ornaments  of  knowledge,  above 
the  robes  and  riches  of  the  most  magnificent  princes."  Ein  Bedürfnis, 
das  einer  ehrlichen  Überzeugung  vom  Bücherwerte  entsprang,  die 
Anstand  war,  die  auch  das  Verhältnis  des  Compleat  Gentleman 
zu  seiner  Bücherei  zeigte:  ,,Affect  not,  as  some  do,  that  bookish 
ambition,  to  be  stored  with  books  and  have  well-furnished  libraries, 
yet  keep  their  heads  empty  of  knowledge:  to  desire  to  have  many 
books,  and  never  to  use  them,  is  like  a  child  that  will  have  a  candle 
burning  by  him,  all  the  while  he  is  sleeping."  Es  ist  nicht  mehr  die 
Bücherlust  des  Humanisten,  deren  Wiederklang  in  diesen  weit 
weniger  begeisterten  als  nüchtern  wägenden  Worten  zu  finden  ist. 
Ebenso  sind  sie  indessen  auch  frei  von  der  Bücherlast  der  Poly- 
historie,  von  der  die  Befreiung  erst  dem  Spezialistentum  sich  aus- 
bildender Fachwissenschaften  gelingen  sollte.  In  Zeiten,  in  denen  es 
der  Wissenschaft  lediglich  glückte,  den  Stoff  aufzuhäufen,  ohne  ihn 
zu  durchdringen,  geschweige  denn  zu  durchgeistigen,  ist  das  Be- 
streben der  Büchersammlungen  immer  die  Vollständigkeit  des  vor- 
handenen Wissens  gewesen,  da  die  Gelehrsamkeit  in  ihnen  nichts 
anderes  bedeutete  als  die  Bewegung  des  Wissensstoffes  von  einer  zur 
anderen  Stelle,  ohne  ihn  am  Ende  weitergebracht  zu  haben.  Da- 
gegen half  die  Anschauung  des  Bibliothekskomforts,  die  die  eng- 
lischen Bibliophilen  des  siebzehnten  Jahrhunderts,  denen  der  man- 
gelnden Bibliographien  wegen  ein  gefestigter  Eklektizismus  noch  un- 
möglich war,  hegten.  Und  ihr  Bild  läßt  zum  ersten  Male  die  Züge 
moderner  Bibliophilen  erkennen,  obschon  noch  unklar  zwischen  den 
mancherlei  Velleitäten,  in  denen  es  heute  aus  der  Vergangenheit  her 
uns  anschaut. 

Anders  als  in  Frankreich,  wo  seit  den  Anfängen  der  modernen 
Bibliophilie  im  siebzehnten  Jahrhundert  Paris  tonangebend  war  und 
Mittelpunkt  der  bibliographischen  Tradition  blieb,  gestalteten  sich 
die  Verhältnisse  in  England,  wo  die  Hauptstadt  London  erst  all- 
mählich   im    achtzehnten    Jahrhundert    zum    Vorort    des    Bücher- 

S98 


17.  JAHRHUNDERT 

sammelwesens  wurde  und  zwar  durch  die  Ausgestaltung  des  Bücher- 
marktes im  Geschäftshetriebe  der  Versteigerungen.    Daß  die  alten 
Bildungsstätten,  die  das  gelehrte  Erbe  der  Klöster  mit  übernommen 
hatten,  durch  die  enge  Verbindung  mit  ihren  früheren  Schülern  auch 
im  sechzehnten  und  siebzehnten  Jahrhundert  weiterhin  für  deren 
Buchpflege  Anregung  und  Förderung  gaben,  war  dazu  nicht  allein 
durch  ihre  Führung  des  wissenschaftlichen  Verkehrs  zu  verstehen. 
Auch  der  buchgewerbliche  Verkehr  hatte  hier  seine  Hauptstätten. 
Von  dergleichen  Überlieferungen  —  die  auch  auf  die  Familienbiblio- 
theken der  Landsitze  zurückwirkten,  in  denen  sich  bereits  die  Auf- 
fassung einer  Privatbibliothek  als  Komfort  und  Luxus  der  Vorneh- 
men durchzusetzen  begann  —  unabhängiger  waren  die  noch  wenigen 
Schöngeister,  die  in  der  eben  entstehenden  Weltstadt  London  seit 
der   Elizabethanischen   Epoche  ihre   Büchersammlungen  zu   Hilfs- 
mitteln ausgesprochener  literarischer  biteressen  zu  machen  begannen; 
die,  obschon  meist  selbst  in  amtlichen  Stellungen,  über  die  fach- 
wissenschaftlichen Grenzen,  sehr  viel  seltener  über  die  Landesgrenzen 
hinaus,  ihre  Aufmerksamkeit  denjenigen  Schriften  zuwendeten,  die 
die  meisten  Sammler  noch  gleichgültig  ließen,  oder  die  sogar  von 
ihnen   verachtet   wurden.     Denn   diese   Männer  beschränkten   sich 
nicht  darauf,  die  antiken  und  die  theologischen    Klassiker  allein  für 
anerkennenswert  zu  halten,  sie  sahen  sich  ebenso  gern  in  anderen 
Wissenszweigen  um  und  sie  gingen  klaren  Auges  sogar  nicht  am  All- 
tag vorüber.    Als  Antiquitätenforscher  begannen  sie  schon  ein  Ver- 
hältnis !zu  den  alten  Druckwerken  zu  finden,  obschon  dabei  mehr 
noch    die    Teilnahme    für    die    geschichtliche    Vergangenheit    ihres 
Landes  und  Volkes  überhaupt  sie  leitete  und  eine  ausgesprochen 
lokalpatriotische  Tendenz  nicht  zu  verkennen  war,  als  das  bereits 
bestimmtere  bibliographische  Problem  sie  reizten,  die  zu  feineren 
Ausgabenunterscheidungen  führten.    Aber  das  Historische  verband 
sich  doch  schon  enger  mit  dem  Politischen  ihrer  Gegenwart.    Die  von 
den  Foliantenverehrern  verschmähten  Flugschriften  und  Zeitblätter 
hoben  sie  sorgfältig,  ja  systematisch,  auf,  und  selbst  die  Erzeugnisse 
der  schönen  Wissenschaften  ihrer  Tage  fanden  Platz  in  ihren  Band- 
reihen.    Es  waren  freilich  nur  einige  wenige  Buchfreunde,   die  so 

399 


ENGLAND 

handelten  und  deshalb  manchen  Spott  der  Zeitgenossen  hinnahmen. 
Und  auch  die  Nachwelt  kann  ihre  Verdienste  erst  recht  durch  die 
Überlegung  würdigen,  daß  alle  jenen  Miscellanea,  Pamphlets  und 
Tracts,  die  sich  beschämt  in  den  Bücherlisten  dieser  selbstsicheren 
Vorläufer  späterer  Sammlergeschlechter  versteckten,  auch  die- 
jenigen Schätze,  meist  freilich  noch  mehr  gelegentlich  als  geordnet, 
verzeichneten,  die  inzwischen  zu  hohen  Werten  englischer  Lieb- 
haberbüchereien geworden  sind:  die  frühen  Ausgaben  enghscher 
Dichtung  und  Geschichtsschreibung.  Als  dann  die  Auktionen  in 
London  ungefähr  gleichzeitig  mit  der  Begründung  des  British  Mu- 
seum zu  einer  Einrichtung  wurden,  die  den  Altbüchermarkt  Eng- 
lands in  seine  Hauptstadt  zentralisierte,  wurden  ihre  Annalen  zu 
einer  Bibliophilie-Chronologie  des  britischen  Reiches.  Mehr  noch  als 
die  Büchereiräume  der  großen  Sammlungen  sind  von  da  an  ihre  Säle 
die  ruhenden  Pole,  von  denen  aus  sich  am  bequemsten  das  Biblio- 
philiegebiet  Englands  im  Wandel  der  Zeiten  abmessen  läßt. 

Das  Beispiel  eines  englischen  Bibliophilen  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts ist  der  Sekretär  der  Admiralität  Samuel  Pepys  [1632 
— 1703]*  nicht  allein  deshalb,  weil  seine  Büchersammlung  noch  in 
ihrem  ursprünglichen  Zustande  aufbewahrt  wird.  Mehr  noch  ist 
es  der  Geschmack,  der,  ihre  Auswahl  kennzeichnend,  auf  den  Unter- 
schied der  literarischen  Moden  zwischen  damals  und  heute  verweist. 
Denn  der  Diarist,  den  seine  Tagebücher  als  einen  vortrefflichen 
Beobachter  erweisen;  der  Mann,  der  in  seinen  hohen  amtlichen 
Stellungen,  die  er  nicht  allzu  einwandfrei  verwaltete,  vieleh  Weit- 
blick hatte,  war  ganz  und  gar  nicht  in  gelehrten  Vorurteilen  befangen, 
sondern  bezeugte  dem  englischen  Buche,  ja  sogar  denjenigen  Druck- 
werken seiner  Tage,  die  zu  der  ephemeren  Literatur,  zu  den  Erzeug- 
nissen der  „Presse**  —  nach  heutigem  Wort  gebrauch  —  gehörten, 
nicht  geringe  Teilnahme.  Das  Chap-Book  verachtete  er  nicht,  er 
sammelte  es  in  Reihenbänden,  die  etwa  die  Titel  „Penny  Merri- 
ments**  oder  „Penny  GodUnesses"  trugen,  sogar  sorgfältig.  Damit 
hat  er  der  Nachwelt,  die  sein  Bücherschatz  etwas  bunt  anmutet, 
unschätzbare  Dienste  geleistet.  Immerhin,  und  hierin  liegt  das 
Unterscheidende    zwischen    der    alten   Bibliophilie    Englands,    die 

400  *  Abb.  279 


17.  JAHRHUNDERT 

Pepys  vertritt,  und  der  im  achtzehnten  Jahrhundert  aufkommenden 
neuen:  nach  den  jetzt  am  meisten  begehrten  bibliographischen  Kost« 
barkeiten,  den  englischen  Wiegendrucken,  den  Ausgaben  der 
Dramatiker  der  Elizabethanischen  Epoche,  hat  er  nur  gegriffen,  wenn 
es  ein  Zufall  fügte;  gesammelt  aber  hat  er  sie,  die  ihm  zu  den  niedrig- 
sten Preisen  erreichbar  gewesen  wären,  nicht.  Das  war  bei  ihm  und 
seinen  Zeitgenossen  eine  Begrenzung  des  literarischen  Horizontes, 
hinter  dem  noch  diejenigen  Sammelgebiete  lagen,  von  denen  die 
englischen  und  amerikanischen  Liebhaberbüchereien  des  zwanzig- 
sten Jahrhunderts  auszugehen  pflegen.  Bedeutungsvoll  ist  es  jedoch 
für  die  Bibliophilieentwicklung  Großbritanniens.  Ihre  Caxton-  und 
Shakespearetradition  ist  aus  geschichtlichen  Rückerinnerungen  her- 
vorgegangen, nicht  aus  einer  ununterbrochenen  Verbindung  mit  der 
Vorzeit.  Wenn  Pepys  in  seiner  Bücherwahl  sich  nun  auch  die  Freiheit 
eines  gebildeten  Weltmannes  ließ,  in  seiner  Buchpflege  war  er  von 
einer  etwas  seltsamen  Umständlichkeit,  die  selbst  seine  letztwillige 
Verfügung  über  die  3000  von  ihm  hinterlassenen  Bände  nicht  ver- 
ließ. Alphabetische  Kataloge  anzulegen,  in  der  Aufstellung  eine  fest 
geregelte  Ordnung  zu  wahren,  das  war  für  ihn  eine  Beschäftigung, 
der  er  sich  aufs  eifrigste  widmete.  Trotzdem  aber  findet  sich  in  dieser 
seiner  Bibliothekstechnik  ebenso  wie  in  seiner  Achtsamkeit  auf  das 
Druckpapiej  der  Straße  durchaus  Neuartiges.  Das  Bibliotheks- 
Comf ort- Ideal  des  Gentleman  kommt  in  solcher  Aufnahme  der 
Bücher  in  den  Hausrat  ebenso  zum  Ausdruck,  wie  sich  in  dem  Fest- 
halten der  Gegenwartsschriften  die  Trennung  von  der  Gelehrten- 
bücherei vollzieht  und  die  moderne  Privatbibliothek  vorbildet, 
die  die  Formen  einer  Liebhaberbücherei  wahrt,  aber  weder  bloß 
der  Repräsentation  wegen  als  Wohnungsschmuck  erscheint  noch 
eine  Sammlung  systematischer  Art  sein  soll.  Also  eine  Bücherei, 
wie  sie  in  England  sehr  viel  häufiger  als  in  anderen  Ländern  zu  finden 
war  und  ist.  Bibliothekskomfort,  die  bequemste  Gebrauchsnutzung 
des  Buches  war  auch  die  Reisebibliothek,  derentwegen  der  Master 
of  the  Rolls  unter  James  L,  Sir  Julius  Caesar,  dessen  Sammlung 
später  teilweise  in  die  von  Mr.  Carteret-Webb  und  von  diesem  ins 
British  Museum  kam,   nicht   ganz  aus   eigenem   Verdienst  Biblio- 

BOOBNO   16  401 


ENGLAND 

philenruhm  gewann.  Denn  die  in  dem  Museum  verwahrte  viel- 
bewunderte Travelling  Library  mit  ihren  42  Duodezbänden  ist 
lediglich  eine  vor  1619  hergestellte  Nachahmung  einer  anderen,  die 
Sir  Julius  Caesar  1617  von  einem  Unbekannten  als  Neu  Jahrsgeschenk 
empfing  und  die  er  1635  seinerseits  als  Hochzeitsgeschenk  dem 
Attorney  König  James  I.,  John  Madden,  bei  dessen  Vermählung  mit 
Miß  Waterhouse  darbrachte.  Da  1921  auch  diese  ursprüngliche  Reise- 
bibliothek —  sie  zählt  43  Bändchen  —  die  ebenfalls  in  ihrem  ursprüng- 
lichen Zustande  erhalten  war,  im  Altbuchhandel  auftauchte,  wird 
man  daraus  vielleicht  schließen  wollen,  daß  dergleichen  Gerät  und 
mit  ihm  verbundene  Gewohnheiten  noch  zu  den  Ausnahmen  ge- 
hörten; als  Seltenheiten  oder  gar  Seltsamkeiten  geschätzt  wurden. 
Aber  es  handelt  sich,  wenn  man  sie  als  Erscheinungen  einer  neuen 
Art  der  Behaglichkeiten  des  Buches,  der  praktischen,  realistischen 
Tendenz  in  der  Bibliophilie  werten  möchte,  ja  weit  weniger  um  ihre 
Verbreitung  als  überhaupt  um  ihr  Vorhandensein.  Sie  weisen  auf 
die  neue  Stellung  hin,  die  der  Buchfreund  zum  Buch  gefunden  hat, 
dem  er  sich  nicht  nur  im  Tempel  der  Weisheit  ehrfürchtig  nähert  wie 
Machiavelli.  Daß  er  unbekümmerter  gebraucht  und  sogar  verbraucht, 
wenn  er  es  nicht  sammelt  der  Sammlung  wegen.  — 

Der  Buchhändler  William  Cooper  —  sein  Ladenschild  zeigte 
einen  Pelikan  —  veranstaltete  1676  nach  holländischem  Muster  die 
erste  englische  Büchereiversteigerung  in  London,  deren  gedrucktes 
Verzeichnis  in  der  Kings  Gallery  des  British  Museum  ausgestellt 
ist.  Beweis  genug,  daß  man  in  diesem  dünnen  Hefte  ein  in  seiner 
Art  epochemachendes  Werk  einzuschätzen  hat.  „For  the  encoura- 
gement  of  Learning",  heißt  es  in  dessen  Vorrede,  werde  die  Bücher- 
sammlung des  Geistlichen  Dr.  Lazarus  Seaman  in  dieser  neu- 
artigen Form  ausverkauft;  und  das  war  kein  ganz  leeres  Wort.  Auch 
in  einem  Briefe  von  David  Miliin gton  an  den  englischen  Geist- 
lichen Joseph  Hill  in  Holland  vom  Juni  1697,  der  der  geistige  Ur- 
heber dieser  Versteigerung  gewesen  war,  wird  versichert,  man  müsse 
Gott  und  ihm  danken  für  den  „great  service  done  to  learning  and 
learned  men  in  your  first  advising  and  effectually  setting  on  foot 
that  admirable  and  universally   approved  way  of  selling  librarys 

402 


17.  JAHRHUNDERT 

amongst  us".    Der  Altbuchhandel  hatte  hier  den  Anfang  des  Weges 
gefunden,   der  durch  die  unübersichtlich,  ja  undurchdringlich  ge- 
wordenen   Büchermasse   in    das    Freie    eines    geregelten    Geschäfts- 
verkehrs wies;  in  dem  das  alte  Buch  gleich  dem  neuen  marktgängig 
wurde,   so   daß   Angebot  und   Nachfrage  eine  Ordnung  der  Preis- 
gestaltung   ermöglichten,    dem    Altbuchhandel    und    dem    Bücher- 
sammeln  die  zu  erkennenden  Grundlagen  einer  Wirtschaftlichkeit 
schufen.   Und  das  war,  ebenso  wie  die  Beschaffung  der  Bücher  selbst 
und  ihre  bessere  Bestimmung  durch  die  Bibliographie,  für  die  Biblio- 
philie  und  ihre  Buchpflege  wichtig.   Denn  die  Bildung  des  Liebhaber- 
preises gab  ebenfalls  eine  Gewähr  für  die  Scheidung  der  guten  und 
schlechten  Bücher,  die  zu  einem  Verlangen  des  Fortschrittes  in  den 
Wissenschaften  geworden  war;  vermittelte  die  Auswahl  bester  Bücher, 
die  ein  Büchersammler  treffen  sollte  und  nahm  seinem  Tun  den  An- 
schein des  Aufraffens,  des  planlosen  und  zufälligen.    Die  Methodik 
des  Sammeins  und  ihre  Systematik  fand  hier  eine  nicht  geringe  Unter- 
stützung.   Etwas  über  700  Pfund  waren  für  die  5—6000  Bände  der 
Bibliothek  Seaman  gezahlt  worden.    Ein  Bibliothekspreis,  der  der 
Öffentlichkeit  die  für  eine  Büchersammlung  selbst  gezahlte  runde 
Summe  zeigte;  eine  Summe,  die  bis  dahin  nur  aus  den  geschäftlichen 
Verhandlungen  über  den  Verkauf  von  Privatbibliotheken  bekannte- 
ster Besitzer  einer  Bücherei  hervorzugehen  pflegte.    Das  gab  einer 
nüchterneren  Überlegung  Rückhalt  für  das  Sammeln.    Die  Möglich- 
keit, annehmbares  Sammlungsgut  verwerten  zu  können,  mußte  dessen 
Wert  steigern.    Allerdings,  allmählich  erst  konnte  eine  solche  Über- 
zeugung weiter  wirken.    Auch  die  zweite,  ebenfalls  von  Cooper  ge- 
leitete Auktion,    die    der  Bücherei    des  Rektors  Thomas  Kidner 
[1676]  lieferte   vorwiegend   theologische   Werke,    ebenso   die   dritte, 
die   des  Geistlichen  Thomas  Greenhill  [1677],    die   diesmal  von 
Zachariah  Bourne  veranstaltet  wurde.    Auf  der  vierten,  von  Cooper 
besorgten,   des  Geistlichen  Thomas  Manton  [1620 — 1677],  die  im 
Mai  1678  stattfand,  boten  sich  schon  mehr  englische  Schriften.   Und 
die  vierte  im  gleichen  Jahr  und  Monat  veranstaltete,  die  Benjamin 
Worsleys  Büchersammlung  durch  die  Auktionatoren  John  Duns- 
more  und  Richard  Chiswell  zum  Verkauf  stellte,  zeigte  zum  ersten 


26« 


403 


ENGLAND 

Male  ein  größeres  Angebot  älterer  englischer  Bücher,  die  »gute 
Preise*  machten.  Auf  diesci  die  ,neuen*  Preise,  waren  nun  schon  die 
Buchhändler  aufmerksam  geworden  und  in  den  sich  jetzt  mehrenden 
Versteigerungen  ließen  sie  es  nicht  an  Versuchen  fehlen,  die  freilich 
auf  Widerstand  stießen,  unter  bekanntem  Namen  Bestände  ihres 
Lagers  zu  verwerten.  Damit  war  die  Anerkennung  des  Sammler- 
namens in  die  Wertrechnung  eingeführt  worden;  für  den  Buchfreund 
als  eine  Gewähr,  gute  Buchware  zu  erhalten  und  als  Ansporn  des 
Sammler  ehr  geizes,  für  den  Buchhändler  als  aussichtsreiches  Ge- 
schäftsmittel. Und  die  frühe  Schlichtung  der  sich  aus  ersten  Ver- 
suchen, verfälschte  Versteigerungen  zu  verhüten,  ergebenden  Streit- 
fragen —  es  begegnen  bereits  damals  Feststellungen  in  den  Katalog- 
vorworten, daß  es  sich  nur  um  die  auf  den  Titelblättern  genau 
angezeigten  Büchersammlungen  handle  —  hat  nicht  wenig  dazu  bei- 
getragen, dem  englischen  Versteigerungsmarkt  durch  das  strenge 
Bemühen,  seine  geschäftliche  RedUchkeit  zu  sichern,  eine  starke 
und  stetige  Entwicklung  zu  geben.  Als  im  November  1679  durch 
John  Dunsmore  die  Bücherei  des  Sir  Edward  Bysshe,  Clarenceux 
king  at  armes,  versteigert  wurde,  die  bereits  durch  ihre  Auswahl, 
in  der  auch  die  französische,  italienische,  spanische  Literatur  be- 
rücksichtigt war,  sich  als  eine  Liebhaberbücherei  erwies,  bemerkte 
ihr  Verzeichnis  zum  ersten  Male  die  Bücher,  die  „curiously  bound 
and  richly  gilt**  waren. 

Die  bibliophile  Eleganz  unter  den  englischen  Buchfreunden  des 
siebzehnten  Jahrhunderts  vertrat  SirKenelmDigby  [1603—1665],* 
eine  geistig  sehr  regsame,  viel  und  vieles  wissende,  die  Gelegenheiten 
sich  günstig  machende  Persönlichkeit;  bald  Gelehrter,  bald  Mann 
der  Tat,  in  den  Berufen  des  Diplomaten  ebenso  seinen  Platz  be- 
hauptend wie  in  denen  des  Kontroversen-  oder  des  Schiffsführers 
oder  den  sonstigen,  die  er  übte.  Dazu  ein  vielseitiger  Schriftsteller, 
dessen  Tätigkeit  von  den,  1827  veröffentlichten,  „Private  Memoirs^^ 
des  „gentleman  of  the  bed  Chamber  to  King  Charles  the  First^^  bis  zu 
dem  „Closet  of  the  Eminenthy  Learned  Sir  Kenelme  Digbie  kt. 
opened :  Whereby  is  Discovered  Several  ways  f or  making  of  MethegUn, 
Sider,    Cherry-Wine   &c.,    together  with   Excellent    Directions    for 

404  *  Abb.  277 


17.  JAHRHUNDERT 

Cookery,  As  also  for  Preserving,  Conserving,  Candying  &c*  [Pu- 
blished  by  bis  Son's  Consent.  Londen:  1669]^^  reicbte,  bat  er  seit 
seinen  Pariser  Universitätsstudien  teils  in  England ,  teils  in  Franfc- 
reicb  gelebt  und  in  dem  Jahrbundert,  in  dem  die  bibliograpbiscben 
britiscben  Expeditionen  nacb  dem  Festlande  aufkamen,  den  später- 
bin nocb  des  öfteren  auftretenden  britiscben  Bücbersammlern,  die  in 
mebreren  Ländern  aucb  mit  ibren  Liebbaberbücbereien  zu  Hause 
sind,  kein  überall  nacbabmenswertes  Vorbild  gegeben.  Ein  Beriebt 
über  seine  Bibliotbeken  ist  nicbt  ganz  einfacb.  Die  ibm  von  seinem 
Lebrer  Tbomas  Allen  Unterlassene  Bücbersammlung  stiftete, 
vermebrt,  der  Freund  Lands  der  Bodleiana.  Eine  andere  Bücberei 
verebrte  er  der  Library  of  Harvard  College,  Cambridge,  Mass.  Eine 
ältere  Bücberei  sollen  ibm  in  England  wäbrend  des  Bürgerkrieges 
die  Rundköpfe  verbrannt  haben.  In  Paris  arbeiteten  für  ibn  die 
besten  Bucbbinder  und  er  beließ  diese  seine  Bücberei  größtenteils 
in  der  französischen  Hauptstadt,  wo  sie  nacb  seinem  Tode  durcb 
das  droit  d'aubaine  zum  Heimfall  an  die  französische  Krone  kam. 
Später  soll  sie  teilweise  von  dem  Earl  of  Bristol  zurückgekauft  und 
dieser  Teil  der  Digby  Library,  vier  Jahre  nach  des  Lords^  Tode,  im 
April  1680  in  London  versteigert  worden  sein;  eine  freilich  nicht  ganz 
zweifellose  Annahme. 

Die  Auktionssensation  für  die  englischen  Bücbersammler  des 
siebzehnten  Jahrhunderts  wurde  im  Mai  1682  die  Versteigerung 
der  Bibliotheca  Smitbiana  durch  Richard  Cbiswell.  Richard 
Smith  [1590—1675]  hatte  eine  Liebhaberbücherei  in  Little  Mor- 
fields  entstehen  lassen,  die  ebenso  durcb  seine  eigene  Sammeltätigkeit 
wie  auch  dadurch  wertvoll  geworden  war,  daß  sie  eine  ältere  Bücberei, 
die  von  Humphrey  Dyson,  umschloß.  Es  war  jedenfalls  die  nach 
ihrer  Auswahl  beste  bis  dahin  in  England  unter  den  Hammer  ge^ 
kommene  Privatbibliothek.  Oldys  vermerkte  über  Smith,  daß  er 
„for  many  years  together  suffered  nothing  to  escape  bim  that  was 
rare  and  remarkable*'.  Und  Hearne  notierte  in  seinen  „CoUections", 
„that  Mr.  Rieh.  Smitb's  rare  and  curious  coUection  of  books  was 
began  first  by  Mr.  Humphrey  Dyson,  a  publick  notary,  living  in  tbe 
Poultry.    They  came  to  Mr.  Smith  by  marriage."    Mr.  Smith  habe 

405 


ENGLAND 

die   beste   Sammlung   der   Werke   des    Erasmus   zusammengestellt. 
Und  schließlich  versuchte  er  sogar  ein  Bibliophilenporträt  des  alten 
Dyson  zu  entwerfen:     ,,A  person  of  a  very  stränge,  prying,  and  in- 
quisitive  genius  in  the  matter  of  books,  as  may  appear  from  many 
libraries;  there  being  books  chiefly  in  old  English,  almost  in  every 
library,  that  have  belonged  to  him,  with  bis  name  upon  them/'    Den 
Katalog  belobte  Oldys,  er  meinte,  daß  Smiths  „exraordinary  library 
makes  perhaps  the  riebest  catalogue  of  any  private  library  we  have 
to  show  in  print,  making  above  four  hundred  pages  in  a  very  broad- 
leaved   and   close-printed   quarto."     Das   war,   nach  anderen  Maß- 
stäben gemessen,  allerdings  ein  Lob,  das  nicht  zutraf.    Dibdin  be- 
klagte ,daß  die  kostbarsten  Werke  hier  in  Losen  unkenntlich  zu- 
sammengefaßt seien,  daß  man  überall  die  Bezeichnungen  ,,Bundles 
of  stitcht  Books**  vorfinde.    Rasch,  sehr  rasch  waren  die  Auktionen 
in  London  und  in  den  Provinzstädten  zu  Regulatoren  des  Altbücher- 
marktes geworden;  zu  einer  Einrichtung,  die  dem  Getriebe  des  Sam- 
meins, des  Sichtens  und  Suchens,  richtunggebend  wurden.    Bereits 
im  Jahre  1688  wurde  die  Bibliothek  eines  Parlamentsrates  aus  Mont- 
pellier, die  Bibliotheca  Mascoviana,  in  London  versteigert;  ein 
Zeichen,  wie  auch  im  Auslande  die  Bücherversteigerungen  Englands 
geschätzt  wurden.  Auktions-  und  Katalogtechnik  hatten  sich  schnell 
vervollkommnet;  weder  wich  man  den  geschäftlichen  noch  den  recht- 
lichen Streitfragen  aus,  sondern  suchte  ihre  ausgleichende  Lösung. 
Diese  Entwicklung  innerhalb  eines  Viertel] ahrhunderts  erwies 
1698  die  Auktion  der  Bibliothek  des  Dr.  Francis  Bernard  [1627 
—1698],  des  Arztes  am  St.  Bartholomäus  -  Hospital  und  des  Leib- 
arztes James  IL    Einem  Bibliophilen-Stoiker,  nach  Dibdins  Urteil, 
hatte  die  BibliophiUe- Ornamentik,  hatte  das  Großpapier  und  der 
Prachtband  seinen  Augen  nicht  geschmeichelt  und  seinem  Herzen 
nicht  wohlgetan.   Anderes  zeichnete  seinen  Bücherschatz  aus,  dessen 
Umrechnung  in   den   Versteigerungspreis   5000   Pfund   ergab.     Ein 
echter  Kenner  der  Historia  litteraria  war  es  gewesen,  der  Bescheid 
in  seinen  meist  medizinischen  und  philologischen  Büchern  und  nicht 
nur  über  sie  wußte.    Da  war  es  kein  Wunder,  daß  sich  in  dem  Auk- 
tionskataloge bibliographische  Entdeckungen  machen,  Bücher  treffen 

406 


17.  JAHRHUNDERT 

ließen,  von  deren  Vorzügen  man  bisher  nichts  oder  nur  wenig  wußte« 
Zu  Entdeckungsreisen  in  unbekanntes  Buchland  wurden  die  großen 
Büchersammlungen  und  die  großen  Büchereiversteigerungen  des 
folgenden  Jahrhunderts.  Nach  allen  Seiten  drang  man  immer  weiter 
vor;  die  bibliographischen  Eroberungen,  die  man  machte,  trug  man 
auf  den  sich  bald  dicht  bedeckenden  Karten  der  Liebhaberwerte  ein. 
Ein  Buch,  das  seinen  Preis  hatte,  war  viel  weniger  einer  Zerstörung 
ausgesetzt  als  das  unbeachtet,  unbekannt  sich  verlierende.  Und 
seine  Auflage  kam,  soweit  sie  noch  da  war,  aus  den  verstaubten, 
versteckten  Winkeln  in  die  achtsamste  Buchpflege.  So  ist  die  kom- 
merzielle Tendenz,  mag  sie  immerhin  zu  einer  Beeinträchtigung  des 
Bibliophilen- Idealismus  geworden  sein,  doch  auch  ein  Materialis- 
mus, der  notwendig  wurde,  um  die  Erhaltung  der  Kostbarkeiten 
und  Seltenheiten  zu  sichern.  Das  ist  bei  einer  Betrachtungsweise 
des  alten  Buches  als  Handelsgegenstand  nicht  zu  vergessen.  Für 
die  Bewahrung  der  alten  Bücher  zahlte  jetzt  der  Bibliomaniac  die 
hohen  Preise,  die  der  Humanist  für  die  Beschaffung  der  alten  Werke 
nicht  gescheut  hatte. 

Der  Altbüchermarkt  Englands  in  den  Anfängen,  die  die  Auk- 
tionen des  siebzehnten  Jahrhunderts  bildeten,  hatte  im  allgemeinen 
nur  Arbeitsbüchereien  zur  Auflösung  gebracht;  für  eine  Berufs- 
nutzung gebildete  Zwecksammlungen.  Kaum  ein  halb  Dutzend  Nur- 
Liebhaberbüchereien  waren  darunter  gewesen,  d.  h.  Bibliophilen- 
bibliotheken,  die  nicht  das  theologische  oder  juristische  oder  medi- 
zinische Fach  vertraten,  sondern  ihr  Dasein  einer  freibleibenden 
Passion  und  einem  freibleibenden  Studium  verdankten.  Für  den 
Altbüchermarkt  des  achtzehnten  Jahrhunderts  galten  zunächst  die 
gleichen  Verhältnisse.  Es  waren  Durchschnittsbüchereien,  deren 
Erscheinung  durch  ihren  öffentlichen  Verkauf  für  eine  kurze  Weile 
festgehalten  wurde.  Wofern  eine  nach  Ausdehnung  und  Ausstattung 
bemerkenswerte  Bibliophilenbibliothek  unter  den  Hammer  kam, 
blieb  sie  nach  außen  hin  doch  in  fachwissenschaftlicher  Geltung. 
Die  Bücherliebhaberei  mit  ihren  Liebhaberpreisen,  mit  ihrer  im 
Sammelwesen  sich  auszeichnenden  Sonderstellung  trat  deutlicher 
erst  um  die  Jahrhundertmitte  hervor.    Dann  allerdings  wurde  die 

407 


;;£KQLAND 

Entwicklung  des  Umschwungs  zur  Bibliomania  [eine  Bezeichnung, 
die  damals  im  Englischen  schlechthin  der  der  Bibliophilie  im  Fran- 
zösischen entsprach] 9  die  sich  jetzt  vollzog,  rascher  und  rascher. 
Die  Bände,  die  der  Arzt  Askew  auf  der  Büchereiversteigerung  seines 
Berufsgenossen  und  Freundes  Mead  1754—1755  gekauft  hatte,  sind 
1775  auf  seiner  eigenen  zum  doppelten  und  dreifachen  Preise  fort- 
gegeben worden  und  wuchsen  von  nun  an.  Dabei  begann  man  mit 
bibliographischer  Kritik  die  angenommenen  von  den  vorhandenen 
Werten  zu  trennen,  d.  h.  von  denjenigen,  die  aus  den  Beziehungen  sich 
ergaben,  die  in  einem  Buche  die  Verkörperung  eines  Werkes  erkennen 
ließen.  Das  hatte  die  Ausbreitung  des  Buchdrucks  herbeigeführt.  Die 
Humanisten  konnten  den  Verfasser  allein  in  seinem  Werke  suchen,  ihre 
Nachfolger  hatten  ihn  auch  in  denjenigen  Ausgaben  zu  finden,  die 
durch  ihre  Ursprünglichkeit  auf  den  Verfasser  selbst  zurückführten. 
Feiner  noch  als  früher  Apogramm  und  Autogramm  bestimmte  man 
jetzt  das  authentische  Exemplar  aus  seinem  Verhältnis  zum  Autor 
und  darüber  hinaus  aus  der  Buch-  und  Werkgeschichte.  Der  Be- 
griff der  editio  princeps  vervollkommnete  sich  bibliographisch  in 
den  der  original  edition. 

Einer  Bücherversteigerung  größten  Umfanges,  die  die  Auf- 
lösung der  Rawlinson-Sammlung  veranlaßte,  war  man  am  Anfange  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  freilich  nicht  gewachsen.  Und  diese  Auk- 
tion, die  fünfzig  Jahre  später  vielleicht,  die  Bücherfluten  ihren  Ka- 
nälen zuführend,  für  den  Altbuchhandel  und  die  Büchersammlungen 
ein  Ereignis  ersten  Ranges  geworden  sein  würde,  verlief  in  einer  ge- 
waltigen Bücherüberschwemmung;  kennzeichnend  dafür,  daß  Bücher- 
handel und  Büchersammeln  sich  gegenseitig  noch  schwach  stützten. 
Thomas  Rawlinson  [1681—1725],  der  „Leviathanofbook-coUectors 
during  nearly  the  first  thirty  years  of  the  eigteenth  Century**  nach 
Th.  Fr.  Dibdins  Urteil,  repräsentierte  seinen  Landsleuten  die  Biblio- 
mania in  allen  ihren  Verwunderlichkeiten.  Das  Aufhäufen  von 
Büchern  war  sein  Lebensinhalt.  In  England  und  den  Niederlanden 
herumreisend  kaufte  er  Bilder,  seine  andere  Leidenschaft,  und  Bücher. 
Nicht  ohne  Plan,  denn  hauptsächlich  suchte  er  die  antiken  Klassiker 
in  ihren  besten  und  schönsten  Ausgaben  zu  erwerben;  vor  allen 

408 


18.  JAHBHUNDEBT 

Dingen  jedoch  Druckwerke  und  Handschriften,  die  sich  auf  die  eng- 
lische Geschichte  und  Sprache  bezogen,  zusammenzubringen.  Dieser 
unbezähmbaren  Büchersucht  opferte  er  Lebensfreuden  und  Reich- 
tum, ein  Fanatiker  des  bedruckten  Papiers.  Nachdem  seine  Wohnung 
in  Grays  Inn  für  die  ständig  wachsende  Bücherzahl  zu  eng  geworden, 
siedelte  er  nach  London  House,  einem  alten  Palast  der  Londoner 
Bischöfe  in  der  Aldersgate  Street,  über,  wo  bald  doppelte,  dreifache 
Bandreihen  mit  Bücherwänden  alle  Räume  durchzogen.  Trotz  seiner 
sonstigen  Sparsamkeit  und  trotz  seines  großen  Vermögens  brachte 
ihn  sein  Bücheraufwand  gegen  Ende  seines  Lebens  in  Zahlungs- 
schwierigkeiten. 1721  begannen  die  von  Charles  Davis  und  Thomas 
Ballard  geleiteten  Bücherversteigerungen,  die  seinen  Namen  trugen. 
Sie  dauerten  bis  1734.  Aber  sie  ähnelten  in  ihrer  Gesamtheit  mehr 
der  Auflösung  eines  Buchhändlerlagers  als  der  einer  Büchersammlung. 
Rawlinson,  dessen  Gelehrsamkeit  seine  Freunde  zu  schätzen  wußten, 
hätte  vielleicht  nur  das  Andenken  an  den  Privatmann,  der  bis  dahin 
die  meisten  Bücher  in  England  gehabt  hatte,  hinterlassen,  wenn  nicht 
Thomas  Addison  [im  Tatler*,  No.  158]  ihm  die  Bibliomaniac - 
Charakteristik  auf  den  Leib  geschrieben  hätte,  ein  Zerrbild,  jedoch 
ein  Zerrbild,  dessen  Züge  dem  Leben  nachgezeichnet  wurden. 

„Tom  Folio  ist  einer  jener  Büchernarren,  die  sich  damit 
beschäftigen,  gute  Ausgaben  aufzukaufen  und  die  Bibliotheken 
grofier  Männer  zusammenzutragen.  Keine  öffentliche  Bücher- 
versteigerung nimmt  ihren  Anfang,  ehe  Tom  Folio  zur  Tür  herein- 
getreten; keine  Auktion  ist  denkbar,  bei  der  sein  Name  nicht  im 
letzten  kritischen  Moment,  ehe  der  Hammer  des  Auktionators  fällt, 
gehört  würde.  Keine  Subskription  wird  eröffnet,  zu  der  man  Tom 
Folio  nicht  den  ersten  Subskriptionsplan  zuschickt  und  kein  Katalog 
verläßt  die  Presse,  der  nicht  noch  erst  in  seine  Hände  käme.  Er 
besitzt,  soweit  es  die  Titelblätter  aller  Autoren  betrifft,  die  um- 
fassendste Gelehrsamkeit,  kennt  die  von  jedem  großen  Schriftsteller 
vorhandenen  Manuskripte  sowie  alle  Ausgaben,  die  man  davon  ver- 
anstaltet und  jedes  Lob  oder  jeden  Tadel,  den  die  verschiedenen 
Größen  der  gelehrten  Welt  darüber  ausgesprochen.  Aldus  schätzt 
er  höher  als  Vergil  und  Homer;  und  spricht  man  von  Herodot,  so 

409 


ENGLAND 

bricht  er  in  einen  Panegyrikus  über  den  Drucker  Etienne  aus.  Er 
glaubt,  die  erschöpfendste  Schilderung  eines  Schriftstellers  zu  geben, 
wenn  er  euch  sagt,  über  was  er  geschrieben,  euch  den  Namen  des 
Herausgebers  und  das  Jahr  nennt,  in  dem  dieses  oder  jenes  seiner 
Werke  erschien.  Fragt  ihr  ihn  nach  anderen  Einzelheiten,  so  redet 
er  von  der  Güte  des  Papieres,  preist  die  Sorgfalt  des  Korrektors  und 
spricht  mit  Entzücken  von  der  Schönheit  des  Druckes.  Dieses  alles 
betrachtet  er  als  tiefe  Gelehrsamkeit  und  echte  Kritik.  Diejenigen, 
welche  von  Feinheit  des  Stils  und  Klarheit  der  Gedanken  sprechen 
oder  die  Schönheit  irgendeiner  poetischen  Stelle  hervorheben,  wird 
Tom,  auch  wenn  sie  ebenso  geistreich  und  talentvoll  wären  wie  der 
gerühmte  Autor  selbst,  immer  als  Männer  von  oberflächlicher  Bil- 
dung und  unbedeutendem  Wissen  betrachten.^^ 

Der  Tadel  traf  die  Besonderheiten,  die  das  Auftreten  der  Biblio- 
philen in  dem  gesellschaftlichen  Treiben  einer  Grofistadt  haben 
mochte;  sie  unter  den  Gelehrten  und  Kunstfreunden  sich  schon  in 
eigenen  Gruppen  zusammenfinden  ließ.  Er  traf  weit  mehr  noch,  ihren 
Sinn  verkennend,  die  Bemühungen  der  bibliographischen  Studien 
und  den  Zweck  der  bibliothekarischen  Arbeit.  Addison,  der  1719 
starb,  sollte  die  Bedeutung  der  Bibliophilie  für  das  ,encouragement 
of  learning'  nicht  mehr  an  dem  ein  Menschenalter  später  erstehenden 
British  Museum  würdigen  können.  Doch  bleibt  die  Frage  offen,  ob 
er  es  getan  hätte.  Das  aufbauende  fehlte  der  Aufklärung  oder  gar 
den  Freidenkerparteiungen,  die  Politik  und  Religion  nicht  Schieden, 
sondern  verbanden.  Dem  Buch,  ihrem  Kampfmittel,  stand  sie 
letzten  Endes  fremd  gegenüber,  mißtrauisch  gegen  seine  geschicht- 
liche Stellung.  Nicht  von  ihr,  weder  in  England  noch  in  Frankreich 
ist  der  Gedanke  der  Gemeinbildung  getragen  worden,  den  Bücher- 
sammlungen für  den  Einzelnen  oder  die  Gesamtheit  verwirklichten. 
Hier  trennten  sich  schon  wieder  das  ,Buch'  und  die  , Presse*,  diesmal 
endgültiger,  deren  innere  Einheit  für  das  geistige  Leben  der  Mensch- 
heit Milton  verkündet  hatte. 

Daß  die  Auflösung  der  Rawlinsonsammlungen  eine  erheblichere 
Störung  des  Altbüchermarktes  nicht  herbeiführte,  erwies  die 
Bridges-Auktion.    Wenn  damals  trotzdem  Nachlassen  der  Sammel- 

410 


18.  JAHRHUNDERT 

lust  ZU  spüren  gewesen  ist,  dann  hatte  das  noch  andere,  tiefere  Ur- 
sachen. Nicht  ein  plötzlicher  Bücherüberfluß  war  es,  der  die  Buch- 
freunde wählerisch  werden  ließ.  Ihr  Zögern  entsprang  der  sich 
ändernden  Einschätzung  des  Sammlerstückes,  der  kritischer  werden- 
den Unterscheidung  zwischen  alten  und  neuen  Büchern  schlechthin 
und  denen,  die  Liebhabern  am  schätzenswertesten  schienen.  Die 
Liebhaberbücherei  als  solche  begann  sich  durch  ihre  Ausstattung 
und  Auswahl  von  den  Fachbibliotheken,  den  Familienbibliotheken 
und  den  sonstigen  Privatbibliotheken  zu  unterscheiden.  Diese 
Unterscheidung  machte  deutlicher  die  Bridges- Versteigerung  er- 
kennbar. John  Bridges  [1666—1724]  hatte  an  4000  Druckwerke 
und  Handschriften,  hauptsächlich  zur  britischen  Geschichte,  mit 
der  noch  selbstverständlichen  Grundlage  einer  guten  Büchersamm- 
lung, den  erlesenen  Ausgaben  der  besten  griechischen  und  römischen 
Schriftsteller,  um  sich  vereinigt.  Schon  ihr  ungewöhnliches  Ver- 
steigerungsverzeichnis beschäftigte  die  Buchfreunde,  denn  sein 
Titelholzschnitt  trug  unter  dem  Bilde  einer  gefällten  Eiche,  deren 
Zweige  von  den  Holzsammlern  weggeschafft  wurden,  die  griechische 
Unterschrift :  Apü&g  ireerodoY)^  icAg  dbvifjp  ^uXeüeTo».  Ein  noch  größeres  Auf- 
sehen sollte  jedoch  die  im  Februar  1726  von  Mr.  Cock  geleitete, 
in  seinen  Geschäftsräumen  in  Lincoln's  Inn  stattfindende  Ver- 
steigerung selbst  machen,  denn  es  wurde  die  erste  englische  Auktion, 
in  der  Bücherlose  einen  Durchschnittspreis  von  einem  Pfund  er- 
reichten. *  Die  Empörung  unter  den  Sammlern  war  nicht  gering,  sie 
argwöhnten,  daß  die  hohen  Preise  nicht  mit  rechten  Dingen  zustande 
gekommen  seien  und  ließen  es  an  Vermutungen  und  Vorwürfen 
gegen  den  Auktionsleiter  nicht  fehlen,  die  der  sparsame  Bibliothekar 
der  Harleyan  Library,  Humphry  Wanley,  in  seinem  Tagebuche 
zornig  aufzeichnete.  Immerhin,  die  hohen  Preise  waren  bezahlt 
worden.  Die  Buchhändler  hielten  sie  für  richtig,  die  Büchersammler 
sahen  schließlich  in  solcher  Umwertung  die  Wendung  zur  Aner- 
kennung des  , besonderen'  Buches,  des  Sammlerstückes.  Und  auch 
sie  wurden  zufriedener. 

Damals  lebte  eine  Sammlergeneration,  die  für  das  Aufstapeln 
der  Bücher  in  der  Verborgenheit  einer  Bücherstube  keinen  rechten 

411 


ENGLAND 

Sinn  hatte.     Ebenso,   wie   der  Altbüchermarkt  auch   die  Bücher- 
sammler mehr  in  die  Öffentlichkeit  treten  liefi,  ebenso  gestaltete  das 
Sammeln  selbst  sich  zu  einer  den  Gedanken  der  Gemeinnützigkeit 
hegenden  Tätigkeit.    Das  Bibliotheksideal  war,  eine  Bücherei  zu 
schaffen,  die  durch  ihre  Ordnung  umfassend  den  Wissenschaften 
diente;    die    womöglich    den     Gelehrten    eine    erwünschte    Arbeits- 
stätte wurde,  die  man  ihnen  zugänglich  machte;  die  nicht  mit  ihrem 
Schöpfer  verschwand.   Mit  anderen  Worten:  es  formte  sich  eine  neue 
Auffassung  der  öffentlichen  Bibliothek,  die  sich  nicht  mehr  auf  die 
engeren  Kreise  der  Fakultäten  und  Universitäten  einschränkte,  die 
eine  Verbreiterung  des  encouragement  of  learning  erstrebte.  Die  An- 
lage der  hervorragendsten  englischen  Privatbibliothek  dieser  Epoche, 
der  Harleyan  Library,  war  schon  ganz  und  gar  darauf  berechnet,  sie 
zu  einem  Gemeingut  des  Volkes  und  der  Wissenschaften  werden  zu 
lassen.    Und  es  war  kein  Zufall,  dafi  damals  in  der  ersten  Reihe  der 
Bibliophilen  Männer  der  Naturwissenschaften,  der  neuen  Wissen- 
schaften, standen,  die  das  Buch  als  Forschungsmittel  und  Geistes- 
werkzeug zu  werten  wußten.    Man   beklagte  einen  Verlust  für  die 
Wissenschaften,  als  1754  und  1755  die  30000  Bände  der  Bibliothek 
des  Arztes  Dr.  Richard  Mead  [1673—1754]*  durch  eine  Versteige- 
rung, die  von  Samuel  Baker  geleitet  wurde  und  deren  Erlös  bis  auf 
£  5509  stieg,  wieder  zerstreut  wurden.    In  diese  Bibliothek,  in  der 
die  Medizin  und  Philologie  gleich  gut  vertreten  gewesen  waren,  hatte 
man  leicht  Zutritt  gefunden,  sie  war  weithin  bekannt,  benutzt,  ge- 
schätzt gewesen;  ihre  Auktion  die  erste  englische,  die  nicht  allein  in 
der  engen  Gemeinschaft  der  Sammler  berühmt,  die  ein  öffentliches 
Ereignis  wurde.    Ahnliches  galt  für  die  Büchereiversteigerung  des 
Präsidenten    der    Royal    Society   und    der    Society   of   Antiquaries 
Martin    Felkes,    die   1756   durch   den   gleichen   Altbuchhändler 
stattfand.    Als  Gelehrter  nicht  allzusehr  hervorragend,  hatte  er  es 
durch  sein  verbindliches  Wesen  verstanden,  ein  hohes  gesellschaft- 
liches Ansehen  zu  erlangen;  durch  eine  Art  von  Ubiquität  wissen- 
schaftlicher   Art,    die    seinem    vornehmen    Wesen    wohl    anstand. 
James  West  [1704—1772],*  der  später  ebenfalls  den  Präsidenten- 
stuhl der  Royal  Society  einnahm,  hatte  gleich  ihm  in  der  Biblio- 

412  *AU>.a83,  286 


18.  JAHRHUNDERT 

philie  ein  Versöhnungsmittel  zwischen  Weltmannstum  und  Wissen- 
schaftlichkeit gefunden  und  in  seiner  reichhaltigen,  1773  durch  eine 
Versteigerung  aufgelösten,  Sammlung,  die  Beziehungen  glücklich 
findend,  alte  und  neue  Richtungen  klug  zu  vereinen  verstanden;  wie 
es  einem  Manne  nötig  gewesen  war,  dessen  Verdienste  in  der  Organi- 
sation der  Wissenschaften  zu  finden  waren.  So  bildeten  die  Folkes 
und  West  aus  der  Fakultätsbibliothek  strengen  Stils,  in  der  Form 
der  Liebhaberbücherei,  eine  die  freiere  Wertung  der  Wissenschaften 
nach  ihren  Nutzzwecken  und  ihren  Zusammenhängen  erstrebende 
Betrachtungsweise  der  Büchersammlung  heraus,  die  einen  Aus- 
gleich zwischen  Bildung  und  Gelehrsamkeit  finden  liefi.  Der  zu  ge- 
winnen war,  da  der  Gelehrte  jetzt  für  seine  Gelehrsamkeit  sich  auf 
seine  Sondergebiete  zurückzog,  sonst  aber  von  den  Gebildeten  sich 
nicht  weiter  schied;  wohl  aber  in  den  von  seiner  Fachwissenschaft 
her  sich  verzweigenden  Übergangs-  und  Grenzwissenschaften  sich 
den  weiten  Bereich  der  anderen  Fachwissenschaften  zugänglich 
machen  mufite.  Die  antiken  Klassiker,  die  unter  den  7000  Bänden 
des  Arztes  und  Philologen  Dr.  Anthony  Askew  [1722—1774],  die 
1775  unter  den  Hammer  kamen,  durch  ihre  Liebhaberausgaben  und 
ihre  Liebhaberausstattung  noch  das  Humanistenideal  vertraten, 
verschwanden  zwar  nicht  aus  den  Büchereien.  Aber  die  ausschließ- 
lichen Bildungsrepräsentanten  blieben  sie  nicht  weiter.  Der  stolze 
Bau  der  British  Museum  Library  erhob  sich,  aus  einer  modernen 
PrivatbibUothek,  die  der  Präsident  des  Royal  College  of  Physicians, 
Sir  Hans  Sloane,  als  kostbare  Stiftung  seinem  Volke  hinterUefi.  Kost- 
bar durch  ihren  Inhalt,  noch  kostbarer  durch  die  Absichten  seiner 
Stiftung,  deren  Erfüllung  sie  verlangte. 

Die  englische  National-  und  Zentral-Bibliothek,  das  British 
Museum  in  London,  darf  das  Denkmal  der  Bücherliebhaberei  Eng- 
lands genannt  werden.  Als  es  am  15.  Januar  1759  eröffnet  und  dem 
Gemeinwohl  nutzbar  gemacht  wurde,  bildeten  drei  große  Privat- 
sammlungen den  Grundstock  seiner  Archiv-Bibliothek:  die  Cotton- 
und  Harleyan-Manuskripte,  von  unvergleichlichem  historischem  Wert 
die  Sloane  CoUections,  in  denen  die  beginnende  naturwissenschaft- 
lich neue  Zeit  sich  ankündigte.    Anders  als  in  den  alten  Kathedral- 

413 


ENGLAND 

und  Universitätsbibliotheken,  ehrwürdig  durch  die  Überlieferungen 
der  Vergangenheit,  die  sie,  die  Geistes-  und  Gotteswissenschaften 
hütend,  weitergaben,  ist  das  British  Museum  entstanden.  Der  Leit- 
gedanke seines  Planes,  das  Beste  aus  Kunst  und  Wissenschaften  in 
einer  großen  öffentlichen  Sammlung  zusammenzufassen,  ließ  sich 
allmählich  erst,  bei  der  Anordnung  der  bereits  vorhandenen  Bestände, 
in  festere  Urmisse  zwingen.  Die  Verfahren  der  Verwaltungsarbeit, 
die  hier  zu  leisten  war,  mußten  ausgebildet,  die  einem  neuartigen 
Unternehmen  sich  entgegenstellenden  sonstigen  Widerstände  wirt- 
schaftlicher und  wissenschaftlicher  Art  mußten  beseitigt  werden. 
Die  Anfänge,  die  Versuche  verzögerten  sich,  weil  die  Muster  für  den 
neuartigen  Rahmen  der  jetzt  zu  leistenden  Sammelarbeit  fehlten. 
Die  Aufgabe  begriff  man  im  common  sense  leichter  als  ihre  in  der 
Ausbildung  einer  modernen  Bibliotheks-  und  Museumstechnik 
liegende  Lösungen.  Mit  den  alten  Mitteln  ließ  sich  das  Organi- 
sationsproblem nicht  fördern,  seine  hauptsächliche  Schwierigkeit 
war  es,  diese  Mittel  durch  neue  zu  ersetzen  oder  wenigstens  weiterzu- 
bilden; nicht  lediglich  in  der  Beherrschung  der  Betriebseinrichtungen, 
mehr  noch  in  der  der  neuen  Geistesrichtungen,  die  die  herrschen- 
den wurden. 

Sir  Hans  Sloane  [1660-1753],  1727  Nachfolger  Isaak  New- 
tons als  Präsident  der  Royal  Society,  der  Leibarzt  Georges  L,  hatte 
in  seinem  langen  Leben,  unterstützt  von  seinen  vielen  gesellschaft- 
lichen und  wissenschaftlichen  Beziehungen,  gefördert  durch  sein 
großes  Vermögen  —  er  konnte  für  seine  Sammlungen  80000  Pfund 
ausgeben  —  ein  großes  naturwissenschaftliches  Museum  [das  er  ins- 
besondere in  Westindien,  wo  er  von  1687—1690  als  Leibarzt  des 
Herzogs  von  Albemarle  lebte,  sowie  mit  den  Sammlungen  seines 
Freundes,  des  Handelsherrn  William  Courten  [1642—1702]  be- 
reicherte] und  eine  prachtvolle  Bibliothek  naturwissenschaftlicher 
Werke  in  seinem  Landsitze  in  der  Gemeinde  Chelsea  gegründet. 
Museum  und  Bibliothek  [neben  der  naturwissenschaftlichen  Samm- 
lung 32000  Münzen  und  Medaillen,  2000  geschnittene  Steine,  zahl- 
reiche Antiquitäten,  3516  Handschriften,  40000  Druckwerke]  wur- 
den nebst  seinem  Landsitze,  gemäß  seinem  Testamente  vom  10.  Juli 

414 


18.  JAHRHUNDERT 

1749,  dem  englischen  Volke  für  20000  Pfund  zum  Kauf  angeboten, 
und  diese  Stiftung  des  „Sir  Hans"  gab  damit  den  Anlaß  zur  Grün- 
dung des  British  Museum. 

Im  Jahre  1753  beriet  das  Parlament  die  ,, Vorlage  für  den  An- 
kauf des  Museums  oder  der  Sammlung  des  Sir  Hans  Sloane  und  der 
Harleyan  Collection  von  Manuskripten  und  für  die  Beschaffung  eines 
einheitlichen  General-Repositoriums  für  die  bessere  Aufbewahrung 
und  die  bequemere  Benutzung  der  erwähnten  Sammlungen  und  der 
Cotton  Library  und  der  Erweiterungen  dazu.**  Um  die  zum  Ankauf 
der  Sloane-Sammlung  und  zur  Einrichtung  des  ,, General-Reposi- 
toriums*' nötigen  Geldmittel  aufzubringen,  entschloß  man  sich  zu 
einer  Staatslotterie.  Diese  von  dem  berüchtigten  Makler  Leheup 
geschäftlich  geleitete  Lotterie  führte  zu  wilden  Spekulationen  und 
brachte  vielen  schwere  wirtschaftliche  Schädigung.  Jedenfalls  aber 
brachte  die  Lotterie  auch  die  notwendigen  Mittel.  Man  konnte  1754 
das  1686  erbaute  Montague-House  vom  Earl  of  Halifax  erwerben  und 
entsprechend  ausbauen,  1759  das  fertiggestellte  und  eingerichtete 
Museum  eröffnen;  nachdem  man  in  ihm  die  Harley-Manuskripte 
schon  1755,  die  von  König  Georg  IH.  1757  geschenkte  Royal  Li- 
brary, die  Sloane-Collection  und  Cotton-Manuskripte,  sowie  die 
mit  diesen  bereits  1738  vereinigte  Bibliothek  des  Majors  Arthur 
Edwards,  1758  aufgestellt  hatte. 

Daß  nicht  die  ganze  Harleyan  Library,  der  unmittelbaren  Vor- 
läuferin der  British  Museum  Library,  deren  Auf-  und  Ausbau  festigte, 
zeigt,  wie  neu  und  noch  oft  unverstanden  der  Gedanke  des  großen 
nationalen  Werkes  in  den  frühen  Jahrzehnten  seines  Keimens  und 
Sprossens  gewesen  ist.  Besaß  doch  diese  Privatbibliothek,  die  Aus- 
lese von  hundert  anderen,  die  besten  Bücher  aller  Länder,  Sprachen 
und  Wissenschaften.  Als  Robert  Harley  [1],  Earl  of  Oxford 
[1661—1724],*  der  als  Politiker  ebenso  des  Glückes  Gunst  wie  Un- 
gunst erfahren  hatte,  gestorben  war,  bezeugte  Pope  diesem  Edel- 
mann, daß  er  ,,left  behind  him  one  of  the  finest  libraries  in  Europe*'- 
Ein  nicht  übertreibendes  Urteil.  Denn  der  Ehrgeiz  literarischer  Re. 
Präsentation  hatte  die  Bibliotheca  Harleyana  zu  einer  Büchersamm- 
lung gemacht,  die  in  ihrer  Heimat  die  bis  dahin  hervorragendste 

^  Abb.  282  4j[5 


ENGLAND 

Privatbibliothek  war.  Ihre  Anfänge  —  sie  befand  sich,  bevor  Robert 
Harley  Peer  wurde  [1711],  in  seinem  in  Cambridgeshire  gelegenen 
Landsitz  Wimple  —  verbanden  sie  mit  den  ehrwürdigen  Über- 
lieferungen der  Universität  Cambridge,  wo  ihr  Begründer  sich  gern 
Hilfe  und  Rat  holte.  Ihre  Auflösung  bedeutete  den  Beginn  der  mo- 
dernen Epoche  britischer  Bücherliebhaberei  und  eine  erhebliche 
Förderung  für  den  Ausbau  des  British  Museum,  ihr  kurzes  Vorhanden- 
sein das  Beispiel  einer  Art  des  Büchersammelns,  die  seitdem  in  Eng- 
land die  vornehmste  war.  Zwar  hatte  Earl  Edward  [1689—1741], 
an  Eifer  und  Freigebigkeit  seinem  Vater  gleichend,  den  ererbten 
Schatz  noch  erheblich  zu  vermehren  verstanden.  Aber  der  Aufwand 
der  Lords  hatte  das  Familienvermögen  gemindert  und  Margarete, 
Duchess  of  Portland,  an  die  der  Besitz  der  beiden  Bibliophilen  kam, 
konnte  die  kostbare  Sammlung  nicht  weiterführen.  Die  Hand- 
schriften [7639  Buchhandschriften  und  14236  Urkunden]  bot  sie  um 
den  zehnten  Teil  des  Wertes  dem  Staate  an.  Ein  Parlamentsbeschluß 
von  1753  billigte  den  Ankauf  für  10000  Pfund  [oder  nur  4000  Pfund 
mehr  als  der  Earl  of  Oxford  allein  für  eine  einzige  der  von  ihm  er- 
worbenen Manuskriptkollektionen,  die  Sir  Symonds  d'Ewes'sche 
bezahlt  hatte]  und  führte  damit  wenigstens  diesen  Teil  der  Biblio- 
theca  Harleyana  dem  British  Museum  zu.  Die  Druckwerke  [etwa 
50000  Bände,  41000  Einzelblätter,  350000—400000  Kleinschriften] 
gelangten  schon  vorher  in  den  Handel.  Der  Buchhändler  Thomas 
Osborne,  Grays  Inn,  hatte  sie  für  13000  Pfund  erworben  und  zum 
Verkauf  gestellt,  der  das  bemerkenswerteste  bibliographische  Er- 
eignis Londons  seit  dem  Angebot  von  Mr.  Bridges  Büchern  wurde. 
Freilich  hatte  auch  hier  der  Kaufpreis  nicht  einmal  diejenigen 
Bucheinbandkosten  erreicht,  die  lediglich  die  letzten  Sammlungsteile 
verursacht  hatten.  [18000  Pfund.]  Denn  auch  darin  waren  Robert 
und  Edward  Harley  beispielgebend  für  die  Bibliophileneleganz  in 
England  gewesen,  daß  sie  ihrem  Bibliothekbande  —  allerdings  bis- 
weilen damit  alte  Einbände,  die  einer  Erhaltung  Wert  gewesen  sein 
würden,  zerstörend  —  eine  vielbeachtete  Aufmerksamkeit  widmeten, 
an  die  die  Bezeichnung  des  seit  etwa  1720  zur  Bibliophilenmode 
werdenden  „Harleian  style^*  erinnert.    Sie  ließen  ihre  Bücher  von 

416 


18.  JAHRHUNDERT 

den  tüchtigen  Meistern  Eliot  und  Chapman  hauptsächlich  in  rotes, 
übrigens  fast  immer  schlechtes,  Ziegenleder  binden  und  mit  einer 
eigenartigen  Handvergoldung  schmücken.  [Die  Deckenumrahmung 
dieser  Bände  besteht  aus  einer  dreifachen  Linienumrandung  nach 
französischer  Weise,  an  die  sich  eine  breitere  Randleiste  schließt, 
die  aus  zwei  oder  drei  verschiedenartig  benutzten  Stempeln,  denen 
des  öfteren  das  Besitzerzeichen  des  Tannenzapfens  eingegliedert  ist, 
gebildet  wurde.  Als  Mittelstück  diente  ein  rautenförmig  angeord* 
netes  Muster.]  Das  Bibliotheksideal,  daß  die  Harleys  noch  hatten, 
Qualität  und  Quantität  zu  vereinen,  hatte  sich  für  ihr  ausgedehntes 
Sammlungsgebiet,  das  den  Plan  einer  Universalbibliothek,  wie  ihn 
das  siebzehnte  Jahrhundert  verstand,  befolgte,  bis  zur  endgültigen 
Vollständigkeit  nicht  mehr  verwirklichen  lassen.  Aber  daß  ihr  Sam- 
meln neben  dem  äußeren  Glanz  der  Bibliothek,  den  ihr  auch  die 
Griffelkunstblätter  und  Kupferstichwerke  verliehen,  bibliographisch- 
bibliothekarisch zu  reden,  eine  Aufnahme  des  Bestandes  der  eng- 
lichen Literatur  bis  zum  Ende  des  siebzehnten  Jahrhunderts  er- 
strebte, aus  der,  buchhändlerisch  zu  sprechen,  die  führenden  eng- 
lischen Liebhaberwerte  hervorgingen,  auch  unscheinbarere  biblio- 
graphisch-literarhistorische und  typographische  Werte  aufzufinden 
verstand;  das  machte  es  vorbildlich  für  die  Bibliophilie  Englands. 
Agenten,  die  einen  eben  entstehenden  Altbuchhandel  mit  festen 
Geschäftsgewohnheiten  ergänzten,  gaben  auch  bereits  dem  Einzel- 
stück Bedeutung,  obschon  die  billigen  Druckwerkpreise  einer  Exem- 
plarschätzung noch  lange  entgegenwirkten.  [Schied  doch  sogar  das 
British  Museum  noch  um  1800  Dubletten  aus,  die  es  jetzt  unter 
seinen  Cimelien  verwahren  würde.]  Wenn  Robert  und  Edward 
Harley  für  ihre  Privatbibliothek  bisher  in  England  unerhörte  Un- 
kosten hatten,  obschon  ihr  Bibliothekar  H.  Wanley  in  dem  Rufe 
stand,  nichts  ohne  Feilschen  zu  erwerben,  so  werden  diese  den  Hand- 
schriftenkäufen und  bei  den  Druckwerken  hauptsächlich  den  Buch- 
einbänden zuzuschreiben  sein.  Andererseits  war  auch  die  Auslese 
nicht  so  sorgfältig,  wie  bereits  ein  Jahrhundert  später,  was  ein  Ver- 
gleich der  Bibliotheca  Harleiana  mit  der  Bibliotheca  Heberiana 
zeigt. 

BOOENO    27  417 


ENGLAND 

Die  abweichende  Einschätzung  literarischer  und  typographischer 
Werte,  die  bei  ähnlichen  Vergleichungen  einzelner  Entwicklungs- 
stufen der  Bibliophiliegeschichte  niemals  übersehen  werden  sollte» 
hat  das  Andenken  an  John  Bagford  [1650-— 1716],*  der  fünfund- 
sechzigjährig  1716  in  London  starb,  als  das  eines  verabscheuungs- 
würdigen  Biblioklasten  erhalten.  Indessen  war  er,  der  ehemalige 
Schuhmacher,  den  Begabung  und  Neigung  auf  den  Beruf  eines 
Bücherjägers  verwiesen  hatten,  obschon  ohne  eigentliche  gelehrte  Bil- 
dung, keineswegs  der  Bücherschädling  gewesen;  der  gierigste  und 
räuberischste  aller  Sammler,  zu  den  ihn  die  von  Dibdin  verbreitete 
Legende  gemacht  hat.  Er  hat,  auch  auf  Einkaufsreisen  in  Deutsch- 
land und  Holland,  dem  Bischof  John  More  und  dem  Earl  of  Oxford, 
der  seinen  ganzen  mit  den  Harleyan-Manuscripts  an  das  British 
Museum  übergegangenen  Nachlafi,  darunter  auch  die  sogenannten 
Bagford  Ballads  erwarb,  die  brauchbarsten  Dienste  geleistet.  Aller- 
dings mag  er,  um  seine  Blattsammlung  zur  Buchdruckgeschichte  zu 
vervollständigen,  eine  Menge  alter  Bücher  zerstört  haben.  Jedoch 
sein  Vorhaben,  eine  allgemeine  Buchgeschichte  auf  ihre  buchgewerb- 
lichen Unterlagen  zurückzuführen,  ist,  zumal  für  die  damalige  Be- 
trachtungsweise des  Buches,  von  einer  Originalität  gewesen,  die  eher 
Anerkennung  als  Verachtung  verdienen  würde.  Die  Bucheinband- 
teile übersah  er  ebensowenig  wie  die  Kennzeichen  alter  Papiere.  Ob 
er  dann  selbst  der  Mann  gewesen  wäre,  nach  seinen  Entwürfen  ein 
geschichtliches  Werk  zu  schreiben,  ist  eine  andere  Frage,  der  eine 
Antwort  zu  geben  um  so  müßiger  scheint,  als  die  Wissenschaft  vom 
Buche  erst  in  den  letztverflossenen  Jahrzehnten  die  mannigfachen 
buchgeschichtlichen  Sonderuntersuchungen  unter  denjenigen  Ge- 
sichtspunkten zu  vereinen  sich  bemühte,  die  im  wesentlichen  auch 
die  John  Bagf ords  gewesen  sind.  Daß  sein  Beispiel  in  den  englischen 
und  amerikanischen  Grangerizermethoden  unnützlich  weiterwirkte, 
ist  nicht  eine  Beschuldigung,  die  ihn  anklagt  und  nicht  eine  Ent- 
schuldigung für  die,  die  etwa  seine  Nachahmer  wurden,  ohne  den 
Sinn  seiner  Blättersammlung  zu  verstehen.  In  Bagfords  Tagen 
machte  man  zwischen  den  älteren  und  den  ältesten  Druckwerken 
noch  keine  besonders  strengen  bibliographischen  Unterschiede.    Die 

4 j^g  *  Abb.  27S 


18.  JAHRHUNDERT 

Beschäftigung  mit  dem  englischen  Buchwesen  und  Schrifttum  der 
Vorzeit  schränkte  sich  auf  einen  kleinen  Kreis  von  Liebhabern  ein; 
die  meisten  Sammler  suchten  anderes  für  ihre  Bibliotheken,  ins- 
besondere die  editiones  optimae  der  antiken  Klassiker.  So  wurden 
die,  die  Bagfords  Schüler  waren  oder  doch  seinen  Spuren  folgten, 
Sir  John  Fenn,  Thomas  Martin  of  Palgrave  und  andere, 
weit  eher  zu  Bücherrettern,  die  durchaus  nicht  die  alten  Bände,  die 
sie  bargen,  zerschnitten. 

Der  Altbuchhändler,  der  die  beste  in  seinem  Lande  vorhandene 
Liebhaberbücherei  ankaufte,  um  sie  geschäftlich  zu  verwerten,  hat  in 
mancher  Hinsicht  dem  Antiquariat  Englands  die  Entwicklungsrich- 
tung zu  seinen  Formen,  die  noch  in  der  Gegenwart  gelten,  bestimmt. 
Von  etwa  1727  bis  1767  beherrschte  Thomas  Osborne  —  er  starb 
am  27.  August  1767  und  hinterließ  das  ansehnliche  Vermögen  von 
40000  Pfund  -—  den  Altbüchermarkt  Englands,  indem  er  sein  Lager 
ständig  auch  mit  den  hervorragenden  Privatbibliotheken,  die  auf- 
gelöst wurden,  bereicherte.  Indem  er  sich  so  mühte,  den  Bücher- 
kreislauf in  die  Antiquariatskanäle  zu  leiten  und  dabei  erfolgreich 
genug  war,  wie  seine  Kataloge  zeigen,  konnte  er  allmählich  dazu  bei- 
tragen, daß  die  Bildung  fester  Liebhaberwerte  sich  auch  auf  dem 
englischen  Büchermarkt  vollzog;  daß  die  Preise  in  ihrem  Verhält- 
nisse zu  den  bibliographischen  Werten  sich  fester  regelten;  daß  An- 
gebot und  Nachfrage  und  nicht  allein  der  Zufall  dem  Büchersammel- 
wesen  nutzbar  wurde.  Daß  der  dicke  kleine  Herr  nicht  als  Gelehrter, 
sondern  als  Geschäftsmann  darauf  bedacht  war,  den  Altbuchhandel 
zu  vervollkommnen,  kann  kein  Vorwurf  sein.  Er  machte  zwar  eine 
laute  Reklame,  aber  das  war  sein  gutes  Recht.  In  den  von  ihm  ver- 
öffentlichten Zeitungsanzeigen  finden  sich  bereits  die  auch  heute  noch 
nicht  ungewöhnlichen  Übertreibungen,  mit  denen  er  für  seine  Buch- 
ware warb.  Und  es  fehlte  in  ihnen  ebensowenig  die  bekannte  Wen- 
dung, Käufer,  die  seine  Kataloge  nicht  erhielten,  sollten  sie  schleu- 
nigst bestellen,  wie  die  Mahnung  an  die  Nichtkäufer,  die  Kataloge 
weiter-  oder  zurückzugeben.  Vielleicht  bezeugt  die  Vorteile,  die 
die  Art  des  Geschäftsbetriebes  Osbornes  für  die  Ausbildung  gleich- 
mäßiger Verkehrsformen  im  Antiquariat  brachte,  auch  ein  eigenes 

27«  419 


ENGLAND 

Erlebnis,  das  er  mit  Mr.  David  Papillon,  einem  kenntnisreichen 
und  wohlhabenden,  1762  gestorbenen,  Sammler  hatte.  Dieser  hatte 
ein  Abkommen  mit  dem  Buchhändler  getroffen,  er  solle  ihm  für 
100  Pfund  Bücher  zum  Preise  von  drei  Pence  das  Stück  liefern,  unter 
der  Bedingung,  daß  alle  Bücher  gut  erhalten,  vollständig  und  nicht 
doppelt  vorhanden  seien.  Allmählich  konnte  Osborne  die  Massen 
billiger  Bücher  nicht  mehr  aufbringen,  er  mufite  diese  durch  solche 
ersetzen,  die  ihm  mehrere  Schillinge  kosteten  und  schließlich  um 
die  Aufhebung  des  Vertrages  bitten,  der  ihm  die  Lieferung  von  8000 
Dreipence-Werken  auferlegt  hatte.  Die  Anekdote  beweist  nicht  nur, 
daß  dem  Antiquar  die  Berechnung  des  genauen  Geschäftsganges 
notwendig  wird,  sobald  die  Entwicklung  von  Liebhaberwerten  stän- 
dig zunimmt,  wenn  er  sich  behaupten  will.  Sie  zeigt  auch  aufschluß- 
reich den  Buchdurchschnittspreis  —  er  schwankte  zwischen  drei 
bis  fünf  Schillingen  — ,  den  die  Bibliophilen  Englands  in  der  Epoche 
der  Harleyan  Library  zu  zahlen  pflegten. 

Der  Absicht  Osbornes  nach  sollte  die  Ausgabe  des  Harleyan- 
Kataloges  Antiquariat  und  Bibliophilie  in  England  durch  ein  biblio- 
graphisches Wahrzeichen  zusammenführen.  Und  wenn  die  Aus- 
führung seines  großzügigen  Planes  scheiterte,  trug  er  daran  die  ge- 
ringste Schuld.  Zur  Bearbeitung  des  Verzeichnisses  waren  Johnson, 
Maittaire,  Oldys  als  Autoritäten  gewonnen  worden,  sie  sollte  derart 
wissenschaftlich  erfolgen,  „that  the  books  shall  be  distributed  into 
distinct  classes,  and  every  class  arranged  with  some  regard  to  the  age 
of  the  writers ;  that  every  book  shall  be  accurately  described ;  that  the 
pecularities  of  the  editions  shall  be  remarked,  and  observations  from 
the  authors  of  literary  history  occasionally  interspersed,  that  by 
this  Catalogue  posterity  may  be  informed  of  the  excellence  and 
value  of  this  great  collection,  and  thus  promote  the  knowledge  of 
scarce  books  and  elegant  editions. ^^  Der  Katalog  hätte  also,  wenn 
Osbornes  eben  angeführte  Worte  richtig  verstanden  wurden,  eine 
Art  englisches  Bibliophiliesystem  und  der  Buchhändler,  der  ihn 
herausgab,  ein  arbiter  elegantiarum  auf  bibliographischem  Gebiet 
werden  können.  Aber  Maittaire,  der  auch  die  lateinische  Widmung 
an  den  Staatssekretär  Lord  Carteret  geschrieben  hatte  —  bemerkens- 

420 


18.  JAHRHUNDERT 

wert  ist  der  Bibliothcae  Harleianae  Catalogus  nämlich  auch  noch 
dadurch,  daß  er  ein  Übergang  der  lateinischen  Verzeichnisse  in  die 
englischen  wurde  —  hatte  die  allgemeine  Einteilung  nachlässig  und 
unsicher  vorgenommen.  Und  auch  R.  Johnson,  der  die  später  dem 
ersten  Bande  vorangestellten  , Proposais'  für  die  Drucklegung  ver- 
faßte, lieferte,  nach  Dibdins  gegen  Boswell  gerichtetem  Urteil,  ge- 
rade kein  Meisterstück.  Dazu  kam,  daß  der  Band  fünf  Schillinge 
kosten  sollte,  was  besonders  von  den  andern  Buchhändlern  zu 
spöttischem  Widerspruch  ausgenutzt  wurde.  Kurz  und  gut,  Osborne 
verzichtete  noch  während  des  Druckes  auf  die  Ausführung  seines 
Katalogplanes,  nicht  aber  auf  den  Katalogpreis.  Doch  erbot  er  sich, 
entweder  für  diesen  noch  andere  Bücher  zu  liefern  oder  den  Katalog 
zurückzunehmen,  verfuhr  also  auch  dabei  geschäftstüchtig  groß- 
zügig. Der  Verkauf  begann  Dienstag  den  14.  Februar  1744  in  den 
Büchersälen  des  in  der  Albemarle  Street  gelegenen  Oxford  Palastes. 
Um  Unordnungen  zu  vermeiden,  war  vorher  kein  Zutritt  gestattet 
worden.  Den,  wie  Dibdin  zeigte,  durchaus  unberechtigten  Vor- 
würfen einer  allzu  gewinnsüchtigen  Preistreiberei  ließ  Osborne  durch 
Johnson  eine  Antwort  geben,  die  ein  buchhändlerischer  Epilog  der 
Auflösung  der  Harleyschen  Privatbibliothek  ist:  ,,If,  therefore, 
I  have  set  a  high  value  upon  books,  if  I  have  vainly  imagined  litera- 
ture  to  be  more  fashionable  than  it  really  is,  or  idly  hoped  to  revive 
a  taste  well-nigh  extinguished,  I  know  not  why  I  should  be  per- 
secuted  with  clamour  and  invective,  since  I  shall  only  suffer  by  my 
mistake,  and  be  obliged  to  keep  those  books  which  I  was  in  hopes  of 
selling.'^  Es  war  um  1750  noch  weit  bis  zum  Ausbruch  der  Bibliomania. 
Hatte  doch  Königin  Anne  ihrem  Lord  Schatzmeister  Harley, 
als  er  ihr  vorschlug,  Sir  Symonds  d*Ewes  [1602—1656]  Hand- 
schriftensammlung, die  kostbarste  und  reichhaltigste  in  England 
nach  der  von  Sir  Robert  Cotton  zusammengebrachten,  anzukaufen, 
geantwortet:  „It  was  no  virtue  for  her,  a  woman,  to  prefer,  as  she 
did,  arts  to  arms;  but  while  the  blood  and  honour  of  a  nation  were 
at  stake  in  her  wars,  she  could  not,  tili  she  had  secured  her  living 
subjects  an  honourable  peace,  bestow  their  money  upon  dead  letters." 
Das  war  die  öffentliche  Meinung  in  dieser  Sache  und  Robert  Harley, 

421 


ENGLAND 

der  ein  Nationalarchiv  nun  selbst  aus  eigenen  Mitteln  vor  der  Zer- 
streuung bewahrte,  kam  auch  damit  in  den  Ruf  eines  Verschwenders. 
Freilich  hatte  er  darauf  verzichten  müssen,  die  ihm  1714  für  8000 
Pfund  angebotene,  30000  Bände  mit  etwa  2000  Handschriften  um- 
fassende Bibliothek  John  Mores,  Bischofs  von  Ely  [1646 — 1714]* 
anzukaufen,  die  dann  1715  Georg  I.  für  6000  Pfund  erwarb  und  der 
Universität  Cambridge  zuwies.  Der  Bischof,  der  „Vater  der  black 
letter  Sammler**,  der  bei  seinen  Erwerbungen  in  den  Büchersamm- 
lungen seiner  Diözese  [nach  Mr.  Goughs  Urteil]  mit  frommen  Segens- 
wünschen und  Selbsttröstungen:  ,quid  illitterati  cum  libris*  nicht 
sparte,  hatte  die  Aufmerksamkeit  der  Bücherkenner  auf  die  eng- 
lischen Drucke  des  fünfzehnten,  sechzehnten,  siebzehnten  Jahr- 
hunderts gelenkt  und  derart  diejenige  Sammelrichtung  eingeleitet, 
die  noch  heute  in  den  klassischen  Bibliophilie-Systemen  der  englisch 
sprechenden  Länder  maßgebend  scheint.  Allerdings,  der  Antiquar 
trennte  sich  vom  Bibliophilen  erst  bei  den  sich  bibliographisch  ge- 
nauer orientierenden  Büchersammlern;  und  auch  unter  ihnen  war 
Robert  Harley  einer  der  ersten  gewesen,  obschon  sein  Sammlungs- 
verfahren, das  Aufkaufen,  ihn  weit  weniger  zum  Auslesen  als  zum 
Aussondern  zwang.  Der  Ausbau  der  Bibliotheca  Harleiana  in  kaum 
einem  Halbjahrhundert  war  damals  nur  derart  möglich  gewesen, 
daß  sie  sich  das  Beste  aus  über  einem  Hundert  anderer  Privat- 
bibliotheken zueignen  konnte.  Das  Aufkaufen  bemerkenswerter 
Büchermassen  führte  dazu  rasch,  freilich  ohne  die  Mittel  zu  sparen, 
zum  Ziel  und  es  ist  seitdem,  gegenwärtig  als  amerikanisch  groß- 
zügige Sammeltechnik  vielbewundert,  bei  den  großen  Sammlern  der 
englisch  sprechenden  Länder  beliebt  geblieben.  Nicht  zum 
wenigsten  auch  deshalb,  weil  die  allmählichen  Bereicherungen  der 
berühmten  Büchersammlungen  mit  erlesenen  Sammlerstücken  die 
Arbeit  der  Vorgänger  weit  nutzbringender,  auch  wirtschaftlich  weit 
nutzbringender  zu  verwerten  gestattet,  als  das  im  Anfange  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  noch  der  Fall  war.  Man  braucht  nur  die  Ent- 
stehung der  Harleyan  Library  mit  der  der  Morgan  Library  oder  der 
Huntington  Library  zu  vergleichen,  um  die  Ausbildung  des  Bücher- 
sammelwesens  von  1720  bis  1920  kennen  zu  lernen. 

422  *  ^^'  *^ 


18.  JAHEHUNDEET 

Im  Jahre  1774  gab  der  Londoner  Buchhändler  Paterson  einen 
Auktionskatalog  heraus,  dessen  schon  zur  Gewohnheit  gewordener 
langatmiger  Titel  verkündete,  er  sei:  A  Catalogue  of  rar^e  books  and 
tracts  in  various  languages  and  faculties,  including  the  Ancient  Con- 
ventual  Library  of  Missenden  Abbey  in  Buckinghamshire,  together 
with  some  choice  remains  of  that  of  the  late  eminent  Sergeant  at 
Law,  William  Fletewode,  Esq.,  Recorder  of  London  in  the  reign  of 
Queen  EUzabeth ;  among  which  are  several  specimens  of  the  earliest 
typography,  foreign  and  English,  including  Caxton,  Wynkyn  de 
Worde,  Pynson  and  others ;  a  fine  coUection  of  EngUsh  history,  some 
scarce  old  law  books,  a  great  number  of  old  English  plays,  several 
choice  MSS.  upon  vellum,  and  other  subjects  of  literary  curiosity  . . . 
Diese  Bibliotheca  Monastico-Fletewodiana,  der  übrigens,  aus 
anderem  Besitz,  der  Versteigerer  auch  neuere  Werke  hinzugefügt 
hatte,  war  keine  abgerundete  Büchersammlung  mit  dem  Ansehen, 
das  ihr  ein  bekannter  Bibliophilennamen  hätte  geben  können;  und 
die  Preise,  mit  der  ihre  Schätze  bewertet  wurden,  blieben  niedrig. 
Immerhin  wurde  sie  in  ihrer  Art  epochemachend,  weil  sie  am  Anfange 
der  Bewegung  steht,  die  im  letzten  Viertel  des  achtzehnten  Jahrhun- 
derts das  altenglische  Buch  zum  fortan  führenden  der  englischen  Lieb- 
haberbüchereien werden  liefi  und  damit  gleichzeitig  eine  Umwand- 
lung der  bisherigen  Liebhaberwerte  vollzog,  indem  die  antiken 
Klassiker  den  nationalen  weichen  mußten.  Anfangs  blieb  noch  das 
archäologisch-typographische^  das  historische  und  Raritätsinteresse 
richtunggebend,  die  Romantik  des  blackletter  book  und  der  gothic 
library.  Nach  und  nach  jedoch  kam  die  literarhistorische  Sonderung 
der  alten  Büchermassen  zu  einer  fester  werdenden  Systematik,  die 
für  die  Bibliophilenbibliotheken  sie  in  der  Dreiteilung  der  Druck- 
werke des  fünfzehnten  und  sechzehnten  Jahrhunderts  sonderte,  die 
man  den  Hauptwerken  britischer  Geschichte,  engUscher  Dichtung 
und  englischer  Wiegendrucke  zurechnete.  Wobei  dann  die  biblio- 
graphische Forschung  auf  das  Entstehen  immer  neuer  Spezial- 
koUektionen  einwirkte;  eine  in  ihren  Einzelheiten  nicht  einfach  zu 
verfolgende  Entwicklung,  weil  das  ältere  Druckwerk  an  und  für  sich 
im  achtzehnten  Jahrhundert  der  Beschäftigung  der  Büchersammler 

423 


ENGLAND 

manche  eigene  Richtung  gegeben  hatte.  Aber  was  jetzt  immer 
schärfer  hervortrat,  war  die  nationale  Tendenz,  die  Beschränkung 
auf  die  Bevorzugung  derjenigen  Sammelgebiete,  die  recht  eigentlich 
englische  waren. 

Die  Beutelust  der  ^black  letter  dogs',  die  Bände  und  Bündel  in 
ihre   ,gothic   library*   schleppten,   steigerte   sich   allgemach   bis   zur 
Sammelwut.    Da  war  der  originale  Krämer  John  Ratcliffe,  der, 
als  er  1776  starb,  eine  der  schönsten  Büchereien  dieser  Art  hinter- 
ließ.   Man  erzählte  sich,  daß  er  manche  ihrer  besten  Stücke  als  Alt- 
papier  nach   dem   Gewicht   gekauft   habe.     Aber   das   Verzeichnis 
seiner  1776  durch  Christie  ausgerufenen  Bibliothek  erwies,  daß  sein 
Glück  von  seinen   Kenntnissen  reichlich  unterstützt  gewesen  sein 
wird.    Und  bei  seinen  Donnerstag-Frühstücken,  die  in  hohem  An- 
sehen ihres  vortrefflichen  Stilton- Käses  wegen  standen,  saßen  um 
den  Tisch  des  jovialen  und  korpulenten  Mannes  die  angesehensten 
Sammler,   die  Askew,  Croft,  West,   um  seine   neuen  Erwerbungen 
zu   bewundern.     Sogar   Johnsons   fashionabler   Freund,    Topham 
Beauclerk  [1739—1780]  pflegte  sich  regelmäßig  einzufinden,   der 
in  einem  kurzen  Leben  an  30000  Bände  vereint  hatte,  die  freilich  an 
Wert  sich  mit  denen  des  Kabinettes  dieses  ungewöhnlichen  Kolonial- 
warenhändlers nicht  vergleichen  ließen;  obschon  sie  im  dramatischen 
und  historischen  Fache  Reihen  bildeten,  die  sich  sehen  lassen  durften. 
Ihre  Auktion,  die  1781  Palerson  besorgte,  blieb  denn  auch  weit  hinter 
der  von  ihm   1783   geleiteten   Bibliotheca   Croft siana   zurück. 
Mit  Recht  durfte  über  den  Sammler  und  das  Verzeichnis,  in  dessen 
Vorrede,  gesagt  werden:    The  great  reputation  which  the  late  Rev. 
an  learned  Mr.  [Thomas]  Crofts  had  acquired,  with  respect  to  biblio- 
graphical  knowledge,    cannot   be   better    established   than   by   the 
foUowing  digest  of  bis  excellent  library,  in  which  no  pains  have  been 
spared  to  render  it  worthy  the  character  of  the  coUector,  and  such 
as  he  himself,  it  is  presumed,  would  not  have  disapproved.    The 
coUection  on  the  'Origin  of  Letters',  and  of  Grammars  and  Dictio- 
naries,  is  admirable,  and  much  fuller  of  curious  books  than  is  to  be 
found  in  many  libraries  of  the  first   description.    The  theological 
divisions  comprehend  many  curious  and  valuable  articles  .  .  .  The 

424 


18.  JAHRHUNDERT 

classical  part  of  the  library  is  indeed  a  treasure  of  Greek  and  Roman 
learning,  comprising  many  of  the  early  editions,  almost  all  the 
Aldine  editions,  and  those  of  the  best  modern  commentators/'  Auch 
die  ältere  italienische,  portugiesische,  spanische  Literatur  fand  sich 
in  bester  Auswahl  in  dieser  Bibliothek  eines  Buchfreundes  und  Ge- 
lehrten, die  anders  als  die  bald  nachher  verkaufte  Büchersammlung 
Dr.  Johnsons  die  Vereinigung  von  Bildung,  Gelehrsamkeit,  Ge- 
schmack erläuterte. 

Den  Engländern  ist  nicht  der  Geschmacksrichter  Dr.  Samuel 
Johnson  teuer,  der  1708  als  der  Sohn  eines  Buchhändlers  zu  Lich- 
field  geboren  wurde  und  1784  m  London  als  ein  Bücherherrscher 
starb;  nicht  der  Mann,  dessen  Nachruf  in  den  Zeitungen  lautete: 
„Georg  II L  hat  seinen  berühmtesten  Untertan  verloren";  nicht  der 
Verfasser  des  Wörterbuches  der  englischen  Sprache:  nein,  einen  ganz 
anderen  Johnson  verehren  sie  als  den  ,,old  Doktor'*  und  den  ge- 
achtetsten  Besucher  der  Mitre  tavern  in  der  Fleet  Street.  Dr.  Sa- 
muel Johnson  ist  das  bemerkenswerteste  Beispiel  für  die  Macht  der 
Biographie,  das  die  neuere  Schrifttumsgeschichte  kennt  und  in  dem  der 
Beschreibung  seiner  Lebenszüge  gewidmeten  Buche  hat  sein  Biograph 
Boswell  der  britischen  Persönlichkeit  ihr  Denkmal  gesetzt.  So  ist 
Samuel  Johnson  zur  Verkörperung  altenglischen  Wesens  geworden. 

Den  Eifer  oder  die  Eitelkeit  eines  Büchersammlers  hatte  Dr. 
Samuel  Johnson  nicht.  Er  behandelte  die  Bücher,  die  er  las,  so  gut, 
als  das  seine  Bequemlichkeit  erlaubte,  d.  h.  recht  schlecht.  ,Books', 
sagte  er  zu  Boswell,  „that  you  may  carry  to  the  fire,  and  hold  readily 
in  your  band,  are  the  most  useful  after  all.''  Und  er  las  auch  beim 
Essen  oder  riß  die  Bogen  auseinander,  anstatt  sie  langsam  aufzu- 
schneiden. Ja,  er  machte  darin  keinen  Unterschied  zwischen  den 
eigenen  und  den  entliehenen  Büchern,  die  er  nicht  immer  gern 
zurückgab,  was  seine  Freunde  wohl  wußten.  In  Staub  und  Un- 
ordnung lagen  die  Bände  der  Bibliothek  Johnsons  durcheinander, 
deren  Wahl  keineswegs  auf  die  Äußerlichkeiten  bedacht  gewesen 
war  und  nicht  die  besten  und  schönsten  Ausgaben  herausgesucht 
hatte;  einer  Bibliothek,  die  für  die  Arbeit  am  Dictionary  angelegt 
worden  ist.    Es  läßt  sich  annehmen,  daß  der  alte  Doktor  in  seinem 

425 


ENGLAND 

Verhältnis  zu  den  Büchern  weder  ein  Elegant  noch  ein  Pedant  ge- 
wesen isty  und  vielleicht  war  dieser  ihm  auch  mit  Voltaire  gemeinsame 
Grundzug  seines  Wesens  —  auch  der  große  französische  Kritiker 
besaß  weder  ein  Bücherherz  noch  eine  geordnete  Büchersammlung 
—  eine  Äußerung  der  Mißachtung  bedruckten  Papiers,  die  viele 
Polygraphen  bewiesen  haben. 

Nach  Dr.  Samuel  Johnsons  Tod  wurde  seine  Bibliothek  in  Mr. 
Christies  großem  Auktions-Saal  in  Pall  Mall  am  16.  Februar  1785 
versteigert.  Der  „Catalogue  of  the  Valuable  Library  of 
Books,  of  the  late  learned  Samuel  Johnson,  Esq.,  LI.  D.; 
Deceased'*  zählt,  außer  den  Stichen,  650  Lose  auf,  die  ihrerseits 
wieder  eine  größere  Anzahl  von  Bänden  unter  einer  Nummer  ver- 
einten. Er  verzeichnete  auch  nicht  den  ganzen  Büchernachlaß  John- 
sons, der  eine  Anzahl  von  Werken  seinen  Freunden  vermacht  hatte, 
von  denen  Reynolds  unter  anderem  das  Handexemplar  der  letzten 
Ausgabe  des  Wörterbuches  erhielt.  Buntscheckig,  unpersönlich, 
unvollständig  ist  dieser  Auktionskatalog,  in  dem  sogar  eigene,  ihm 
gewidmete  oder  von  ihm  lobend  erwähnte  Schriften  des  berühmten 
Kritikers  und  Lexikographen  ebenso  fehlen  wie  fast  kein  Buch  dieser 
Versteigerung  als  eine  den  Liebhabern  schätzenswerte  Kostbarkeit 
oder  Seltenheit  erschien.  Sie  ging  auch  ziemlich  unbeachtet  vorüber, 
nicht  einmal  „London  Chronicle'*,  Dr.  Samuel  Johnsons  Lieblings- 
zeitung, erwähnte  sie;  ihr  Erlös,  247 Pfund  9  Schillinge,  war  nur  gering. 
Vielleicht  hatten  sich  bei  ihr  selbst  die  Freunde  nicht  beeilt,  ein  An- 
denken zu  erstehen.  Denn  der  gelehrte  Doktor  hatte  ja  die  von  den 
Freunden  entliehenen  Bücher  wie  die  eigenen  behandelt  und  sie  mit 
seinen  durchaus  nicht  verschönernden  Randbemerkungen  zurück- 
gegeben, in  denen  er  den  Stoff  für  das  Wörterbuch  anhäufte,  obschon 
er  im  übrigen  ein  Gegner  solcher  Randschriften  war,  weil  er,  ein  auf- 
merksamer Leser,  sie  als  hemmend  und  hinderlich  ansah. 

,It  is  the  practice  of  many  Teaders  to  note,  in  the  margin  of 
their  books,  the  most  important  passages,  the  strongest  arguments, 
or  the  brightest  sentiments.  Thus  they  load  their  minds  with  super- 
fluous  attention,  repress  the  vehemence  of  curiosity  by  useless  deli- 
beration,  and  by  frequent  interruption  break  the  current  of  narration 

426 


18.  JAHRHUNDERT 

or  the  chain  of  reason,  and  at  last  close  the  volume,  and  forget  the 
passages  and  marks  together.  Others  I  have  found  unalterably  per- 
suaded  that  nothing  is  certainly  remembered  but  what  is  transcribed ; 
and  they  have  theref ore  passed  weeks  and  months  in  transferring  large 
quotations  to  a  commonplace  book.  Yet,  why  any  part  of  a  book,  which 
can  be  consulted  at  pleasure,  should  be  copied,  I  was  never  able  to 
discover.  The  band  has  no  closer  correspondence  with  the  memory 
than  the  eye.  The  act  of  writing  itself  distracts  the  thoughts,  and 
what  is  read  twice  is  commonly  better  remembered  than  what  is 
transcribed.  This  method  therefore  consumes  time  whitout  assisting 
memory.  The  true  art  of  memory  ist  the  art  of  attention.  No  man  will 
read  with  much  advantage,  who  is  not  able,  at  pleasure,  to  evacuate 
bis  mind,  or  who  brings  not  to  his  author  an  intellect  defecated  and 
pure,  neither  turbid  with  care,  nor  agitated  by  pleasure.  If  the 
repositories  of  thought  are  already  füll,  what  cant  they  receive? 
If  the  mind  is  employed  on  the  past  of  the  future,  the  book  will 
be  held  before  the  eyes  in  vain.  What  is  read  with  delight  is  commonly 
retained,  because  pleasure  always  secures  attention:  but  the  books 
which  are  consulted  by  occasional  necessity,  and  perused  with  im- 
patience,  seldom  leave  any  traces  on  the  mind.  [The  Idler  74.] 
Dr.  Samuel  Johnson,  der  einmal  [Adventurer  137]  der  Betrachtung, 
weshalb  und  wie  Bücher  gelesen  werden,  ein  paar  vernünftige  Zeilen 
gewidmet  hat,  blieb  allen  Übertreibungen  in  der  Gelassenheit  seines 
Wesens  fremd.  Die  Unterscheidung  zwischen  dem  fruchtbaren 
Lesen  aus  Begabung,  Neigung  und  Stimmung,  die  er  in  einer  Unter- 
haltung mit  I.  Boswell  diesem  empfahl,  und  dem  Arbeitspflichtlesen, 
zu  dem  Beruf  und  Geschäfte  zwingen,  hat  er  mit  klarer  Unbeküm- 
mertheit gegenüber  jener  Dummheit  oder  Heuchelei  vertreten,  die 
die  Meinung  verteidigte,  ein  Mensch  müsse  die  Bücher,  mit  denen 
er  es  zu  tun  habe,  immer  durchlesen.  Es  ist  die  bekannte  Antwort, 
die  er  Mr.  Elphinston  auf  die  Frage  gab,  ob  er  ein  neues  Buch  gelesen 
habe.  ,,Ich  habe  hineingesehen.''  Und  die,  als  der  Erstaunte  er- 
widerte: „Wie,  Sie  haben  es  nicht  durchgelesen?*'  sich  zur  Abwehr  in 
der  Gegenfrage  erhob:  „Nein,  lesen  Sie  denn  die  Bücher  durch?"  Daß 
die  Beweglichkeit  des  Buchgeistes  dank  einer  kursorischen  Lektüre 

427 


ENGLAND 

wächst,  daß  sie  der  Bücherwälzerei   schwerfälligerer  Zeitalter  ihre 
Gefahren  nimmt,  ist  nicht  zu  verkennen.    Der  Anspruch  Dr.  Samuel 
Johnsons  bedeutete  auch  eine  Entschuldigung,  wofern  eine  solche 
notwendig  sein  sollte;  und  eine  Erklärung  für  die  Benutzung  der 
Liebhaberbüchereien.     Um  so  mehr,  als   darin  eine   Emanzipation 
von  der  Autorität  des  Bücherglaubens  lag.     Als  Boswell  auf  der 
Hebridenreise  es  beklagte,  daß  das  Buch  mit  fremden  Gedanken 
und  Gefühlen  die  eigenen  unterjoche,  die  Persönlichkeit  vernichte, 
daß  alle  Welt  von  Büchern  spreche,  wußte  Dr.  Samuel  Johnson  die 
Antwort  zu  finden:    „You  and   I  do  not  talk  from  books."     Ein 
Scherz,  in  dessen  Verhüllung  diese  Wahrheit  zu  finden  war:  daß  man 
in  dem  künstlichen  Leben  der  Literaturmode  nicht  untergehen,  in 
dem  bedruckten  Papierwust  nicht  versinken  solle.    Die  Achtsamkeit 
auf  Äußeres  und  Äußerlichkeiten  des  Buches,  schützt  sie  nicht  den 
Buchfreund  gegen  die  Unterwerfung  unter  angelesene  Meinungen 
unbedeutender   Werke?     Und   ist   nicht    der     Genuß    des    Geistes- 
gehaltes guter  Werke,  dessen  volle  Wirkung  die  Art  des  Buches 
und  das  Verhältnis,  das  der  Leser  zu  ihm  findet,  gibt,  den  Mühselig- 
keiten des  Verdauens  schlechter  Schriften  vorzuziehen?    Was  der 
alte  Doktor  empfahl;  die  Lebens-  und  Leseklugheit,  die  er  verteidigte, 
war  der  geistige  Komfort  des  Buches,  den  die  Buchfreunde  jetzt  erst 
recht  schätzen  lernten,   nachdem  sie   den   Komfort  ihrer  Bücher- 
sammlungen zu  würdigen  wußten.    Mag  Dr.  Samuel  Johnson  selbst 
nicht  ein  Büchersammler  gewesen  sein,  dank  seinen  Ratschlägen  ent- 
stand eine  der  besten  Büchereien  des  Landes,  die  des  Königs. 

Im  Gegensatz  zu  seinem  Vater  war  der  dritte  König  aus  dem 
Hause  Hannover,  George  IIL  [1738—1820],*  der  erste  Bibliophile 
seines  Landes  und  einer  der  ersten  Büchersammler  seiner  Zeit.  Den 
Kern  seines  kostbaren  und  kostspieligen  Bücherschatzes,  der  neuen 
Royal  Library,  auf  dessen  Vermehrung  er  jährlich  2000  Pfund  ver- 
wendete, bildete  eine  Liebhaberbücherei  allerersten  Ranges,  die  er 
1762  für  10000  Pfund  von  dem  englischen  Konsul  in  Venedig, 
Joseph  Smith  [1682—1772],  erwarb.  Dieser  gelehrte  und  ge- 
schmackvolle Sammler  hatte  es  verstanden,  im  bücherreichen 
Italien  systematisch  Wiegendrucke  zusammenzubringen.    Von  seiner 

428  *  Abb.  292 


18.  JAHRHUNDERT 

Forscherfreude  gibt  auch  der  Katalog  seiner  ersten  Bibliothek,  der 
1755  erschien  und  der  die  Erwerbung  des  Königs  verzeichnet,  ein 
vortreffliches  Zeugnis;  von  seinem  Forscherglück  seine  sogleich  von 
neuem  begonnene  zweite  Bibliothek,  die  1773  in  London  unter  den 
Hammer  kam.  Walpole  hat  ihn  den  , Kaufmann  von  Venedig*  ge- 
nannt, der  von  seinen  Bänden  bloß  die  Titel  kenne;  ein  Witz,  der 
dem  Geschäftssinne  Smiths  nicht  Unrecht  getan  haben  mag,  aber 
ein  allzuungünstiges  Urteil  über  seine  Kenntnisse  aussprach. 

1763  kaufte  George  III.  von  den  Erben  des  1666  gestorbenen 
Londoner  Buchhändlers  George  Thomason  für  300  Pfund  die 
von  diesem  unter  den  schwierigsten  Umständen  vereinten  Civil 
War  tracts,  eine  von  dem  Royalisten  Thomason  im  November 
1640,  als  das  lange  Parlament  sich  einsetzte,  angefangene  und  bis  zum 
Mai  1661  weitergeführte  einzigartige  Kriegs-  und  Revolutions- 
sammlung, die  der  König  dem  British  Museum  schenkte.  In  nahezu 
2000  Bänden  sind  hier  fast  23000  Einzelschriften  zusammengestellt, 
darunter  dreiundsiebzig  nur  geschriebene,  ,,which  no  man  durst 
then  venture  to  publish  without  endangering  his  ruine*'.  Das  Be- 
stehen der  Sammlung,  eine  ständige  Gefahr  für  ihren  Besitzer,  war 
dem  König  Charles  L,  der  selbst  ihr  einmal  ein  Buch  entlieh  —  ein 
Ereignis,  das  eine  lange  Eintragung  Thomasons  in  diesem  Exemplare 
feierte  —  und  der  Kavalierpartei  wohlbekannt,  den  Gegnern  durfte  sie 
nicht  in  die  Hände  fallen.  So  ist  sie  in  den  Revolutionszeiten,  von 
treuen  Freunden  bewacht,  auf  heimlichen  Wegen  durch  England 
hin-  und  hergeschickt  worden,  bis  sie  schließlich  ihren  besten  Schlupf- 
winkel in  der  Bodleiana  fand.  Thomason,  der  über  viertausend 
Pfund  auf  sie  verwendet  haben  wollte,  hat  auch  ihr,  von  Marmaduke 
Foster  angelegtes,  Verzeichnis  durchgesehen:  ein  Bibliophilenheros 
sondergleichen,  der  sich  ständig  von  seinen  Büchern  trennen  mußte, 
um  sie  zusammenzubringen  und  zusammenzuhalten.  Und  nicht 
einmal  der  Ruhm  ist  ihm  gegönnt  worden,  daß  sein  Name  sein  Werk 
ziert;  als  eine  Gabe  Georges  IV.  heißen  die  wertvollen  Bände  im 
British  Museum  die  King  tracts. 

Sir  F.  A.  Barnard,  des  Königs  Privatbibliothekar,  nutzte  1768 
die  Auflösung  der  Jesuitenbibliotheken,  um  auf  einer  ausgedehnten 

429 


ENGLAND 

Kontinentaltour  die  ihm  unterstellte  Bücherei  zu  ergänzen  und  ver- 
säumte es  auch  nicht,  sie  mit  den  besten  Neuerscheinungen  zu  ver- 
mehren. 66000  Bände  und  19000  neu  gebundene  Kleinschriften, 
dazu  die  vielleicht  größte  jemals  in  einer  Privatbibliothek  vorhanden 
gewesene  Kartensammlung  barg  die  seit  1767  im  Buckingham  Palast 
aufgestellte  Bücherei  Georges  III.,  dessen  Sohn,  der  geldbedürftige 
George  IV.,  sie  für  180000  Pfund  nach  seinem  Regierungsantritte 
sogleich  dem  Kaiser  von  Rußland  anbot.  Nur  mit  Mühe  konnte  man, 
durch  Überlassung  der  Droits  of  Admiralty  an  den  König,  den  Ver- 
kauf verhindern  und  die  Erhaltung  der  Sammlung,  als  angebliches 
Geschenk  Georges  IV.  an  die  Nation  vom  15.  Januar  1823,  sichern, 
das  jetzt  im  British  Museum  den  Donator  eher  rühmt  als  ihren  Samm- 
ler. So  daß  George  III.  und  Thomason  am  Ende  das  gleiche  Schick- 
sal teilten,  mehr  oder  minder  mit  den  Denkzeichen,  die  ihnen  ihre 
Bibliophilie  schuf,  vergessen  worden  zu  sein.* 

Die  von  einem  unbekannten  Johnson  ihm  angebotene  Wid- 
mung von  dessen  Wörterbuch  hatte  ein  großer  Herr  abgelehnt;  als 
dieses  epochemachend  wurde,  beeilte  er  sich  nachträglich,  sie  anzu- 
nehmen, um  diesmal  eine  derbe  Zurückweisung  zu  bekommen.  Das 
ist  eine  Anekdote  aus  Chesterfields  Leben,  die  bezeichnend  genug 
bleibt,  um  sie  als  Motto  seiner  Bibliophiliedoktrin  zu  verwenden. 
Der  erzogene  und  gebildete,  der  gentleman,  durfte  an  dem  Buche 
nicht  vorübergehen.  Aber  seinen  Verkehr  mit  ihm  sollte  er  als  Welt- 
mann verstehen,  wie  es  Stanhope,  Philipp  Dormer,  Earl  of  Chester- 
field  [1694 — 173?]  dem  Sohne  anempfahl:  ,A  man  who,  without 
a  good  fund  of  knowledge  and  parts,  adopts  a  Court  life,  makes  the 
most  ridiculous  figure  imaginable.  He  is  a  machine,  little  superior 
to  the  Court  clock;  and,  as  this  points  out  the  hours,  he  points  out 
the  frivolous  employment  of  them.  He  is,  at  most,  a  comment  upon 
the  clock;  and,  according  to  the  hours  that  it  strikes,  teils  you,  now 
it  is  levee,  now  dinner,  now  supper  time;  etc.  The  end  which  I 
propose  by  your  education  is,  to  unite  in  you  all  the  knowledge  of  a 
Scholar,  with  the  manners  of  a  courtier,  and  to  join,  what  is  seldom 
joined  in  any  of  my  countrymen,  Books  and  the  World.  They  are 
commonly  twenty  years  old  before  they  have  spoken  to  anybody 

430  *  Abb.  293 


18.  JAHRHUNDERT 

above  their  Schoolmaster  and  the  Fellows  of  their  coUege.  If  they 
happen  to  have  learning,  it  is  only  Greek  and  Latin;  but  not  one 
Word  of  Modern  History  or  Modern  Languages.  Thus  prepared, 
they  go  abroad,  as  they  call  it ;  but,  in  truth,  they  stay  at  home  all 
that  while;  for  being  very  awkward,  confoundedly  ashamed,  and 
not  speaking  the  languages,  they  go  into  no  foreign  Company,  at 
least  none  good;  but  dine  and  sup  with  one  another  only,  at  the 
tavern/  Die  Brief  stelle  verweist  auch  auf  die  insulare  Schwäche 
[und  Stärke]  des  Briten  überhaupt,  sein  hohes  Selbstgefühl,  das 
fremdes  Sprachgut  und  fremdes  Schrifttum  verschmäht;  sie  übersieht 
nicht  die  Mängel  der  vornehmen,  wohlhabenden  Jugend,  der  zu 
allerletzt  die  literarischen  Vergnügungen  etwas  galten;  vor  allem 
aber  deutet  sie  auf  die  praktische,  die  realistische  Tendenz,  nicht 
ohne  sie  in  einen  Gegensatz  zu  den  bloß  humanistischen  Studien  zu 
stellen,  denen  die  [ihr  im  Italien  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  sie 
auszeichnende]  notwendige  Weitläufigkeit  fehle.  Von  ähnlicher 
Nüchternheit  ist  die  kurze  bibliographische  Regel,  die  an  einer 
anderen  Stelle  der  Briefe  Chesterfields  an  seinen  Sohn  steht:  „Buy 
good  books,  and  read  them ;  the  best  books  are  the  commonest,  and 
the  last  editions  are  always  the  best,  if  the  editors  are  not  block- 
heads;  for  they  may  profit  of  the  former.  But  take  care  not  to 
understand  editions  and  title-pages  to  well.  It  always  smells  of 
pedantry,  and  not  always  of  learning.^^  Ein  Ratschlag,  in  dessen 
Sinne  auch  dieser  verstanden  sein  soll:  „Due  attention  to  the  inside 
of  books,  and  due  contempt  for  the  outside,  is  the  proper  relation 
between  a  man  of  sense  and  his  books. '^  Daß  Bücher  ,the  best  of  all 
possible  Company*  sein  sollten  —  das  versicherte  einmal  ein  Schreiben 
R.  Southeys  an  G.  C.  Bedford  —  ist  doch  ein  Gedanke,  an  den  seinen 
Sohn  zu  gewöhnen  der  Lord  vermeiden  wollte.  Er  beabsichtigte,  ihm 
das  Brauchen  der  Bücher  zu  lehren,  wie  ihm  die  Brieffolge  den  Ge- 
brauch des  Menschen  erklären  sollte.  Von  dem  Bücherherzen,  das 
in  dem  Humanisten  schlug,  ist  nichts  in  den  Ratschlägen  des  Mannes 
von  Welt,  der  im  bücherreichen  England  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts lebte,  zu  spüren.  Nicht  einmal  den  Bibliothekskomfort 
empfehlen  sie;  sie  erklären  bloß,  weshalb  und  wieweit  sich  ein  Mann, 

431 


ENGLAND 

um  Geltung  zu  gewinnen,  auch  mit  den  Büchern  einzulassen  habe. 
Den  äußeren  Bücherreichtum  schätzte  richtiger  Johnson,  als  er  über 
ihn  [im  Idler]  schrieb:  It  is  observed  that  a  corrupt  society  has 
many  laws;  I  know  not  whether  it  is  not  equally  true,  that  an 
ignorant  age  has  many  books.  When  the  treasures  o£  ancient  know- 
ledge  lie  unexamined,  and  original  authors  are  neglected  and  for- 
gotten,  Compilers  and  plagiaries  are  encouraged  who  give  us  again 
what  we  had  before,  and  grow  great  by  setting  before  us  what  our 
own  sloth  had  hidden  from  our  view."  Ebensowenig  läßt  sich  aus 
der  Beschäftigung  mit  den  letzten  Neuheiten  des  Tages,  die  man 
sich  womöglich  aus  jetzt  beliebt  gewordenen  Circulating  Libraries 
holen  ließ  —  eine  von  R.  B.  Sheridan  in  den  „Rivals"  verspottete  Ge- 
wohnheit —  auf  eine  Ausbreitung  der  Bücherliebe  schließen,  wie  etwa 
die  vielen  vorhandenen  Bücherzimmer  der  Landsitze  und  städtischen 
Wohnhäuser  für  sie  zeugten.  Hier  galt  das  Urteil  Walpoles:  Our 
booksellers  her  at  London  disgrace  literature  by  the  trash  they 
bespeak  to  be  written,  and  at  the  same  time  prevent  everything  eise 
from  being  sold.  They  are  little  more  or  less  than  upholsterers,  who 
seil  sets  or  bodies  of  arts  and  sciences  for  furniture;  and  the  pur- 
chasers,  for  I  am  very  sure  they  are  not  readers,  buy  only  in  that 
view.  I  never  thought  there  was  much  merit  in  reading:  but  yet  it  is 
to  good  a  thing  to  be  put  upon  no  better  footing  than  damask  and 
mahogany."  Für  die  Bibliophilie  läßt  sich  der  Bibliothekenluxus, 
die  feiner  gewordene  Form  des  gesellschaftlich  guten  Tones,  die  neben 
anderen  Komforts  die  literarischen  nicht  vergaß,  nach  der  Aus- 
breitung, dem  Umfang  und  der  Zahl  englischer  Privatbibliotheken 
kaum  in  dem  Maße  in  Anspruch  nehmen,  in  dem  es  bisweilen  ge- 
schieht. Eher  wird  sich  in  ihnen  eine  Rückwirkung  der  Bibliophilie 
auf  die  Ausbildung  des  Buchgeschmackes  finden  lassen. 

Die  Antiquitäten  der  Literatur  und  Typographie  in  eine  biblio- 
graphische Ordnung  zu  bringen,  hatten  im  achtzehnten  Jahrhundert 
die  Bibliophilen  Englands  mehr  und  mehr  gelernt.  Damit  kam 
auch  mehr  und  mehr  in  die  Sammelrichtungen  und  in  die  Samm- 
lungen selbst  eine  strengere  Systematik,  gleichzeitig  aber  auch  in 
das  Sammeln  eine  gewisse  Abgeschlossenheit  gegen  die  Lebenskräfte 

432 


18.  JAHRHUNDERT 

der  Literatur;  ein  die  Gegenwart  vernachlässigender,  dem  Histori 
sieren  eigentümlicher  retrospektiver  Zug.  Die  besten  Liebhaber- 
bfichereien  wurden  ausgewählte  Schatzkammern;  ihre  Auswahl  be- 
schränkte sich  jedoch  auf  die  Vergangenheit,  sie  ließ  das  Klassische 
mit  dem  Modernen  ohne  inneren  Zusammenhang.  Der  Katalog- 
zwang gewährte  der  eigenwilligen  Laune  und  Lust  keinen  reichen 
Spielraum,  wenn  allein  diese  alte  Ausgabe  und  jene  alte  Ausgabe 
begehrenswert  sein  und  es  sonst  für  den  Bibliophilen  kein  Buch 
geben  sollte.  Die  Buchbildeleganz,  die  die  französischen  Kupfer- 
stichwerke verbreiteten,  war  in  England  nie  in  Aufnahme  gekommen, 
man  war  hier  für  seine  Grazie  noch  zu  robust;  und  letzten  Endes 
liebte  man  mehr  die  freie  Luft  als  den  Salon.  Derart  gestalteten  sich 
auch  die  Buchvergnügungen  im  Geschmacke  der  Zeit  derber  und 
frischer.  Man  gab,  eine  Ahnung  des  Greater  Britain,  etwas  auf  die 
gute  Ausstattung  von  Reisewerken,  und  war  stolz  darauf,  trotzdem 
der  Heimatgeschichte  und  Heimatkunde  mit  kostbaren  Pracht- 
werken zu  dienen;  man  hielt  es  nicht  für  Verschwendung,  wenn  sich 
die  Liebhaberausgaben  alltäglichen  Dingen  zuwendeten,  deren 
Sinn  sich  in  dem  einen  Worte  comfort  konzentierte;  die  wohlaus- 
gestatteten Fächer  der  Sports  and  Pastimes  durften  einer  Bücher- 
sammlung nicht  fehlen.  Man  verstand  sich  vor  allem  auch  beim 
Büchersammeln  auf  Wit  and  Humour.  Hatten  schon  die  alten 
Buchfreunde  es  geliebt,  die  allerlei  kleine  Nützlichkeiten  herbergen- 
den Werke  zusammenzutragen,  die  nun,  kulturhistorisch  geworden, 
den  Altertümlern  eine  nicht  geringe  Gruppe  ihrer  Sammlungen 
wurden  —  eine  Gruppe,  deren  Ansehen  bis  heute  in  den  englischen 
Ländern  mehr  als  in  allen  anderen  [und  das  mit  dem  besten  Rechte 
von  der  Welt]  sich  erhalten  hat  —  so  bemühten  sich  jetzt  bewußter 
die  Freunde  eines  literarischen  bric-ä-brac  Geschmackes,  die  er- 
müdende Klassikerschwere  mit  dergleichen  Leichtigkeiten  aufzu- 
heben oder  doch  zu  mildern. 

Das  Abwechslungsbedürfnis  auch  des  gebildetsten  und  gelehrte- 
sten Bibliophilen,  das  allein  der  Literatur-Pedant  nicht  anerkennen 
will,  hat  einmal  geistreich  R.Walpoles  Wunsch  ausgedrückt:  I  some- 
times  wish  for  a  catalogue  of  lounging  books  —  books  that  one 

BOOEHO   88  433 


ENGLAND 

take  up  in  the  gout,  low  spirits,  ennui,  or  when  in  waiting  for  Com- 
pany. Some  novels,  gay  poetry,  odd  whimsical  authors,  as  Rabelais, 
etc.  A  cataldgue  raisonn6  of  such  might  be  itself  a  good  lounging 
book.^  Die  Anerkennung  der  Berechtigung  des  Buches,  ein  Zeit- 
^  vertreiber  zur  rechten  Zeit  zu  sein,  erweitert  seine  Fähigkeiten,  ver- 
kürzt nicht  seinen  Wert.  In  ihr  liegt  die  Forderung,  die  Unter- 
haltungsschriften zu  veredeln,  deren  Vermehrung  mit  der  der  Zei- 
tungen sich  an  die  Augenblicksleser  wendete,  die  um  so  zahlreicher 
wurden,  je  mehr  die  Anspannung  der  Arbeit  das  Bedürfnis  einer 
Bucherholung  hervorrief.  Es  ist  die  künstlerisch-schöngeistige 
Richtung  der  englischen  Bücherfreunde  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts, deren  tonangebender  Vertreter  Horatio  Walpole  [4], 
Earl  of  Orford  [1717—1797]*  wurde.  Eine  Richtung,  die  damals 
noch  allgemeineren  kunstwissenschaftlichen  Bahnen  folgte.  Bis  sie 
dann  im  neunzehnten  Jahrhundert,  durch  ihre  Begrenzung  auf  Buch- 
kunst und  Liebhaberausgabe,  das  andere  Hauptlager  der  Biblio- 
philen bildete,  das  dem  der  Freunde  des  guten  alten  Buches  sich  an- 
schloß: das  der  Freunde  des  neuen,  schönen  Buches  ihrer  Gegen- 
wart. Eine  Trennung,  die  erst  möglich  wurde,  nachdem  das  Druck- 
werk in  jahrhundertelanger  Entwicklung  die  alten  und  neuen  ge- 
druckten Bücher  in  einen  immer  weiter  werdenden  Abstand  von- 
einander gebracht  hatte;  nachdem  die  Buchhandschrift  ein  ent- 
schwindendes Stück  Vergangenheit  geworden  war.  ,,Uniquity*'  war 
Walpoles  Zauberwort,  das  alles  von  ihm  berührte  in  ein  eigen- 
einzigartiges Sammlerstück  verwandeln  sollte.  Die  antiquarische 
Rarität,  das  Unikum;  doch  ebensogut  das  neue  Buch,  dessen  Aus- 
stattung, dessen  Herstellung  ihm  die  Originalität,  die  Seltenheit 
verlieh.  Es  war  der  Begriff  einer  Bibliophilenbuch- Exklusivität, 
der  sich  so  gestaltete.  Eine  aristokratische  Bücherlust  war  es,  im 
Freundeskreise  Privatdrucke  zu  verteilen.  Als  Walpole  1747  die 
Einrichtung  seines  Landhauses  Strawberry  Hill,  Twickenham,  be- 
gann, um  es  allmählich  in  ein  gotisches  Schlößchen  zu  verwandeln, 
vergaß  er  nicht  die  eigene  Druckerei;  die  Privatpresse,  die  es  ihm 
gestattete,  ungestört  und  zwanglos  die  Bücher  herstellen  zu  lassen, 
die  er  sich  in  einer  Liebhaberausgabe  wünschte.   Bilder,  Bücher,  Ge- 

434  *  Abb.  287, 28a 


18.  JAHRHUNDERT 


mälde,  Stiche,  ein  allerlei  von  Gegenständen,  die  ihm  ,vertu*  zu 
haben  schienen,  verband  er  in  einem  mittelalterlichen  Rahmen- 
werk; hier  schrieb  er  seine  Briefe  und  Lebenserinnerungen,  seine 
kunstgeschichtlichen  und  schöngeistigen  Werke;  ein  connoisseur 
und  ein  dilettante,  der  es  verstand,  mit  Büchern  und  Menschen  zu 
leben.  Die  Ausstattung  der  Bücherzimmer  im  Geschmack  der 
,Gotik\  den  auch  eine  Literaturmode  nicht  verhehlte,  ist  indessen 
keineswegs  der  ausschlaggebende  Geschmack  gewesen.  Man  erinnert 
sich  bei  ihren  Spielereien  gern  daran,  daß  im  England  des  achtzehn- 
ten Jahrhunderts  die  vielleicht  vornehmsten  Bibliothekmöbel  ent- 
standen sind,  die,  wie  etwa  die  Musterbücher  Sheratons  erläutern, 
Komfort  und  Noblesse  vereinten;  die  ihre  Gebrauchszweckerfüllung 
durch  mancherlei  sinnreich  erdachte  Vorrichtungen  mehrten,  Be- 
haglichkeit und  Bibliothekenluxus  vereinend.* 

Bereits  das  Beispiel  der  Harleyan  Library  hatte  die  Biblio- 
philenbibliotheken,  die  vielfach  vornehmen  und  wohlhabenden 
Leuten  gehörten,  die  sich  ihren  Büchersaal  reich  geschmückt  wünsch- 
ten, auf  die  Einbandprunkentfaltung  gewiesen.  Da  nun  die  alten 
Bände  in  die  Reihen  des  Sammlergutes  aufgenommen  wurden,  die 
häufig  ausgebessert  und  hergerichtet  werden  mußten;  da  die  alten 
fremden  Kunsteinbände  zu  Liebhaberwerten  wurden,  entfaltete  man 
auch  hier  einen  nicht  geringen  Luxus.  Nicht  allein  die  überall  und 
von  jeher  verspottete  Sammlereitelkeit  war  es,  die  ihn  hervorrief. 
Mochte  Pope  auch  das  Arbeitszimmer  des  Lords  belachen: 

His  study!  with  what  authors  is  it  stored? 
In  books,  not  authors,  curious  is  my  Lord; 
To  all  their  dated  backs  he  turns  you  round; 
These  Aldus  printed,  those  Du  Seuil  has  bound. 

Man  hatte  noch  nicht  hinreichendes  historisches  Stilgefühl,  um  den 
alten  Einband,  mochte  er  auch  schlecht  erhalten  und  schlicht  sein, 
als  einen  Bestandteil  des  alten  Buches  zu  schätzen  und  man  meinte 
der  Buchpflege  zu  dienen,  wenn  man  die  alten,  einfachen  Einbände 
durch  neue,  schönere  ersetzen  ließ.  Diese  Gewohnheit  der  englischen 
Sammler  hat  lange,  bis  weit  in  das  neunzehnte  Jahrhundert  hinein, 

«8*  *  Abb.  297—302  435 


EKGLAND 

bestanden  und  ist  vielen,  als  buchgeschichtlichen  Zeugnissen  hoch 
zu  wertenden  Einbänden  der  Wiegendrucke  und  früherer  Zeiten 
verderblich  gewesen.  Allmählich  setzte  dann  die  Wendung  ein 
und  sich  bis  zum  Widerspruche  durch,  der  jetzt  im  alten  erhaltenen 
Einbände  den  höheren  Liebhaberwert  schätzt.  Der  sich  bisweilen 
sogar  in  den  Übertreibungen  gefällt,  in  denen  aber  doch  ein  guter 
Kern  unverkennbar  ist,  wenn  man  den  schlechten  Verlegerband  eines 
Favoritautors  des  neunzehnten  Jahrhunderts  weit  höher  wertet  als 
einen  gleichzeitigen  guten  Liebhabereinband.  Eigenwillig,  exzen- 
trisch, genial  war  der  berühmteste  englische  Buchbinder  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts,  dessen  Arbeit  die  Büchersammler  zu  ge- 
winnen sich  mühten,  fast  für  sie  ein  Halbgott,  Roger  Payne  [1739 
— 1797].  Dibdin  meinte:  ,,The  great  merit  of  Roger  Payne  lay  in 
bis  taste,  in  his  choice  of  Ornaments  and  especially  in  the  working 
of  them.**  In  der  Tat,  es  hat  kaum  jemals  einen  zweiten  Buchbinder 
gegeben,  der  so  wie  dieser  in  seiner  Arbeit  aufging;  der  von  Fall  zu 
Fall  sich  so  liebevoll  mit  allen  Einzelheiten  des  alten  Bandes,  den 
er  in  seinen  Händen  hatte,  beschäftigte.  Und  obschon  er  selbst,  viel- 
leicht seines  Eigensinnes  wegen,  weder  in  seiner  Bindearbeit  noch 
in  seinen  Schmuckverfahren  einen  Höhepunkt  erreichte,  so  blieb  es 
doch  sein  großes  Verdienst,  den  Boden  für  jene  Buchbinder  vor- 
bereitet zu  haben,  die  den  Bibliotheksband  der  englischen  Lieb- 
haberbüchereien ein  notwendiges  Stück  gewählter  und  guter  Arbeit 
werden  ließen.  Robert  Burns,  der  im  Bücherschranke  eines  Edel- 
mannes in  Edinburgh  eine  schlecht  erhaltene  und  schön  gebundene 
Shakespeareausgabe  fand,  schrieb  auf  ihr  Vorsatzblatt: 

Trough  and  through  the  inspired  leaves, 
Ye  maggots,  make  your  windings; 
But,  oh!  respect  his  lordships  taste. 
And  pare  his  golden  bindings. 

Eine  Eintragung,  die  erst  lange  nach  des  Dichters  Tode  auf- 
gefunden, das  Buch  zu  einer  Kostbarkeit  machte  sowie  ein  Geschicht- 
chen, das  die  Entwicklung  des  englischen  Altbüchermarktes  und  der 
englischen    Bücherliebhaberei   im   neunzehnten    Jahrhundert    sym- 

436  *  Abb.  307 


19.  JAHRHUNDERT 

bolisiert.  Bis  zum  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  hatte  man 
die  alten  Bücher  aufgesammelt,  geborgen,  gesichtet.  Jetzt  kamen 
ihre  Massen  in  einen  schnelleren  Kreislauf,  in  den  nicht  nur  die 
Bibliophilenbibliotheken  sondern  ebenso  die  alten  Familien-  und 
Schloßbibliotheken  hineingezogen  wurden;  in  großen  und  kleinen 
Ausverkauften,  deren  beste  Waren  im  zwanzigsten  Jahrhundert  dem 
vordem  an  alten  Büchern  armen  englischen  Ländern  jenseits  des 
Atlantischen  Ozeans  zuflössen. 

Der  Schutzherr  der  ersten  berühmten  englischen  Bücherei- 
versteigerung des  neunzehnten  Jahrhunderts  war  Shakespeare,  der 
fortan  über  den  englischen  Altbüchermarkt  wie  über  die  englischen 
Bühnen  herrschen  sollte.  Am  13.  Mai  1800  und  den  zehn  folgenden 
Tagen  brachte  Mr.  King  die  Büchersammlung  von  George  Stee- 
vens  unter  den  Hammer.  2740  Pfund  wurden  für  die  1943  Num- 
mern der  Privatbibliothek  des  Shakespearekommentators  bezahlt. 
Eine  Anzahl  Liebhaberbüchereien,  die  im  ersten  Jahrzehnt  die  Lieb- 
haberpreise durch  ihre  Versteigerungen  zum  Steigen  brachten, 
zeigten  die  BibUomania  im  raschen  Wachsen.  1810  hatte  sie  ihren 
Höhepunkt  nahezu  erreicht.  Die  Auflösung  einer  Liebhaberbücherei 
des  achtzehnten  Jahrhunderts,  der  des  Rev.  Benjamin  Heath, 
D.  D.,  die  von  ihrem  Sammler  noch  bei  Lebzeiten  dem  Buchhändler 
Joseph  Johnson  verkauft  und  von  diesem  Mr.  Jeffery  zur  Versteige- 
rung anvertraut  war,  brachte  für  etwa  4800  Lose  rund  9000  Pfund. 
Dibdin,  im  Enthusiasmus,  fand  für  das  Ereignis  diese  Worte: 
„Never  did  the  bibliomaniac's  eye  alight  upon  ,sweeter  copies^  as 
the  phrase  is,  and  never  did  the  bibliomaniacal  barometer  rise 
higher  than  at  this  sale !  The  most  marked  phrensy  charakterized  it. 
A  copy  of  the  editio  princeps  of  Homer  [by  no  means  a  first-rate 
one]  brought  £  92,  and  all  the  Aldine  classics  produced  such  an 
electricity  of  Sensation,  that  buyers  stuck  at  nothing  to  embrace 
them !  Do  no  let  it  hence  be  said  that  black  letter  lore  is  the  only 
fashionable  pursuit  of  the  present  age  of  book  coUectors.  This  sale 
may  be  hailed  as  the  omen  of  better  and  brighter  prospects  in  li- 
terature  in  general;  and  many  a  useful  philological  work,  although 
printed  in  the  Latin  or  Italian  language  —  and  which  had  been 

437 


ENGLAND 

sleeping  unmolested  upon  a  bookseller's  shelf  these  dozen  years  — 
will  now  Start  up  from  its  slumber,  and  walk  abroad  in  an  new 
atmosphere,  and  be  noticed  and  ,made  much  oV  — '^ 

Nicht  ohne,  im  britischen  Stolz  von  Dibdin  verschwiegenen, 
Einfluß  war  auf  die  Gestaltung  des  Altbüchermarktes  in  England 
um  1810  die  Kontinentalsperre.  Die  reichen  Zuflüsse,  zumal  aus  den 
in  Frankreich  durch  die  Revolutionswirren  zerstreuten  Bücher- 
sammlungen stockten;  das  Angebot  vermochte  der  Nachfrage  nach 
bestimmten  bibliographischen  Kuriositäten  nicht  mehr  Genüge  zu 
leisten,  weil  das  book-hunting  ein  fashionabler  Sport  geworden  war. 
Unter  solchen  Auspicien  erschien  1812  ein  Auktionskatalog  der 
Messrs.  G.  u.  W.  Nicol,  in  dessen  Vorrede  gesagt  wurde:  ,,When 
literature  was  deprived  of  one  of  its  wärmest  admirers  by  the  death 
of  the  Duke  of  Roxburghe,  bis  grace  was  in  füll  pursuit  of  coUecting 
our  dramatic  authors.  But  when  bis  coUection  of  English  plays 
is  examined,  and  the  reader  is  informed  that  he  had  only  turned 
bis  mind  to  this  class  of  literature  for  a  few  years,  bis  indefatigable 
industry  will  be  readly  admitted.**  John  Ker  [3],  Duke  of  Rox- 
burghe [1740—1804]  hatte  nun  allerdings  ein  köstliches  Sammlergut, 
die  Elizabethan  Dramatists  in  ihren  frühen  Quartos  [doch  besaß 
er  nicht  die  vierte  Shakespearefolioausgabe]  und  die  englischen 
Wiegendruckerreihen,  altfranzösische  und  altenglische  Bände  in 
reicher  Auswahl  sowie  manches  andere  schöne  Stück  bibliographisch 
erster  Ordnung  geborgen,  ohne  dafür  allzu  erhebliche  Aufwendungen 
gemacht  zu  haben.  Und  auch  seine  Vorfahren,  insbesondere  John, 
Earl  of  Roxburghe  in  den  Jahren  der  Königin  Anna,  waren  achtsam 
auf  die  Vermehrung  ihres  Bücherschatzes  gewesen.  Aber  es  waren 
doch  mehr  die  äußeren  Begleitumstände  gewesen,  die  die  von  Robert 
H.  Evans,  der  damit  seine  über  dreißig  Jahre  andauernde  Auk- 
tionatorentätigkeit begann,  geleitete  Versteigerung  im  Roxburghe 
House,  St.  James  Square,  London  epochemachend  werden  ließen: 
die  Preise,  die  in  diesen  46  Versteigerungstagen  des  Mai  und  Juni 
bezahlt  wurden;  das  Gesamtergebnis,  das  für  10120  Lose  auf  23397 
Guineen  10  s  6  d  stieg;  ihr  Höhepunkt,  der  Wettkampf  zwischen 
George  Spencer  Churchill,  Marquis  of  Blandford   [1766— 

438  *  Abb.  296 


19.  JAHRHUNDEBT 

1844]  und  Earl  Spencer,  der  um  die  Valdarfer  Ausgabe  von 
Boccaccios  Decamerone  [1471]  geführt  wurde  und  in  dem  der  Mar- 
quis, der  bereits  ein  defektes  Exemplar  der  gleichen  Ausgabe  besaß, 
den  höchsten  bis  dahin  für  ein  Buch  gegebenen  Preis  zahlte,  2260 
Guineen.  Eine  Summe,  die  wie  Dibdin  in  seinen  ,Reminiscences' 
[I,  369]  versicherte,  derjenigen  entsprach,  die  der  Herzog  für  seine 
ganze  Privatbibliothek  verbraucht  hatte.  Aber  diese  Büchersamm- 
lung des  achtzehnten  Jahrhunderts  ließ  sich  doch  nicht  mit  anderen, 
damals  in  England  schon  vorhandenen  in  eine  Reihe  stellen.  Auch 
war  sie  weit  weniger  systematisch  ausgebaut  als  etwa  die  Althorp 
Library  des  diesmal  unterliegenden  Earl  Spencer,  der  1819  sich  doch 
noch  den  Valdarfer  Decamerone  [für  918  £  15  s,  für  welchen  Preis 
die  Buchhändler  Longmans  versehentlich  das  Buch  erworben  hatten, 
das  sie  dem  Earl  überließen], zu  eigen  machen  konnte,  als  der  Mar- 
quis of  Blandford,  [5]  Duke  of  Malborough  geworden,  seine  in  White 
Knights  bei  Reading,  Berkshire,  aufgestellte  Büchersammlung  zu- 
gunsten seiner  Gläubiger  verkaufen  mußte.  Damals  zerstreuten  sich 
die  rasch  und  teuer  erworbenen  Emblem-  und  Liturgie-Werke,  die 
französischen,  italienischen,  spanischen  Ritterromane,  die  englischen 
Wiegendrucke  der  White  Knights  Library  in  alle  Winde. 

Am  Abend  des  denkwürdigen  17.  Juni  1812  feierte  man  in  St. 
Albans  Tavern  die  Kraftleistung  des  Marquis  und  die  Tischgesell- 
schaft gründete  den  Roxburghe  Club,  Englands  ersten  Biblio- 
philen-Verein. 

Ein  Viertel] ahrhundert  hindurch  folgten  sich  jetzt  nicht  allein 
in  kurzen  Abständen  die  glänzendsten  Auktionen,  auch  die  Durch- 
schnitts Versteigerungen  vermehrten  sich  an  Wert  und  Zahl;  es  bilde- 
ten sich  die  festen  Formen  des  englischen  Auktionswesens  für  den 
Büchermarkt  heraus,  dessen  Führung  im  neunzehnten  Jahrhundert 
,Sothebys'*  übernahmen.  Preisschwankungen  blieben  zwar  nicht 
aus,  doch  erst  die  Heberauktionen  mit  ihrer  Überfülle  wertvollsten 
Büchergutes  ließen  seit  1834  einen  Stillstand  eintreten,  der  erst  seit 
der  zweiten  Hälfte  der  vierziger  Jahre  einer  neuen  Aufwärtsbewegung 
der  Liebhaberpreise  wich.  Als  ein  auch  gesellschaftliches  Ereignis 
ersten  Ranges,  darin  dem  Roxburghe  Säle  vergleichbar,  gestaltete 

*Abb.294.  316  439 


ENGLAND 

sich  1823  die  Fonthill  Abbey  Auktion,  zu  der  die  eilenden  Post- 
wagen die  Käufer  und  Neugierigen  aus  London  in  das  Land  der  Ro- 
mantik entführten,  das  zu  besichtigen  eine  für  10  s.  6  d.  gelöste  Ein- 
trittskarte zu  dem  Abteibau  William  Beckfords  ihnen  gestattete. 

Eigenartig  als  Mensch,  Sammler  und  Schriftsteller  ist  William 
Beckford  [1759—1844]  die  Inkarnation  einer  Bibliophilie- Romantik 
gewesen.  Sein  großes  Vermögen  und  sein  Sonderlingtum  gestatteten 
ihm  die  Verwirklichung  seiner  gotischen  Träume.  Aber  dem  leiden- 
schaftlichen Bücherleser  und  Menschenverächter,  der  es  liebte,  in 
sarkastisch-skeptischen  Vermerken  auf  den  Vorsatzblättern  seine 
weltkundigen  Aufzeichnungen  zu  machen,  fehlten  auch  nicht  der 
Geist  und  die  Kenntnisse,  die  ihn  erheblich  von  manchem  anderen 
viel  berühmter  gewordenen  großen  Bibliophilen  unterschieden. 
Was  ihm,  dem  Exzentrischen,  mangelte,  war  Maßhalten  und  ein 
genaues  Ziel.  Und  so  hat  er  zwar  in  seinen  Bibliotheken  die  besten 
und  schönsten  Bücher  gehabt  und  gekannt,  die  kostbarsten  und 
prunkvollsten  Werke  aufgehäuft.  Aber  als  ihn  nach  einem  langen 
Leben  20000  Neugierige  zu  Grabe  geleiteten,  hinterließ  er  unter 
seinen  vielbewunderten  Schätzen  keine  Sammlung,  die  als  solche 
einen  festen  Zusammenhang  gehabt  hätte.  Seine  Bücherphantasien 
hatten  ihn  in  alle  Weiten  der  Dichtung,  Kunst  und  Wissenschaft 
geführt,  hatten  ihm  den  auskostenden  Genuß  unzähliger  erlesener 
Sammlerstücke  verschafft;  sie  bibliographisch  zu  katalogisieren 
fehlte  seinem  bei  der  Gegenwart  verweilenden  Temperament  die 
Lust.  Ein  Bibliophile  war  der  Mann,  den  sein  Freund  Lord  Byron, 
, Englands  wealthiest  son*  genannt  hat,  gewiß.  Ein  Büchersammler  ist 
er  nicht  gewesen,  obschon  sich  seine  Bibliotheken,  denn  er  pflegte 
seine  Bücher  über  alle  Wohnräume  zu  verteilen,  ihres  Bücherreich- 
tums rühmen  konnten.  Sein  Vater,  Lordmayor  von  London  und  ein 
Freund  des  Lord  Chatham  und  John  Wilkes',  hatte  ihm  ein  Ver- 
mögen hinterlassen,  dessen  Millioneneinkünfte  der  Sohn  zum  Bauen, 
Reisen  und  Sammeln  verwendete.  In  Genf  erzogen,  von  wo  aus  er 
die  Bücher  aus  Edward  Gibbons  Besitz  in  Lausanne  sammelte, 
die  er  später  seinem  Arzt  Dr.  Scholl  schenkte,  mit  dessen  BibUothek 
sie  1833  verkauft  wurden,  hatte  bereits  der  Siebzehnjährige  eine 

440 


19.  JAHRHUNDERT 

Satire,  „A  history  of  extraordinary  peinters"  [1780]  geschrieben  und 
dann  die  seiner  Begabung  entsprechende  Fähigkeit,  raschen  Ein- 
drücken einen  anschaulichen  und  sicheren  Ausdruck  zu  geben,  derent- 
wegen man  ihn  einen  Vorläufer  der  reisenden  Zeitungsbericht- 
erstatter genannt  hat,  auf  Festlandsreisen  ausgebildet.  Seine  Reise- 
briefe, in  ihrer  ersten,  1783  erschienenen,  aber  unterdrückten  Ausgabe 
[Dreams,  waking  thoughts  and  incidents]  und  in  ihrer  späteren, 
durch  spanische  und  portugiesische  Reiseschilderungen  erweiterten 
Fassung  [Italy,  with  sketches  of  Spain  and  Portugal  1834;  Re- 
coUections  of  an  excursion  to  the  monasteries  of  Alcobasa  and 
Batalha  1835]  verraten  wenig  von  der  anderen  Seite  seines  Wesens, 
das  sich  in  dem  unheimlichen  Vathek-Roman  offenbarte,  den  der 
Einundzwanzigjährige  französisch  geschrieben  [1787],  der  Rev. 
Samuel  Henley  ins  Englische  übersetzt  hatte  [1786]  und  der  nach 
ähnlichen  bibliographischen  Schicksalen  wie  Friedrich  des  Großen 
Antimachiavell  der  Ausgangspunkt  einer  Uterarischen  Bewegung 
wurde,  um  die  sich  aber  ihr  Verfasser  nicht  weiter  kümmerte.  Er 
baute  sich  ein  Schloß  in  Ciutra,  das  Lord  Byron  im  „Childe  Harold^' 
verherrlichte,  und  füllte  es  mit  Büchern  und  Kunstwerken.  1784 
bis  1790  hatte  Beckford  in  Paris  den  Grundstock  seiner  Bücher- 
sammlungen erworben,  wenn  man  davon  bei  einem  Bibliophilen 
reden  kann,  der  ebenso  gern  Bücher  kaufte  wie  fortgab  und  der 
schon  von  seinem  Vater  eine  bedeutende  Bücher  Sammlung  zum  Ge- 
schenk erhalten  hatte.  Es  waren  die  glücklichen  Jahre  seiner  jungen 
Ehe  mit  Lady  Margaret  Gordon,  einer  Tochter  des  Earl  of  Aboyne, 
gewesen,  die  er  1783  geheiratet  hatte.  Als  die  Gattin  1786  starb, 
suchte  er  den  Schmerz  um  die  Verlorene  in  langen  ruhelosen  Wander- 
fahrten zu  vergessen,  um  erst  1796  nach  England  zurückzukehren 
und,  menschenscheu  geworden,  auf  seinem  großen  Grundbesitz  in 
Wiltshire  Fonthill  Abbey  zu  errichten,  einen  gotischen  Prachtbau. 
Erhebliche  Verluste,  die  ihn  trafen,  veranlaßten  Beckford,  die  Abtei 
Fonthill  mit  ihren  Sammlungen  1822  für  330000  Pfund  an  den  Speku- 
lanten Farquhar  zu  verkaufen,  der  auch  die  20000  Bände  umfassende 
Büchersammlung  1823  dort  durch  den  Auktionator  Mr.  PhilUps-Lon- 
don,  New  Bond  Street,  in  zwanzig  Tagen  zur  Versteigerung  brachte. 

441 


ENGLAND 

Die  nach  und  nach  wieder  großartig  vermehrten  Reste  seiner 
ersten  Bibliothek  brachte  Beckford  jetzt  in  seinem  neuen  Wohnsitz 
Bath  unter.  Hier  hatte  er,  wie  Vathek  in  seiner  Erzählung,  auf  dem 
nahe  gelegenen  Lansdowne  Hügel  einen  130  Fuß  hohen  Turmbau 
errichtet.  Hier  überlebte  er  die  Menschen  und  seine  Zeit.  Seine 
Bücher  ließ  sein  Schwiegersohn  Alexander  Douglas,  [seit  1816] 
zehnter  Duke  of  Hamilton  [1767—1852]  in  sein  Londoner  Stadt- 
haus, den  Hamilton  Palast,  überführen.  Der  Herzog,  der  selbst 
als  Marquis  of  Douglas  die  dort  aufgestellte  Familienbibliothek, 
insbesondere  im  Fache  der  Prachtwerk-Theologie,  erheblich  vermehrt 
hatte,  wollte  zwar,  für  £  30000  die  Beckford-Sammlung  an  den 
Buchhändler  Bohn  verkaufen.  Da  sich  aber  seine  Gemahlin  nicht 
von  den  Büchern  ihres  Vaters  trennen  wollte,  blieb  die  Beckford 
Library  vorläufig  zusammen,  und  auch  der  elfte  Herzog,  William  Alex- 
ander Anthony  Archibald  [1811—1863]  bemühte  sich  noch  um  die 
Ergänzung  der  ererbten  Büchersammlungen,  die  sein  Sohn  1882 
zum  Verkauf  bringen  mußte.  Am  30.  Juni  1882  begann  bei  Sothebys 
die  Versteigerung  der  Beckford  Library,  die  mit  ihrem  vierten  Teile 
im  November  1883  beendet  wurde  und  für  9837  Nummern  jf  73551 
brachte;  eine  überraschend  hohe  Summe,  die  durch  die  vorzügUche 
Erhaltung  der  Beckfordbücher  gerechtfertigt  war  und  dadurch, 
daß  sich  in  ihr  auch  viele  Bände  berühmter  Abstammung  befanden 
und  ihre  alten  und  neuen  Bucheinbände  sie  ebenfalls  auszeichneten. 
Die  Hamilton  Library  selbst,  die  1884  in  acht  Maitagen  gleichfalls 
bei  Sothebys  unter  den  Hammer  kam,  erzielte  für  2136  Nummern 
nur  dB  12892.  Ihr  kostbarster  Bestandteil,  die  Handschriften,  war 
in  der  Hauptsache  für  £  75000  von  der  Preußischen  Regierung  an- 
gekauft worden.  Doch  kam  ein  Rest,  außer  den  an  das  British 
Museum  übergegangenen  Urkunden  zur  schottischen  Geschichte,  im 
Mai  1889  bei  Sothebys  für  £  15189  zum  Verkauf. 

Der  bescheidenere  Platz,  den  die  Bücherkammer  in  der  Burg- 
romantik gotischer  Umwelt  hatte,  in  der  die  Schloßherren  diesen 
Raum  gern  ungestört  ihren  Kaplänen- Schrift  gelehrten  überließen, 
hat  auch  in  den  Romanen  Scotts  keinen  Helden  hervortreten  lassen, 
der  vom  Bücherturm  aus  das  Land  seines  Schicksals  übersah.    [Wie 

442 


19.  JAHRHUNDERT 

denn  überhaupt,  es  könnte  die  Bibliophilen  nachdenklich  stimmen, 
in  der  ganzen  klassischen  Literatur  nur  ein  ihnen  gleichgesinnter 
Heros  weiter  lebt,  Don  Quixote.]  Aber  alte  Bücher  und  ihre  Lieb- 
haber sind  trotzdem  in  den  Romanen  Scotts  nicht  ganz  unvergessen. 
Da  sind  die  berühmten  Zeilen,  die  Edwards  Heißhunger  und  Über- 
sättigung in  der  Waverley-Honour  Library  schildern;  jene  Zeilen, 
die  fast  einen  Vergleich  mit  dem  Dorian  Gray-Leser  Wildes  heraus- 
fordern. Da  ist  Dominie  Sampson,  der  die  Büchersammlung  des 
Bischofs  ordnet  [Guy  Mannering].  Und  das  Gedenken  der  guten  alten 
Zeit,  in  der  die  alten  Bücher  noch  billig  waren,  wenn  man  sie  nur 
zu  finden  verstand,  im  ,Antiquary*  in  dem  prächtigen  Bibliophilen- 
porträt  Mr.  Jonathan  Oldbucks.  Aber  alles  das  ist  weit  entfernt  von  der 
Begeisterung  des  Richard  de  Bury  und  mit  ironischem  Lächeln  wird 
übersehen,  daß  Bibliophilie  noch  etwas  anderes  sein  kann  als  book 
hunting  sport  oder  comfort.  Besonders  innig  scheint  das  Verhältnis 
Sir  Walters  zu  seinen  Büchern  nicht  gewesen  zu  sein;  sie  waren  sein 
notwendiges  Werkzeug  und  in  Abbotsford  auch  ein  Mittel  zur  Re- 
präsentation des  Romantik  Schottlands. 

Sir  Walter  Scott  [1771  —  1832]  hat  leichthin  wohl  auch  einmal 
das  Bibliomanenidol  der  Quartanten  aus  der  Zeit  der  Elizabethan 
Dramatists  ironisiert  und  mit  ihm  jenen  erlesenen  Kreis  von  An- 
betern der  gothic  lette  books,  der  sich  eben  erst  im  Roxburghe  Club 
zusammengeschlossen  hatte.  [Die  Geistererscheinung  Betty  Barnes', 
in  dem  Introductory  Epistle  der  „Fortunes  of  Nigel".]  Aber  er  war 
doch  allzusehr  Sammler  und  Schotte,  um  nicht  dem  Beispiel  des 
Londoner  Vereins  zu  folgen  und  1822  eine  ähnliche  schottische 
Gesellschaft  zu  gründen,  den  ,Bannatyne  Club*,  dessen  Aufgabe  es 
sein  sollte,  Antiquitäten  der  Historie  und  Literatur  Schottlands  für 
die  Mitglieder  neu  zu  drucken.  Den  Namen  führte  der  Bannatyne 
Club  von  jenem  wackeren  Manne,  der  im  furchtbaren  Jahr  1568 
abschreibend  und  aufbewahrend  aus  dem  Büchersturm,  der  damals 
Schottland  durchtoste,  ein  Retter  vieler  alter  schottischer  Werke  ge- 
wesen war.  Der  erste  Präsident  des  Clubs  wurde  selbstverständlich 
Sir  Walter  und  er  hat  ihm  1823  bei  Gelegenheit  des  ersten  Jahres- 
essens auch  ein  langes  launiges  Lied  gewidmet:    „The  Bannatyne 

443 


ENGLAND 

Club,  or  one  voIume  more".  Eine  ausführliche  Beschreibung  von 
Abbotsford  um  1850  gibt  Theodor  Fontane  [in  seinem  Werke:  Aus 
England  und  Schottland.  Berlin,  1900,  zuerst  in:  Jenseit  des  Tweed 
Berlin,  1860].  Der  Eindruck,  den  der  deutsche  Dichter  von  der 
„Romanze  in  Stein  und  Mörtel**  umfing,  war  nicht  gerade  über- 
wältigend. Die  berühmte  Architektur-Poesie  erschien  ihm  gekünstelt, 
das  Bauwerk  mit  allen  seinen  in  ein  Museum  passenden  Einzelheiten 
blieb  für  ihn  ohne  rechte  Gesamtwirkung.  Aus  der  Halle  trat  Fon- 
tane in  Walter  Scotts  Arbeitszimmer.  „Die  Mehrzahl  seiner  Ro- 
mane wurde  hier  entweder  komponiert  oder  niedergeschrieben. 
Das  Zimmer  macht  durchaus  den  Eindruck  des  Wohnlichen  und 
Behaglichen.  Die  Möblierung  und  Ausstattung  ist  gediegen,  aber 
nicht  reich  und  überladen.  Der  Arbeitstisch  und  ein  lederüber- 
zogener Armstuhl  stehen  noch  an  alter  Stelle;  einige  Nachschlage- 
bücher sind  dicht  zur  Hand  und  eine  leichte  Gallerie  von  Guß- 
eisen (tracery  work)  umläuft,  in  Mittelhöhe  des  Zimmers,  drei 
Seiten  desselben  und  erleichtert  das  Herabnehmen  der  Bücher.  — 
Nischenartig  abgezweigt  von  dem  Studierzimmer  und  kaum  so 
groß  wie  eine  Schiffskoje  befindet  sich  neben  demselben  eine  Art 
Kabinett,  worin  .  .  .  unter  einem  Glaskasten,  das  letzte  Sommer- 
kostüm Sir  Walters  aufbewahrt  wird.  Es  ist  sehr  elegant  und  zeigt, 
neben  vielem  anderen,  wie  großes  Gewicht  der  Verstorbene  auf 
Äußerlichkeiten  legte.  .  .  .  Wir  verließen  die  Cabine  .  .  .,  um  nun- 
mehr in  das  Bibliothekzimmer  einzutreten.  —  Die  Bibliothek  ist 
ein  sehr  geräumiges  und  reich  verziertes  Zimmer,  für  dessen  Dimen- 
sionen die  20000  (meist  sehr  schön  gebundenen)  Bände  sprechen, 
die  mit  ihren  goldbedruckten  Lederrücken  so  sauber  geordnet  um 
einen  herstehen,  als  befände  man  sich  in  der  berühmten  Lese- 
Rotunde  des  britischen  Museums.  Viele  dieser  Bände  sind  außer- 
ordentlich selten  und  kostbar;  ein  wesentlicher  Bruchteil  der  ganzen 
Bibliothek  besteht  aus  Werken  über  schottische  Altertümer  und 
Hexengeschichten,  über  dem  Kamin  befindet  sich  das  Porträt  von 
Sir  Walters  ältestem  Sohn,  dem  .  .  .  Husaren- Offizier;  die  Züge  sind 
fein,  aber  weichlich,  fast  kränklich,  und  der  kecke  Husarenschnurr- 
bart, den  man  bekanntlich  eben  so  gut  im  Ausdruck  des  Auges  wie 

444 


19.  JAHEHUNDEßT 

über  der  Oberlippe  haben  kann,  fehlt  diesem  feinen  Gesichtchen 
an  beiden  Stellen  gleich  sehr.  In  einer  der  Ecken  steht  eine  Silber- 
urne auf  einem  Porphyr-Postament,  die  Urne  selbst  ein  Geschenk 
von  Lord  Byron.  Außerdem  befinden  sich  die  Büsten  Shakespeares 
und  Sir  Walters  im  Zimmer,  die  letztere  (von  der  Hand  Chantreys) 
natürlich  erst  nach  seinem  Tode  aufgestellt.**  Das  Dichterschloß, 
den  Rahmen  der  Sammlungen  Sir  Walter  Scotts,  hielt  Fontane,  ob- 
schon  es  an  einem  Reisewege  lag,  auf  dem  die  romantischen  Spuren 
führten,  also  nicht  für  eine  gelungene  Dichtung  seines  Schöpfers.  Die 
Gründe,  die  er  anführte,  sind  auch  gültig  für  die  sonstigen  Anlagen 
der  Bauromantik  Englands  in  dem  Jahrhundert  1750/1850,  die 
,mittelalterlich*  als  Museum  eines  Sammlers  ausgestaltet,  trotzdem 
sie  bis  in  die  Einzelheiten  mit  echten  Stücken  ausgestattet  waren, 
eine  echte  Gesamtwirkung  ihrer  romantischen  Stilisierung  nicht  er- 
reichen konnten.  Und  wenn  wir  von  Alt-Englands  Bücherschlössern 
reden  wollen,  dann  möchten  wir  lieber  an  die  Büchereigalerien  und 
-säle  der  berühmten  Familiensitze  denken,  die  einen  geschichtlichen 
Namen  tragen.  Allerdings,  auch  diejenigen  von  ihnen,  die  als 
Bibliophilen-Bibliotheken  weitbekannt  wurden,  sind  fast  niemals 
Familienbibliotheken  gewesen,  sondern  das  Werk  einzelner  Sammler 
und  nach  deren  Tod  dann  wieder  zerstreut  worden.  Die  in  ihrem 
Bestände  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  überlieferten  und  vervoll- 
kommneten geschlossenen  großen  Privatbibliotheken  waren  auch  in 
England  Seltenheiten  und  beinahe  mehr  noch  als  in  anderen  Ländern, 
weil  hier  die  Büchersammlungen  früh  schon  in  den  Erbauseinander- 
setzungen als  beachtenswerte  Vermögenswerte  behandelt  wurden. 
Dabei  war  sehr  wenig  Romantik.  Etwas  anderes  war  es  jedoch, 
daß  unter  den  englischen  Edelleuten  von  Rang  und  Vermögen  des 
achtzehnten  und  neunzehnten  Jahrhunderts  sich  einige  Buchfreunde 
fanden,  denen  es  gelang,  Liebhaberbüchereien  höchsten  Wertes  zu 
vollenden,  die  dann  freilich  meist  von  ihren  Nachkommen  aufgelöst 
worden  sind.  Da  mag  es  wohl  eine  besonders  günstige  Schicksals- 
fügung zu  nennen  sein,  daß  die  geschlossenste,  die  am  meisten 
planmäßig  ausgebaute  dieser  BibUophilen  -  Bibliotheken  erhalten 
blieb,     deren    Mitschöpfer,    ihr   Bibliothekar  Reverend   Thomas 

445 


ENGLAND 

FrognallDibdin  [1776-1847],  der  „Callot  der  Bibliographie", 
gewesen  ist.* 

Im  ersten  Viertel  des  neunzehnten  Jahrhunderts  ist  die  eng- 
lische Liebhaberbücherei  entstanden,  die  A.  A.  Renouard  mit  Recht 
als  die  damals  prachtvollste  und  reichhaltigste  der  Druckwerk- 
sammlungen einer  Privatbibliothek  in  Europa  rühmen  sollte.  Den 
Ehrgeiz  ihres  Sammlers,  George  John  [2],  Earl  of  Spencer 
[1758—1834]*  förderten  außer  seinen  bedeutenden  Mitteln  auch  die 
seinem  Vorhaben  günstigen  Zeitumstände;  besonders  aber  auch  die 
Mitarbeit  seines  Bibliothekars  Dibdin,  die  die  literarische  Tradition 
dieser  Bibliotheca  Spenceriana  schuf.  Seit  dem  alten  Hugh  Le 
Despenser  und  seiner  Library  of  Bokes  sind  die  Buchfreunde  und 
Büchereien  der  der  Familie  Churchill  sich  verschwägernden  Spencer- 
Familie  zahlreich  gewesen.  Und  nicht  weniger  als  drei  weltbekannte 
Sammlungen  sind  mit  dem  Spencer-Namen  verknüpft,  die  Althorp 
Library,  die  Blenheim  Library  Charles  Spencers,  des  dritten 
Earl  of  Sunderland  [1674—1722],*  die  ein  Jahrhundert  früher 
begründet  war  und  ein  Jahrhundert  später  versteigert  wurde,  und 
die  White  Knights  Library  George  Spencers,  des  fünften 
Duke  of  Marlborough  [1766—1844],  deren  allzu  kurzer  Bestand 
ihren  Roxburghe  Säle  Triumph  nur  einige  Jahre  überdauert  hat. 
Die  sogenannte  Sunderland  Library,  auf  deren  Ausbau  der  Staats- 
sekretär Wilhelms  von  Oranien,  Charles  Spencer,  viel  Geld,  Mühe 
und  Zeit  verwendet  hatte  —  er  kaufte  für  sie  auch  Hadrian  Bever- 
lands  Bibliothek  und  einen  großen  Teil  von  Petaus  Büchern  —  war 
in  dem  Familiensitze  [seit  1508]  der  Spencer,  Althorp  in  Nor- 
thumberland,  begründet  und  später  von  Charles  Spencer  nach  dem 
Londoner  Stadthause  in  Piccadilly  überführt  worden.  Bei  dessen 
Tode  enthielt  sie,  außer  einigen  erlesenen  Handschriften,  etwa 
20000  Druckwerke  und  sie  ist  seitdem  kaum  vermehrt,  dagegen  an 
ihrem  letzten  Aufstellungsorte  sehr  verwahrlost  worden,  so  daß 
die  ihr  entstammenden  Bände  meist  die  Spuren  dieser  Vernach- 
lässigung zeigen.  Zwar  war  ihre  Anordnung  in  Blenheim,  wohin  sie 
1749  gebracht  wurde,  als  Charles,  [3]  Earl  of  Sunderland,  [2]  Duke 
of  Marlborough  wurde,  glanzvoll.    Sie  stand  in  einem  der  größten 

446  *  Abb.  28 1, 303—306, 309—3 1 1 


19.  JAHRHUNDERT 

Büchersäle  mit  herrlicher  Aussicht.  Nur  daß  durch  die  hohen  Fenster 
[ähnlich  wie  in  der  Bibliotheksgalerie  Friedrich  des  Großen  im  Neuen 
Palais  in  Potsdam]  allzustark  das  Sonnenlicht  hereinstrahlte  und 
die  Bandrücken  ausbleichte.  Eine  Mahnung,  die  Bücherpflege  nicht 
über  dem  Büchereiprunk  zu  vergessen.  Die  Blenheim  Library,  für  die, 
nach  Oldys,  der  König  von  Dänemark  der  Erbin  Lord  Sunderlands, 
der  Duchess  Sarah  of  Marlborough,  vergeblich  £  30000  geboten 
hatte,  mußte  vom  achten  Herzog  von  Marlborough  notgedrungen 
verkauft  werden  und  ihre  von  Messrs.  Puttick  &  Simpson  im  Dezember 
1881  begonnene,  im  März  1883  beendete  Versteigerung,  deren  Erlös 
jf  56581,  6  s.  betrug,  wurde  für  den  Altbüchermarkt  der  Beginn  einer 
neuen  Ära  der  großen  Auktionen  und  großen  Preise. 

In  Althorp  war  zum  Ersatz  der  nunmehrigen  Blenheim  Library 
um  die  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  die  aus  dem  sechzehnten 
stammende  und  bis  dahin  in  Wormleighton,  Warwickshire ,  ver- 
wahrte Familienbibliothek  aufgestellt  und  von  John,  dem  jüngeren 
Bruder  Charles',  und  erstem  Earl  of  Spencer  vermehrt  worden;  unter 
anderem  durch  die  5000  Bände  umfassende  Büchersammlung  des 
Headmaster  von  Eton  Dr.  George.  So  fand  George  John  [2] 
Earl  of  Spencer,  als  er  am  31.  Oktober  1783  die  Titel  und  das 
Vermögen  seines  Vaters  erbte,  bereits  die  ersten  Grundlagen  der  von 
ihm  gesammelten  Althorp  Library  vor,  auf  denen  er  weiterbaute. 

Aber  die  eigentliche  Begründung  der  berühmten  Althorp  Li- 
brary ist  doch  eigentlich  der  Erwerb  der  Reviczki-Sammlung  im 
Jahre  1790  gewesen.  Sie  machte  mit  einemmal  einen  Hauptteil  der 
Bibliothek  des  Earl  of  Spencer  fast  vollständig  und  bestimmte  end- 
gültig deren  planmäßigen  Ausbau.  Karl  Emerich  Alexander 
[seit  1783  ungarischer]  Graf  Reviczki  von  Rewißnie  [jetzige 
Schreibweise  Reviczky  de  Revisnye]  [1737 — 1793]  könnte  den  be- 
deutendsten Bibliophilen  Wiens,  wo  er  geboren  wurde  und  gestorben 
ist,  zugezählt  werden,  hätte  ihn  nicht  seine  diplomatische  Laufbahn, 
der  eigene  Reisen  vorangegangen  waren,  als  [seit  1779]  K.  K.  Ge- 
sandter in  Warschau,  Berlin,  London  der  Heimat  ferngehalten.  Den 
antiken  Klassikern  galt  die  ganze  Liebe  des  bewunderten  Biblio- 
gnosten,  den  ein  eminentes  Sprachtalent  auszeichnete,  das  ihn  außer 

447 


ENGLAND 

den  meisten  europäischen  auch  eine  Anzahl  orientalischer  Sprachen 
beherrschen  ließ.  Durch  seine  Verbindungen  mit  Sir  William  Jones 
auch  mit  Lord  Spencer  bekannt  geworden,  konnte  er  diesem  das 
Angebot  seiner  Büchersammlung  für  eine  einmalige  Zahlung  von 
£  1000  und  eine  Jahresrente  von  £  500  machen,  das  der  Lord  an- 
nahm und  das  ihm  für  £  2500  eine  der  ausgezeichnetsten  europäischen 
Bibliotheken  überlieferte.  Der  Graf  Reviczky  hatte  hauptsächlich 
Ausgaben  der  griechischen  und  römischen  Schriftsteller  gesammelt  und 
dabei  eine  Reihe  ihrer  Editiones  principes  und  primariae  zusammen- 
gebracht, die,  wie  die  unter  dem  Pseudonym  Periergus  Deltophilus 
1784  in  einem  Berliner  Privatdruck  bekannt  gemachte  Beschreibung 
seiner  ,Bibliotheca  graeca  et  latina*  zeigt,  in  solcher  annähernden 
Vollständigkeit  kaum  jemals  in  einer  Privatbibliothek  vorhanden 
gewesen  waren.  Wozu  noch  kam,  daß  der  Graf  auch  erfolgreich  dem 
Bibliophilensport  des  tadellosesten  Exemplares  gehuldigt  hatte;  ein 
Verehrer  der  Charta  maxima  und  der  Charta  membranea  gewesen 
war,  die  auf  seinen  Bücherbrettern  die  höchsten  und  letzten  Triumphe 
einer  bibliographischen  Philologieeleganz  gefeiert  hatten. 

Nachdem  Lord  Spencer  sich  1807  aus  dem  Staatsdienste  zurück- 
gezogen hatte,  konnte  er,  von  Dibdin  unterstützt,  alle  seine  Kräfte 
einem  Werke  widmen,  an  dem  vielleicht  mehr  als  sein  Fleiß  und  seine 
Gelehrsamkeit  seine  Freigebigkeit  beteiligt  waren.  Das  aber  doch  sein 
Werk  bleibt  und  ihn  heute  noch  lobt,  weil  er  es  verstanden  hat,  die 
Absichten,  die  ihn  zu  seiner  Schöpfung  bestimmten,  ausdauernd 
zu  verwirklichen.  Die  vornehme  Art,  in  der  er  Bücher  erwarb,  und 
auch  das  ist  kein  geringes  Lob,  kennzeichnet  eine  kleine  Geschichte. 
Als  er  einmal  feststellte,  daß  ein  bei  Payne  gekauftes  Buch  ein  Caxton 
sei,  ließ  er  dem  überraschten  Buchhändler  nachträglich  £  50  an- 
weisen. Kein  Wunder,  daß  sich  auch  die  Buchhändler  für  einen 
solchen  Kunden  mühten,  der  bei  aller  Freigebigkeit  keineswegs  ge- 
schäftsunkundig verfuhr  und  durchaus  nicht  in  blinder  Sammelleiden- 
schaft jeden  ihm  abverlangten  Preis  bezahlte.  Lord  Spencer  ging 
bei  dem  Auf-  und  Ausbau  seiner  Büchersammlung  vielmehr  sehr 
planmäßig  vor;  ließ  für  seine  Zwecke  England  und  den  Kontinent 
bereisen  und  ersetzte  ständig  die  schlechten  Exemplare  seiner  Biblio- 

448 


19.  JAHRHUNDERT 

thek  durch  bessere,  dabei  auch  unvollständige  Exemplare  nicht  zu- 
rückweisend, um  allmählich  ein  schönes,  vollständiges  Exemplar 
zusammenzustellen.  Seine  zahlreichen  Dubletten  suchte  er  im 
Tauschverkehre  oder  in  regelmäßigen,  zumeist  von  Evans  geleiteten, 
Versteigerungen  zu  verwerten.  Seine  Beziehungen  gestatteten  dem 
Lord,  für  seine  Büchertauschgeschäfte  Wege  einzuschlagen,  die  nicht 
allen  offen  standen.  Er  gab  gern  den  kleineren  öffentUchen  und  halb- 
öffentlichen Sammlungen,  die  ihre  alten  Scharteken  los  werden 
wollten,  einen  sehr  reichlichen  Ersatz  in  den  von  ihnen  gewünschten 
neuen  Werken.  Oder  aber  er  brachte  auch  Verhandlungen  zum  Ab- 
schluß, die  Bücheropfer  verlangten,  wie  ein  Tauschgeschäft  mit  der 
Königlichen  Bibliothek  in  Stuttgart,  das  Dibdin  eigens  nach  Würt* 
temberg  führte  und  dessen  Preis  zwei  Vergilwiegendrucke  wurden, 
an  deren  Stelle  die  Stuttgarter  Bibliothek  Bereicherungen  ihres 
Hauptfaches,  der  Theologie,  empfing.  Als  Lord  Spencer  1813  die 
Büchersammlung  StanesbyAlchornes,  die  er  1806  ausgeschlagen 
hatte,  von  ihrem  neuen  Besitzer  John  of  Hafod  erwarb,  geschah 
das  in  der  Hauptsache  nur,  um  seine  englischen  Frühdrucke  durch 
einige  erlesenste  Stücke  zu  bereichern.  Aber  bereits  im  gleichen 
Jahre  kam  der  größere  für  ihn  nicht  verwendbare  Teil  dieser  Samm- 
lung mit  anderen  ausgeschiedenen  Stücken  auf  seiner  vierten  Du- 
blettenauktion durch  Evans  zum  Verkauf,  und  die  187  Nummern 
der  Versteigerung  wurden  mit  £  1769  bezahlt.  Eine  ähnliche  ge- 
schäftliche Kaltblütigkeit,  die  letzten  Endes  das  Ergebnis  des 
richtigen  Sammlergrundsatzes  war,  die  Auswahl,  nicht  die  Zahl  bilde 
eine  Liebhaberbücherei,  konnte  den  Lord  auch  auf  seiner  biblio- 
graphischen Kontinentalreise  fördern,  die  er  1819  mit  seinen  Fehl- 
listen unternahm,  freilich  nicht  als  ein  dem  guten  Glück  allein  ver- 
trauender Schwärmer.  Er  kannte  die  Bücherlager  und  die  Bücher- 
sammlungen des  Kontinentes  schon  aus  seinen  frühesten,  mit  seinem 
Erzieher,  dem  Orientalisten  William  Jones,  dorthin  unternommenen 
Reisen.  Der  Bücherreise  Höhepunkt,  der  Ankauf  der  Bibliothek  des 
Duca  di  Cassano-Serra  in  Neapel,  die  durch  ein  1807  gedrucktes 
Wiegendruckverzeichnis  wohl  bekannt  geworden  war,  war  für  ihn 
durchaus  keine  Überraschung.    Denn  er  hatte  vergeblich  lange  vor- 

BOOENG    89  449 


ENGLAND 

her  für  die  drei  Werke  der  Sammlung  stattliche  Summen  geboten, 
auf  die  es  ihm  ankam  und  als  er  ihretwegen  sich  die  ganze  Sammlung 
zu  eigen  gemacht  hatte,  konnte  er  aus  dem  Gedächtnis  noch  in  Neapel 
den  Plan  der  Dublettenauktion  entwerfen,  die  1821  stattfand  und 
deren  Hauptbestandteil   die  Bücher   des  Herzogs  wurden.    So  er- 
gänzte sein  freigebiges,  frisches  Zugreifen  ständig  ein  klares  Urteil 
über  die  Verwendung  seiner  Mittel,  seiner  Bestände  und  seines  Geldes, 
das  für  eine  derartige  großzügige  Sammeltechnik  unerläßlich  wird. 
Lord  Spencer  warf  nicht  das  Geld  mit  vollem  Händen  aus  dem  Fenster 
und  verschleuderte  nicht  die  Bücher,  die  er  abstoßen  mußte.    Darin 
kann  er  geringeren  Sammlern  vorbildlich  sein  wie  überhaupt  in  der 
überlegten  Art,  die  ebenso  in  der  Ausnutzung  des  Zufalls,  den  er  zu 
finden  wußte,  sich  bewies,  wie  sie  auch  in  der  bedachtsamen  Ergän- 
zung der  Lücken  den  sicheren  UberbUck  nicht  verlor.   Beschränkung 
auf  bestimmte  Sammelgebiete,  auf  beste  Abzüge  bester  Ausgaben  bester 
Bücher:  das  war  ein  Wahlspruch,  der  sich  für  die  Althorp  Library 
bewährte.    Sie  war  bereits  um  1820  mit  dem  verhältnismäßig  ge- 
ringen Kostenauf  wände  von   etwa  £  50000  nach  ihres  Begründers 
Plan  vollendet.    Bis  zu  seinem  Tode  fanden  sich  denn  auch  nur  noch 
seltene   Gelegenheiten,   die   Bücherei,    die   damals   ungefähr  41500 
Bände  barg,  durch  erhebliche  Neuerwerbungen  zu  vervollständigen. 
Das    Sammlergeschick   und   das    Sammlerglück   Lord   Spencers   ist 
seine  zähe  Zielsicherheit  gewesen.    Mit  ihrem  ganzen  Bestände,  der 
nach  des    Sammlers   Tode   sich    noch  vermehrt   hatte,    wurde  die 
Althorp  Library  1892  von  Mrs.   John  Ryland  aus  dem  Familien- 
besitz des  Enkels  Lord  Spencers  für  eine  Viertelmillion  Pfund  er- 
worben und  dem  von  ihr  inmitten  der  Fabrikschornsteine  Manchesters 
1889  zur  Erinnerung  an  ihren  Gatten  errichteten  Prachtbau  der 
John  Rylands  Library  zugeführt;  einer  Bibliotheksstiftung,  der 
sie  1901  die  Manuskriptkollektion  des  Lord  Crawford,  die  die  Druck- 
werke des  Althorp  Library  wertvoll  ergänzte,  hinzufügte. 

Alexander  William,  [25]  Earl  of  Crawford  [1812-1880] 
hatte  von  seinem  Vater  Earl  Alexander  3000  Bände  ererbt,  die 
dieser  als  Heiratsgut  von  Baron  Muncaster  erworben  hatte  und  die 
nach  seinem  Plan  den  Kern  einer  Bibliotheca  Crawford-Linde- 

450 


19.  JAHRHUNDERT 

siana  bilden  sollten,  deren  Gebäude  1830  in  Haigh-Hall,  Lancashire, 
noch  von  ihm  errichtet  wurde;  deren  inneren  Ausbau  indessen  erst 
sein  Sohn  zu  einem  ersten  Abschlüsse  bringen  konnte.  Die  Lindsay, 
Grafen  Crawf ord  of  Balcarres,  hatten  ihre  im  siebzehnten  Jahrhundert 
von  John  Lindsay  Lord  Menmuir  in  seinem  Schlosse  Balcarres  am 
Forth  begründetete  Familienbibliothek  nicht  immer  mit  Sorgfalt  ge- 
hütet und  in  Verfallszeiten  waren  wichtige  Teile  der  alten  Samm- 
lungen zerstreut  worden,  darunter  die  1712  von  Colin  Earl  of  Bal- 
carres an  die  Advocates  Library  in  Edinburgh  verkauften  histori- 
schen Dokumente,  die  der  Begründer  der  Bibliothek  zusammen- 
gebracht hatte:  die  sogenannten  Balcarres  Papers.  Auch  der  Be- 
stand der  glanzvoll  und  großzügig  von  dem  fünfundzwanzigsten 
Earl  erneuerten  Büchersammlung  hatte  ihren  Schöpfer  nicht  allzu- 
lang überdauert.  1887  und  1889  wurden  durch  zwei  Versteigerun- 
gen [die  für  3251  Nummern  £  28397  erlösten]  bedeutende  Teile  auch 
der  Druckwerkereihen  abgetrennt.  Trotzdem  aber  blieb  die  neu- 
ergänzte Sammlung  mit  ihren  100000  Bänden  und  6000  Hand- 
schriften, mit  ihren  Einblattdrucken  und  sonstigen  Erzeugnissen  der 
ephemeren  historischen  Literatur  eine  Privatbibliothek  höchsten 
Ranges.  Und  wenn  sie  trotz  ihrer  Vorzüge,  trotz  des  Willens  von  drei 
begeisterten  Buchfreunden,  sie  mit  allem  Reichtum  auszugestalten, 
anderen,  geringeren  und  kurzlebigeren  Sammlungen  verglichen, 
freilich  zu  Unrecht,  weniger  bekannt  geworden  ist,  so  liegt  das  nicht 
zum  wenigsten  an  ihrer  allzuoft  unterbrochenen  Tradition. 

In  dem  Verwandtenkreise  des  Earl  Spencer  war  neben  dem 
Duke  of  Marlborough  der  erfolgreichste  Büchersammler  William 
George  Spencer  Cavendish,  [6]  Duke  of  Devonshire  [1790 
—  1858]  gewesen.  Die  Cavendish- Familie  hatte  in  Chatswort h, 
Derbyshire,  und  im  Devonshire  House  eine  Sammlung,  in  der  sich 
auch  die  Bücher  von  Henry  Cavendish,  teilweise  die  von  Thomas 
Hobbes  und  der  alten  Bibliothek  der  Bolton  Abbey  [Yorskhire] 
zusammenfanden.  Durch  Ankäufe  des  ersten,  1707  gestorbenen, 
Herzogs  William  auf  französischen  Auktionen  und  durch  den  dritten 
Herzog  gleichen  Namens  [1698—1755]  war  sie  mit  wertvollem  Bücher- 
gut vermehrt  worden.    Ihr  eigentlicher  Begründer  aber  ist  der  sechste 

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ENGLAND 

Herzog)  der  unter  anderem  auch  für  £  2000  die  schöne  Sammlung  von 
Bühnenstücken  des  berühmten  Schauspielers  John  Philip  Kemble 
[1757 — 1823]  erwarb;  wie  denn  überhaupt  der  besondere  Vorzug  der 
Chatsworth  Library,  deren  Auflösung  im  zwanzigsten  Jahrhundert 
die  amerikanischen  Liebhaberbüchereien  mehrte,  das  altenglische 
Drama  war,  dazu  ihr  Reichtum  an  englischen  Wiegendrucken. 

Das  Beispiel  der  Chatsworth  Library,  die  Geschichte  der  meisten 
großen  Privatbibliotheken  Englands  im  achtzehnten  und  neun- 
zehnten Jahrhundert  läßt  die  Gründung  des  British  Museum  als 
einer  nationalen  Schutzkammer  geistiger  und  künstlerischer  Werte 
erst  recht  würdigen.  Wie  viele  Bücher  und  Büchereien  hat  es  nicht 
in  sich  aufnehmen  können,  die  sonst  dem  Lande  verloren  gegangen 
wären.  Allerdings,  die  Bedeutung,  die  seine  BibUothek  für  das  British 
Museum  hatte,  ist  erst  seit  1835  hervorgetreten,  nachdem  in  diesem 
Jahre  ein  parlamentarischer  Ausschuß  sich  mit  der  Reorganisation 
von  dessen  Sammlungen  beschäftigt  und  hierbei  auch  der  bis  dahin 
nur  als  einen  Anhang  der  Altertums-  und  Naturwissenschaften- 
sammlungen geltenden  Büchersammlung  eine  selbständige  Stellung 
verlieh,  die  ihr  gegeben  zu  haben,  das  Verdienst  Antonio  Panizzis 
[1797—1879]  war.  Als  er  1837  zum  Keeper  of  the  printed  books  er- 
nannt wurde,  zählte  die  Bibliothek  167000  Bände,  als  er  das  Amt 
des  Oberbibliothekars  niederlegte,  1865,  fast  eine  halbe  Million,  die 
in  dem  1857  vollendeten  großen  Lesesaal  dank  einer  geregelten  Ver- 
waltung leicht  zugänglich  gemacht  waren.* 

Unter  allen  Gaben,  die  die  Bibliothek  des  British  Museum  im 
neunzehnten  Jahrhundert  erhielt,  ist  keine,  soweit  es  sich  um  eine 
ganze  Privatbibliothek  handelte,  wertvoller  gewesen  als  die  Grenville 
Library.  Sir  Thomas  Grenville  [1755—1846],*  der  letzte  „Chief- 
Justice  in  Eyre**,  hatte  mit  einem  Aufwände  von  £  54000  eine  Lieb- 
haberbücherei von  20240  Handschriften  und  Druckwerken  gesam- 
melt, die  zu  den  glänzendsten  ihrer  Art  gehörte.  Ihr  Ruhm,  die 
besten  Werke  aller  bedeutender  Autoren  in  den  schönsten  Ausgaben 
der  vorzüglichsten  Auflagen  zu  enthalten,  eine  ideale  Liebhaber- 
bücherei gewesen  zu  sein,  war  wohl  begründet.  Eine  ähnliche  ge- 
schlossene Sammlung  fiel  dem  Museum  erst  wieder  mit  dem  Ver- 

452  *Abb.3o8, 317 


19.  JAHRHUNDERT 

mächtnis  von  H.  S.  Ashbees  [1834—1900]*  zu.  Dieser,  ein  Londoner 
Großkaufmann,  hatte,  auf  weiten  Reisen  und  durch  umfassende 
gelehrte  Studien  gebildet,  auch  vielfache  Beziehungen  zu  den  Pa- 
riser Bibliophilen  seiner  Zeit  unterhaltend,  zuletzt  in  seinem  Land- 
hause Hawkhurst,  Kent,  seine  große  Bücherei  aufgestellt.  Sie  ent- 
hielt mit  ihren  8764  Werken  in  15299  Bänden  neben  der  berühmten 
Erotica- Sammlung,  die  Ashbee  als  Pisanus  Praxi  teilweise  selbst  in 
einem  mustergültigen  Werke  beschrieben  hat,  und  der  ebenso  be- 
rühmten Cervantes- Reihe,  [384  Ausgaben  des  Don  Quixote,  114  Aus- 
gaben anderer  Werke  des  Cervantes  und  252  Schriften  über  ihn,] 
Folgen  der  Urausgaben  der  Werke  Fieldings,  Sternes,  Moli^res.  Le 
Sages,  zahlreiche  Liebhaberausgaben  und  einen  reichen  biblio- 
graphischen Handapparat,  darunter  ein  extra  illustriertes  Exemplar 
von  Nichols  Literary  Anecdotes  in  42  Bänden.  Und  sie  war  schon 
eine  moderne,  bibliographisch-literarisch  orientierte  Privatbiblio- 
thek)  in  der  das  historisch-typographische  Element  weiter  zurück- 
stand, aus  dem  die  Buchfreunde,  die  Grenvilles  Zeitgenossen  ge- 
wesen waren,  das  literarhistorische  entwickelt  hatten,  unter  ihnen 
an  erster  Stelle  Richard  Heber. 

Den  Beinamen  des  Glänzenden  hat  Richard  Heber  [1773 
—1833]  von  Sir  Walter  Scott  erhalten,  der  über  ihn  verkündete, 
seine  Büchersammlungen  und  Weinkeller  überträfen  alle  anderen  auf 
der  Welt.  Eine  Meinung,  die  die  Bibliotheca  Heberiana  rechtfertigte. 
Daß  sie  die  ihr  gebührende  Geltung  nicht  gewann,  hatte  einen  dop- 
pelten Grund.  Denn  die  Aufhäufung  der  gewaltigen  Büchermassen, 
die  ständige  Aufkäufe  und  Bücherreisen  ihres  Sammlers  vermehrten, 
gelangte  nicht  mehr  bis  zu  ihrer  Ordnung  und  Zusammenfassung. 
Sodann  verhinderte  ihre  räumliche  Verteilung  auf  eine  Reihe  von 
Städten  —  Büchersammlungen  Hebers  standen  in  London,  Oxford, 
Paris,  in  Antwerpen,  Brüssel,  Gent,  kleinere  noch  an  einigen  anderen 
Orten  des  Kontinents  —  daß  sie  als  ein  einheitliches  Ganzes  in  die  Er- 
scheinung trat.  Auch  die  Doppelstücke  waren  wenig  gesondert,  ab- 
sichtlich  kaufte  Heber  manches  alte  oder  neue  dreifach  nach  seinem 
Grundsatz:  ein  gutes  Buch  solle  man  dreimal  haben;  eins  gehöre  in 
die  Büchersammlung,  eins  sei  für  den  eigenen  Handgebrauch  nötige 

*  Abb.  323  453 


ENGLAND 

und  eins,  um  es  zu  verleihen.  Die  150000  Bände,  die  Flugschriften 
ungerechnet,  die  in  den  202  Tagen  der  von  1834  bis  1837  dauernden 
Londoner  Versteigerungen  —  die  Pariser  Versteigerung  fand  1836 
statt  —  wieder  zerstreut  wurden,  boten  daher  einbuntes  Durch- 
einander, das  die  Absichten  des  Sammlers  und  den  Sammlungswert 
nicht  zeigte.  Aber  die  Auswahl  der  reichen  Reihen,  der  Klassiker- 
editionen, der  altenglischen  Bücher  und  derjenigen  der  romanischen 
Literaturen,  die  Heber  zu  treffen  wußte,  ist  keineswegs  lediglich  ein 
Zusammenkaufen  gewesen.  Die  Eintragungen,  die  er  in  seine  Bücher 
machte,  lassen  erkennen,  dafi  er  nicht  lediglich  ein  bücherkundiger, 
dajB  er  dazu  ein  geistreicher  und  gelehrter  Mann  gewesen  ist.  Als 
Kenner  steht  Heber,  der  ebenso  in  den  alten  wie  in  den  neuen  Lite- 
raturen zu  Hause  war,  weit  an  der  Spitze  der  großen  englischen 
Sammler  seiner  Tage,  die  bloß  Sammler  waren  und  die  keinen  Ver- 
gleich mit  seinem  Wissen  vertragen  würden.  Und  auch  die  groß- 
zügige Organisation  seiner  Privatbibliothek  muß  er  verstanden, 
er  muß  die  für  ihn  Mitsammelnden  an  ihren  besten  Platz  zu  stellen 
gewußt  haben.  Das  lehren  die  Bücherlisten  der  Versteigerungsver- 
zeichnisse, die  leider  nicht  mehr  zum  Katalog  einer  der  bedeutendsten 
jemals  vorhandenen  Liebhaberbüchereien  werden  konnten.  Das  prak- 
tische Resultat  der  angestrengten  Sammeltätigkeit  und  ihres  Auf- 
wandes war  es  freilich  nur  gewesen,  daß  sie  den  Rohstoff  anderer 
Sammlungen,  ihnen  vorarbeitend,  sonderte.  Immerhin  ist  auch  das 
ein  Verdienst  gewesen;  wofern  es  überhaupt  ein  Verdienst  ist,  Büche- 
reien in  einem  Menschenleben  mühsam  zu  gründen,  die  nach  ihres 
Sammlers  Tode  als  Sammlungen  vernichtet  werden.  So  erläutert  das 
Beispiel  Hebers  an  einem  besonders  deutlichen  Fall  ein  Kernproblem 
der  modernen  Bibliophilie,  soweit  diese  sich  in  Bibliothekenschöp- 
fungen tätig  zeigt.  Zwar  bleibt  die  Buchpflege,  aber  der  Sammlungs- 
zweckgedanke geht  immer  von  neuem  verloren.  Oder,  wenn  man 
es  lieber  will,  er  erneuert  sich  stetig  in  den  Büchereienwandlungen, 
die  eines  Sammlerlebens  Arbeit  und  Freude  wurden.  Das  mag  dem 
einzelnen  genügen,  für  die  Bibliophilie  als  ein  Element  der  Kultur- 
politik im  humanistischen  Sinne  ist  es  doch  zu  wenig,  weil  es  die 
bleibendste  Leistung,  die  Büchersammlung  selbst,  zerstört. 

454 


19.  JAHBHUNDEBT 

Aus  Hebers  Reichtümern  schöpften  alle  die  Sammler,  die  damals 
in  England  ihre  berühmten  Liebhaberbüchereien  auf-  und  ausbauten, 
ihre  Schätze  oder  vervollständigten  sie  doch  mit  wertvollstem  Bücher- 
gut: William  Henry  Miller  [1789-1848],  der  in  Britwell  Court, 
Bucks,  eine  Bibliotheca  poetica  anglicana  in  seltener  Vollständig- 
keit angelegt  hatte;  Henry  Perkins  [1778—1855],  der  in  Spring- 
field,  Surrey,  eine  kleinere  aber  um  so  kostbarere  Bibliophilen- 
bibliothek  sich  errichtet  hatte;  George  Daniel  [1789—1864],  der 
in  seinem  Hause  in  Islington  die  ältere  englische  Dichtung,  vor  allem 
die  ältere  englische  Dramatik  und  eine  ShakespeareanacoUektion 
sondergleichen  herbergte;  Rev.  Thomas  Corser  [1793—1876], 
dessen  ,Collectanea  Anglo-Poetica*  die  bibliographischen  Fortschritte 
vermerkten,  die  die  Bibliophilie  Englands  auf  dem  ihr  eigensten 
Gebiete,  dem  des  alten  englischen  Schrifttums,  gemacht  hatte  und 
die  anderen  Büchersammlungen,  die  meistenteils  früher  oder  später 
das  Schicksal  der  Heber  Library  teilten,  in  einer  , großen*  Auktion 
sich  aufzulösen. 

Bereits  die  Auflösung  der  Bright  Library  [1845]  schreckte  durch 
ihre  Preise  eine  Anzahl  von  Büchersammlern  aus  den  Gebieten  des 
großen  Sammlers  im  enghschen  Geschmack  zurück;  bereits  auf  ihr 
trat  deutlich  die  Erscheinung  hervor,  daß  es  nur  einzelne  Sammler 
waren,  die  sich  die  Hauptstücke  teilten.  Als  die  Auktion  der  Sunder- 
land  Library  durch  Messrs.  Puttick  &  Simpson,  vom  Dezember  1881 
bis  zum  März  1883,  mit  den  für  ihre  13858  Nummern  bezahlten 
£  56581  6  s.  dem  Altbüchermarkt  eine  neue  Ordnung  ankündigte, 
durfte  der  hervorragendste  englische  Antiquar  des  neunzehnten 
Jahrhunderts,  Bernard  Quaritch,*  der  als  Bieter  alle  seine  Gegner 
geschlagen  hatte,  sie  mit  einem  Lobspruche  schließen,  der  letzten 
Endes  mehr  dem  Sammelgut  galt,  trotzdem  er  die  Sammlung  aus- 
zeichnete: „This  was  the  most  wonderful  library  that  had  been  sold 
by  auction  in  the  present  Century.  Fine  as  the  Hamilton  library 
was  he  could  form  another  like  it  to-morrow,  but  nothing  like  the 
Sunderland  library  would  be  seen  again  as  a  private  coUection.  He 
held  its  founder  in  the  highest  respect  and  gratitude."  Das  An- 
denken   des    Büchersammlers    war    seine    Bücherversteigerung   ge- 

^  Abb.  315  455 


ENGLAND 

worden,  Bücherei  und  Buchware  ließen  sich  fortan  nur  schwer  unter- 
scheiden, weil  Einzelstücke  zu  hohe  Werte  geworden  waren.  Das 
mußte  der  Altbuchhändler  ebenso  berücksichtigen  wie  auch  der 
Sammler  selbst.  Das  Kommerzielle,  ja  das  spekulative  Element 
war  nunmehr  ebenfalls  eine  Treibkraft  geworden.  Ein  Materialis- 
mus, wenn  es  einer  war  —  denn  als  Kapitalsanlage  berechnet  haben 
auch  die  besten  und  bestbezahlten  Liebhaberbüchereien  nur  eine 
mäßige  Verzinsung  gebracht  —  der  schließlich  doch  nicht  mit  dem 
Idealismus  der  Bibliophilie  sich  in  Widerstreit  zu  setzen  braucht. 
Darüber  urteilte  der  Nationalökonom  Mc.  Culloch  in  der  Vorrede 
seines  Büchereiverzeichnisses:  „It  is  no  doubt  very  easy  to  ridicule 
the  taste  for  fine  books  and  their  accumulation  in  extensive  libraries. 
But  it  is  not  more  easy  than  to  ridicule  the  taste  for  whatever  is 
most  desirable,  as  superior  clothes,  houses,  furniture  and  acco- 
modation  of  every  sort.  A  taste  for  improved  or  fine  books  is  one 
of  the  least  equivocal  marks  of  the  progress  of  civilisation,  and  it  is 
as  much  to  be  preferred  to  a  taste  for  those  that  are  coarse  and  ill 
got  up,  as  a  taste  for  the  pictures  of  Reynolds  or  Turner  is  to  be 
preferred  to  a  taste  for  the  daubs  that  satisfy  the  vulgär.  A  man 
acts  foolisly,  if  he  spend  more  money  on  books  or  any  thing  eise  than 
he  can  afford;  but  the  foUy  will  be  increased,  not  diminished,  by 
bis  spending  it  on  mean  and  common  rather  than  on  fine  and  un- 
common  works.  The  latter  when  sold  invariably  bring  a  good  price, 
more  perhaps  than  was  paid  for  them,  whereas  the  former  either 
bring  nothing  or  next  to  nothing."  Gerade  aus  der  Kennerschaft 
erwachsen  die  ideellen  und  die  materiellen  Gewinne  einer  Sammlung; 
die  Kenntnisse  sind  es,  die  sie  wirtschaftlich  machen,  künstlerisch 
wie  wissenschaftlich,  und  ebenso  für  den  Standpunkt,  der  in  Geld- 
zahlen Arbeitskraft  und  Auslagen  umrechnend,  die  Ökonomie  einer 
Bibliophilenbibliothek  übersehen  will. 

Allein  die  Druckwerke  wurden  in  der  Hamilton- Versteigerung 
ausgeboten,  gleichzeitig  hatte  die  Preußische  Regierung  die  Hand- 
schriftensammlung, deren  Hauptstück  das  mit  den  Botticelli-Zeich- 
nungen  geschmückte  Dantemanuskript  war,  erworben.  Ein  Fall, 
der  in  England  vielfachen  Widerspruch  fand.   Noch  war  man  es  nicht 

456 


19.  JAHRHUNDERT 

gewöhnt,  dem  Auslande  Bücher-  und  Kunstschätze  zu  überlassen. 
Ruskin  [im  , General  Statement  explaining  the  natur  eand  purposes 
of  St.  Georges  Guild']  forderte  vergeblich  zu  einer  Nationalsub- 
skription auf,  um  diesen  Schatz  England  zu  erhalten  und  erregte  das 
Verlangen,  wenigstens  die  Asburnham  CoUection  dem  Lande  zu 
sichern.  Bertram  [4]  Earl  of  Asburnham  [1797—1878]  hatte  es 
verstanden,  mit  einem  verhältnismäßig  geringen  Aufwände  eine 
Büchersammlung  zu  schaffen,  deren  Druckwerke,  noch  billig  gekauft, 
sein  Sohn  bei  der  Auflösung  der  Sammlungen  seines  Vaters,  teuer 
verwertete.  Nicht  mit  Unrecht  tadelte  W.  Carew  Hazlitt,  daß  die 
glanzvoll  die  Auktionen  des  neunzehnten  Jahrhunderts  beendende 
Asburnham- Versteigerung  Preise  zeitigte,  die  weit  über  den  damaligen 
Liebhaberwert  hinausgingen;  nicht  mit  Unrecht  machte  er  dieser 
Druckwerksammlung  den  Vorwurf ,  daß  ihr  jeder  Plan,  jede  Teilnahme 
für  ihr  Zusammenbringen  gefehlt  hätte.  Sie  war  ein  gut  angelegtes 
Kapital  gewesen,  das  reichliche  Zinsen  trug:  eine  Ausnahme  für  das 
Entstehen  und  Vergehen  großer  Liebhaberbüchereien.  Auch  die 
an  4000  Bände  umfassende  Handschriftensammlung  war  weit  mehr 
durch  eine  Vereinigung  vorhandener  Handschriftenreihen  zusam- 
mengekommen als  das  Ergebnis  fruchttragender  Sammeltätigkeit  ge- 
wesen. Aus  vier  Teilen  war  sie  gebildet  worden,  der  Stowe  CoUection, 
der  Libri  CoUection,  der  Barrois  CoUection  und  einer  Gruppe  einzeln 
von  Lord  Asburnham  erworbener  Handschriften.  Die  Stowe  Col- 
lection  historischer  Manuskripte  hatte  Thomas  Astle,  Keeper 
of  the  Records  in  the  Tower,  gesammelt  und,  weit  unter  ihrem  Werte, 
gegen  eine  Zahlung  von  £  500  dem  Marquis  of  Buckingham  aus 
Dankbarkeit  gegen  die  Grenville- Familie  hinterlassen,  der  das  An- 
gebot annahm  und  die  Aufstellung  der  996  Manuskripte  in  Stowe 
bewirken  ließ.  1849  bot  dann  der  Marquis  of  Chandos  dem  British 
Museum  diese  Sammlung  für  £  8300  an,  die  Verhandlungen  zer- 
schlugen sich  jedoch  und  Lord  Asburnham  kaufte  sie  dann.  1883 
kam  aber  aus  der  Asburnham  Library  die  Stowe  CoUection  doch 
noch  in  das  British  Museum,  freilich  für  einen  weit  höheren  Preis. 
Auch  wegen  der  sogenannten  Libri  CoUection,  die  aus  den  Beständen 
des   Bücherdiebes   Libri,  die  nach  England  geschafft  waren,  zu- 

457 


ENGLAND  I 


sammengesetzt  wurde,  hatte  das  British  Museum  1846  und  1847 
vergeblich  verhandelt,  bis  Lord  Asburnham  in  diesem  Jahre  ihre 
1923  Manuskripte  für  £  8000  kaufte.  Die  ihm  1848  für  £  6000  an- 
gebotene B  a  r  r  o  i  s  CoUection,  702  Manuskripte  altfranzösischer 
Dichtungen,  hatte  das  British  Museum  gleichfalls  ausgeschlagen  und 
Lord  Asburnham,  der  seinen  drei  Handschriftenreihen  nach  und  nach 
ein  Vierteltausend  weiterer  Manuskripte  hinzufügte,  konnte  sie 
für  diesen  Preis  erwerben.  So  war  also  die  Begründung  dieser  be- 
rühmten Manuscript  Library  im  Grunde  nicht  viel  mehr  gewesen 
als  die  innerhalb  eines  kurzen  Zeitraumes  von  einem  , entschlossenen 
Käufer^  benutzten  Gelegenheiten,  das  Beste,  was  der  Markt  gerade 
bot,  aufzukaufen;  der  über  bureaukratische  Sammelverfahren  sieg- 
reiche „Geldmann**,  der  solchen  Vorteil  wahrnahm,  deshalb  noch 
nicht  ein  Sammler  grojBen  Stils  geworden,  den  ein  höherer  Zweck 
begeisterte. 

Buchhandschrift  und  Druckwerk  gehörten  im  neunzehnten 
Jahrhundert  schon  getrennten  Sammelgebieten  an.  Die  bedeu- 
tendsten zwischen  1810  und  1870  in  England  hervortretenden 
Bibliophilen,  deren  Bibliotheken  die  Druckwerkliebhaberpreise 
durch  ihr  Entstehen  und  Vergehen  reguliert  hatten,  der  Duke  of 
Roxburghe,  Mr.  Heber,  Mr.  Grenville,  Mr.  Daniel,  Lord  Spencer, 
Mr.  Miller  und  Mr.  Huth,  auch  Mr.  JoUey,  Mr.  Bright  und  Mr. 
Corser  wären  im  gleichen  Zusammenhange  wohl  noch  anzuführen, 
besaßen  bei  der  Anwendung  großer  Mittel  immerhin  noch  die  Mög- 
lichkeit der  Auslese  und^  Auswahl  ihrer  Kostbarkeiten  und  Selten- 
heiten nach  einem  weit  gesteckten  Plane.  Diese  Möglichkeit  schränkt 
sich,  nach  den  ersten  Durchsuchungen  der  erforschten  Sammel- 
gebiete, jedoch  immer  weiter  ein  und  so  wurden  denn  die  neu  ent- 
stehenden großen  Sammlungen  in  immer  höherem  Maße  notwendig 
abhängig  von  der  Auflösung  oder  der  Aufteilung  bestehender  Lieb- 
haberbüchereien. Im  allgemeinen  mußten  sich  die  Antiquariate  mit 
den  begehrtesten  Hauptwerken,  mit  den  Büchern,  die  für  die  einzel- 
nen Sammelrichtungen  an  der  Spitze  standen,  ebenfalls  in  den  Auk- 
tionen ersten  Ranges  versorgen.  Damit  wuchs  nicht  nur  deren  Be- 
deutung für  die  besten  Bibliophilenbibliotheken  überhaupt,  sondern 

458 


19.  JAHRHUNDERT 

sie  wurden  geradezu  für  sie  die  eigentlichen  Quellen  ihres  Wachstums. 
Und  nachdem  man  im  zwanzigsten  Jahrhundert  bereits  zu  Be- 
standsaufnahmen der  gegenwärtigen  Verteilung  des  Sammelgutes, 
des  Vorhandenseins  von  Caxtons  oder  Shakespeare-Original-Editio- 
nen an  dieser  oder  jener  Stelle,  von  Wiegendrucken  im  amerikani- 
schen Besitz  gelangt  ist,  macht  ein  solcher  Census  auch  die  Markt- 
kontrolle in  einem  Umfange  möglich,  der  immer  mehr  die  Sammlun- 
gen einengt,  die  für  den  Wettbewerb  um  alte  oder  auftauchende 
neue  Stücke  bestimmter  Sammelgebiete  in  Frage  kommen  können. 
Die  Formeln  für  die  Aufstellung  hoher  Liebhaberwerte  sind  auch 
rechnerisch  richtig  zu  begründen,  da  sich  das  Verhältnis  von  An- 
gebot und  Nachfrage  genauer  bestimmen  läßt  und  ausgeschaltet 
bleiben  hier  nahezu  die  Hoffnungen,  Sammlerglück  ohne  die  er- 
forderlichen runden  Summen  zu  gewinnen.  Die  Bildung  großer 
Liebhaberbüchereien  in  der  Art  der  oben  erwähnten  ist  also  nahezu 
unmöglich  geworden,  soweit  neue  Privatbibliotheken  ihres  Ranges 
nicht  die  Kombinationen  schon  vorhandener  sind.  Daraus  erklären 
sich  die  amerikanischen  Sammelverfahren  des  Aufkaufens  bestehen- 
der Büchereien.  Ein  Menschenleben  reicht  nicht  aus,  Stück  für  Stück 
der  Bibliophilenbibliotheken  desjenigen  Umfanges  und  Wertes  zusam- 
menzutragen, die  für  die  großen  englischen  Liebhaberbüchereien 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  und  ihren  Stil  kennzeichnend  ge- 
wesen sind. 

In  der  Hauptsache  ist  auch  die  Huth  Library  zwischen  den 
Jahren  1854  und  1870  entstanden.  Der  Bankier  Henry  Huth 
[1815—1878],*  der  Sohn  eines  deutschen  Vaters  und  einer  spanischen 
Mutter,  kaufte  1854  in  der  Dünn  Gardner- Versteigerung  sein  Exem- 
plar der  ersten  Shakespeare-Folio.  Die  Auktionen  Daniel  und  Corser 
brachten  ihm  noch  eine  reiche  Bücherauswahl.  Sonst  aber  war  es 
weit  mehr  der  für  ihn  mitsammelnde  Antiquar,  der  seinen  Bücher- 
schatz vermehren  half,  als  das  eigene  Suchen,  das  noch  der  ihm 
vorangehenden  Bibliophilengeneration  möglich  gewesen  war.  Er- 
klärlicherweise wandten  sich  die  Altbuchhändler  mit  ihren  frei- 
händigen Angeboten,  wandten  sich  auch  die  Privatleute  zuerst  an 
den  reichen  Sammler,  von  dem  sie  wußten,  daß  er  die  erlesenen 

^  Abb.  314  459 


ENGLAND 

Sammlerstücke  mit  dem  Liebhaberpreise  bezahlen  konnte  und  wollte, 
den  sie  kosteten.  Das  bedeutete  keineswegs,  daß  deshalb  dieser 
Sammler  zu  einem  Spielball  seiner  Agenten  wurde.  Als  Henry  Huth 
zwei  Jahre  nach  der  Perkinsauktion  von  Quaritch,  der  sie  dort  er- 
worben hatte,  die  Mazarin- Bibel  für  £  2625  kaufte,  war  er  selbst  über 
die  Höhe  des  Kaufpreises  so  stark  gegen  sich  selbst  verstimmt  ge- 
wesen, dafi  er  die  beiden  Bände  lange  unausgepackt  liegen  ließ.  Doch 
ebensowenig  war  das  Geschäft  für  Mr.  Quaritch  glänzend  gewesen, 
der  an  ihm  £  25  verdient  hatte.  Ein  Geschichtchen,  das  hinreichend 
die  für  den  großen  Sammler  sich  ergebenden  Schwierigkeiten  der 
Verbindung  seiner  Bibliophilie  mit  finanziellen  Transaktionen  ver- 
ständlich macht.  Hier  ließ  sich  das  Sammeln  und  Spekulieren  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  nicht  mehr  trennen,  da  die  Hauptstücke 
des  Sammlungsgebietes  schon  zu  Spekulationsobjekten  geworden 
waren.  Diese  Einwirkung  des  Altbüchermarktes  verleugnete  die 
Huth  Library  nicht.  Zwar  erstreckte  sie  sich  weiter,  als  manche  der 
anderen  englischen  Bibliophilenbibliotheken  ersten  Ranges;  alte 
deutsche  und  spanische  alte  Drucke  lagen  in  ihrem  Plan.  Zwar  ge- 
wann sie  einen  erheblichen  Umfang.  Aber  aus  dem  Bemühen  des 
Sammlers,  die  bemerkenswertesten  Bücher  in  erlesensten  Exem- 
plaren zu  erwerben;  die  lohnendsten  Ankäufe  zu  machen,  die  deren 
Aufwand  rechtfertigten,  entstand  schließlich  nur  eine  Vereinigung 
von  Cimelien-Spezial-KoUektionen.  Da  waren  die  altenglischen 
Drucke  und  die  Shakespeareana,  da  waren  die  Reihen  der  alten 
Reisewerke  und  manche  anderen  Reihen  noch,  die  letzten  Endes 
nicht  mehr  in  einer  Büchersammlung  zusammenwuchsen,  weil  über- 
all nur  die  Kostbarkeiten  und  Seltenheiten  vorhanden  waren;  weil 
die  Bücher  geringen  Liebhaberwertes,  die  doch  einer  Bücherei  un- 
entbehrlich sind,  um  in  ihrer  Art  vollständig  und  zu  einer  Recht- 
fertigung des  Sammlers  zu  werden,  fehlten.  Nicht  daß  Henry  Huth 
kein  Bibliophile  gewesen  wäre.  Die  Bücherliebe  hat  in  seinem  Leben, 
das  sein  Sohn  Alfred  im  ,Dictionary  of  National  Biography*  schrieb, 
eine  nicht  geringe  Rolle  gespielt.  Aber  die  Art  seiner  Sammlung  be- 
schränkte sie  auf  eine  Auswahl,  die  ohne  das  Sammlungsziel  zu 
stören,  keine  Ausgleiche  und  Übergänge  zuzulassen  schien.   So  wurde 

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19.  JAHRHUNDERT 

sie  in  hohem  Maße  vollständig  und  blieb,  als  Bücherei,  doch  im 
hohen  Maße  unvollständig,  von  einer  kühlen  Nüchternheit.  Die  be- 
lebende Wärme  des  Buches  ihrer  Gegenwart  hatte  sie  sich  versagt; 
sie  war  ein  Antiquitätenkabinett  geworden,  das  in  den  früheren  Jahr- 
hunderten zurückblieb;  ihr  Auktionskatalog  hätte  auch  die  Be- 
schreibung der  kostbarsten  Werke  eines  Altbuchhändlerlagers  sein 
können.  Als  Alfred  Henry  Huth,  der  die  Huth  Library  im  Sinne 
seines  Vaters  verwahrt  und  vermehrt  hatte,  1910  starb,  überließ  er 
als  ein  Vermächtnis  dem  British  Museum  die  Wahl  von  50  Büchern 
der  Sammlung,  das  kostbarste  Geschenk,  das  das  Museum  seit  der 
Gabe  der  Grenville  Library  erhalten  hat.  1914  bis  1922  ist  dann 
die  Bibliothek  Huth  in  London  unter  den  Hammer  gekommen, 
eine  Versteigerung,  die  die  der  anderen  berühmtesten  englischen 
Bibliophilenbibliotheken  ihrer  Zeit,  so  der  Büchereien  von  Sir 
William  Tite  [1798—1873],  James  Thomson  Gibson-Craig 
[1799-1886],  Robert  Samuel  Turner  [1818-1887],  Frederick 
Locker-Lampson  [1821—1895]  und  der  Didlington  Hall 
Library  weiter  hinter  sich  zurück  ließ. 

Der  Bibliothekenzauber,  der  von  den  Büchereien  ausgeht,  die 
als  Erbgut,  als  Familienüberlieferung  gehütet,  Generationen  hin- 
durch gewachsen  sind;  die  Dinge  oder  doch  das  Wesen  von  Dingen 
enthalten,  von  denen  das  Gefühl  empfindet,  sie  seien  unkäuflich,  ist 
längst  aus  den  der  Gegenwart  angehörenden  großen  Liebhaber- 
büchereien verschwunden.  Mag  die  Persönlichkeit  ihres  Sammlers 
auch  in  ihnen  mächtig  sein,  mag  auch  ihre  Geldwertung  außer  Be- 
tracht bleiben:  die  ihnen  notwendige  bibliographische  und  biblio- 
thekarische Organisation  verbietet  es  ihnen,  sich  jener  im  Schimmer 
der  Vergangenheit  verklärten  Willkür  zu  überlassen,  in  der  die 
alten  Sammlungen  wuchsen.  Daß  diese  alten  Büchereien,  in  denen 
die  Bücher  ihrer  Zeit  inzwischen  zu  Sammler-  und  Wertstücken 
wurden,  eine  Romantik  -  Stimmung  erhalten,  die  unvergleichlich 
wirkt,  mag  zutreffen.  Aber  die  Einschätzung  einer  modernen  Privat- 
bibliothek im  Vergleich  mit  ihnen  wird  doch  in  dem  Maße  zunehmen, 
in  dem  sie  zur  Lösung  eines  bestimmten  Bibliotheksproblems  wird, 
als    das    Ergebnis    einer    ausgebildeten    Sammeltechnik.    Aus    dem 

461 


ENGLAND 

begeisterten  bibliomaniac,  der  sich  der  Bücherlust  überließ,  ist  ein 
wägender,  wissenschaftlich  arbeitender  Büchersammler  geworden; 
der  rechnende  Sammler  aus  dem  wagenden  book-hunting  sportsman. 
Ob  deshalb,  manche  meinen  so,  aus  der  Bibliophilie,  soweit  sie  sich 
im  Büchersammeln  äußert,  die  Poesie  verschwunden  sei,  das  zu  er- 
örtern ist  für  weite  Sammelgebiete,  die  das  alte  Buch  umhegen, 
zwecklos.  Der  Buchfreund  sieht  sich  klar  zu  überlegenden  Tatsachen 
gegenüber.  Daß  dergleichen  Überlegungen  zuerst  für  die  englisch- 
amerikanische Bücherliebhaberei  Geltung  erhielten,  ist  doch  wohl 
kein  Zufall  gewesen. 

Der  Bibliothek  von  Holland  House*  in  London,  die  auch  die 
Büchersammlung  von  Joseph  Addison  [1672—1719]  seit  seiner 
Heirat  [1716]  mit  der  verwitweten  Gräfin  Warwick  gewesen  war, 
und  die  1767  mit  Henry  Fox,  Lord  Holland  zur  Familienbibliothek 
leitender  liberaler  Staatsmänner  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
wurde,  gedachte  einmal  Macaulay  mit  diesen  Worten:  „Mit  be- 
sonderer Vorliebe  wird  man  sich  jenes  ehrwürdigen  Saales  erinnern, 
in  dem  alle  Altehrwürdigkeit  einer  Universitätsbibliothek  so  merk- 
würdig sich  vereint  mit  weiblicher  Grazie,  die  auch  einen  ernsten 
Raum  verschönern  kann.  Von  hier  aus  wurde  zwei  Generationen 
hindurch  die  Politik  Europas  durch  Vernunft  und  Beredsamkeit 
geleitet.  Bronze  und  Leinwand  wurden  in  Leben  verwandelt  und 
der  Nachwelt  Werke  hinterlassen,  die  nicht  zu  sterben  vermögen. 
In  diesem  eigentümlichen  Kreise  konnte  jedes  Talent  seinen  Platz 
finden.  Es  kam  vor,  daß  in  einer  Ecke  die  letzte  politische  Debatte 
und  in  einer  anderen  Ecke  das  neue  Lustspiel  von  Scribe  besprochen 
wurde,  während  Makintosh  im  Thomas  von  Aquino  blätterte,  um 
eine  von  ihm  angezogene  Stelle  zu  vergleichen,  und  Talleyrand  über 
seine  Unterhaltung  mit  Barras  oder  von  seinem  Ritt  mit  Lannes 
über  das  Schlachtfeld  von  Austerlitz  erzählte.  .  .  .  Man  fühlte  stets 
die  offene  Höflichkeit,  die  sofort  selbst  den  jüngsten  Schriftsteller, 
der  sich  zum  erstenmal  zwischen  Botschaftern  und  Herzögen  be- 
fand, aller  Verlegenheit  enthob."  Die  Ansicht  einer  Bücherei,  die 
für  eine  Gesellschaft,  in  der  sich  geistige  Beweglichkeit  mit  einem 
gelassenen   Wirklichkeitssinn    durch   Anlagen   und    Erziehung   ver- 

462  *  Abb.  313 


19.  JAHRHUNDERT 

band,  den  rechten  Hintergrund  abgab.    Daß  in  diesen  anmutenden 
Räumen   große   Unternehmungen   großartig   ausgedacht   und   voll- 
endet wurden,  ist  ohne  Zweifel.    Aber  läßt  es  sich  auch  denken,  daß 
sie,  wie  das  in  der  Humanistenepoche  geschehen  ist,  zum  Ausgangs- 
punkt einer  bibliographischen  Expedition  hätten  werden  sollen,  die 
in  der   Hoffnung,  ein  unbekanntes  Werk  zu  entdecken,   nach  un- 
gewissen Zielen  geschickt  wurde?    In  jenen  frühen  Tagen  der  auf- 
erweckten Bücherliebe  wechselte  man  gegen  Geistesgüter  sein  Gold; 
in  der  Roxburghe -Versteigerung  zahlte  man  es  für  den  Sammler- 
ruhm.   Nun  gilt  die  anerkannte  Buchware,  die  ihren  hohen  Preis 
wert  ist,  der  allseitiger  Prüfung  stand  hält.     Das  ist  kein  bloßer 
Kommerzialismus  und   Materialismus.     Denn   eben   diese   allseitige 
Prüfung  bedingte  es,  daß  mit  den  äußeren  Buchwerten  diejenigen 
inneren  Buchwerte  erfaßt  wurden,  die  sie  hervorriefen;  daß  die  Aus- 
lese der  besten  Druckwerke,   der  erhaltenswertesten,  die  durch  die 
Büchervermehrung  notwendig  wurde,  sich  zwar  auf  dem  Altbücher- 
markte vollzog,  aber  doch  immerhin  vollzog;  zu  einer  Anpassung  an  die 
wirtschaftliche  Entwicklung  Europas  wurde,  in  der  sich  nur  das  er- 
hält,  was   einen   eigenen  Wert  im   wirtschaftlichen   Kreislaufe   ge- 
wonnen hat.    So  liegt  in  der  Ausbildung  hoher  Liebhaberpreise  für 
die  marktgänge  Buchware  auch  dann  noch  ein  ökonomisches  Ele- 
ment der  Buchpflege,  das  nicht  zu  unterschätzen  ist,  wenn  die  Trieb- 
kräfte,  die  ihre   Wirkungen  hervorrufen,   allein   der  Bewunderung 
des  Buches  und  nicht  noch  seiner  Verehrung  entstammen.    Poli- 
ziano  hat  einmal  in  einer  Prunkrede  den  Lorenzo  de'  Medici  und  den 
Herzog  Federico  von  Urbino  gepriesen:    ,, Diese  beiden  wagten  in 
einer  düstern  Zeit  auf  Licht  zu  hoffen  und  einen  starken  Damm 
gegen  den  Strom  der  schlechten  Gewohnheiten  aufzuwerfen.    Daher 
versahen  sie  sich  mit  Büchersammlungen  und  hielten  es  ihrer  nicht 
für  unwürdig,   sich  selbst  den  Studien  zu  widmen."    Sie  dachten 
kulturpolitisch.    Und  dieser  Gedanke  verkörpert  sich  in  einer  jeden 
Büchersammilung    allein   schon    in    ihrem    Vorhandensein,    sie    sei 
entstanden,  wie  sie  wolle.    Da  wächst  über  den  Sammler  die  Samm- 
lung hinaus  und  es  ist  ebenso  müßig  zu  fragen,  ob  sie  von  höchstem 
Nutzen  für  den  Sammler  selbst  geworden  sei,  wie  es  müßig  zu  fragen 

463 


ENGLAND 

sein  würde,  ob  die  Hüter  anderer  Kulturgüter  bereits  genug 
taten,  indem  sie  einen  Damm  gegen  den  Strom  der  schlechten  Ge- 
wohnheiten errichteten. 

Die  bibliographische  Kritik  hatte  auch  in  England  im  neun- 
zehnten  Jahrhundert   die   Originaledition  zum   Sammelgegenstand 
werden  lassen;  eine  Verfeinerung  ebenso  der  gefühlsmäßigen  wie  der 
schrifttumsgeschichtlichen   Werte,    die   die   Bibliophilie   ausbildete. 
Lord  Macaulay  [Boswells  Life  of  Johnson]  hat  das  einmal  um- 
schrieben:   „We  love,  we  own,  to  read  the  great  productions  of  the 
human  mind  as  they  were  written.    We  have  this  feeling  even  about 
scientific  treatises;  though  we  know  that  the  sciences  are  always 
in  a  State  of  progression,  and  that  the  alterations  made  by  a  modern 
editor  in  an  old  book  on  any  brauch  of  natural  or  political  philosophy 
are  likely  to  be  improvements.    Some  errors  have  been  detected  by 
writers  of  this  generation  in  the  speculations  of  Adam  Smith.    A 
short  cut  has  been  made  to  much  knowledge  at  which  Sir   Isaac 
Newton  arrived  through  arduous  and  circuitous  paths.    Yet  we  still 
look  with  pecuUar  veneration  on  the  ,Wealth  of  Nations*  and  on  the 
yPrincipia^  and  should  regret  to  see  either  of  those  great  workes  garbled 
even  by  the  ablest  hands.    But  in  works  which  owe  much  of  their 
interest  to  the  character  and  Situation  of  the  writers  the  case  is  in- 
finitely  strenger.    What  man  of  taste  and  feeling  can  endure  ri- 
facimenti,  harmonies,  abridgements,  expurgated  editions?   Who  ever 
reads  a  stage-copy  of  a  play  when  he   can  procure  the   original? 
Who  ever  cut  open  Mrs.  Siddon's  Milton?   Who  ever  got  trough  ten 
pages  of  Mr.  Gilpin's  translation  of  John  Bunyan's  ,Pilgrim*  in  to 
modern  English?  Who  would  lose,  in  the  confusion  of  a  Diatessaron, 
the  peculiar  charm  which  belongs  to  the  narrative  of  the  disciple 
whom  Jesus  loved?  The  feeling  of  a  reader  who  has  become  intimate 
with  any  great  original  work  is  that  which  Adam  expressed  towards 
bis    bride:     , Should  God   create  another  Eve,   and    I  another    rib 
afford,  yet  loss  of  thee  would  never  from  my  heart.*     No  Substitute, 
however  exquisitely  formed,  will  fill  the  void  left  by  the  original. 
The  second  beauty  may  be  equal  or  superior  to  the  first;  but  still 
it  is  not  she.'* 

464 


19.  JAHBHUNDEBT 

Die  Ausbreitung  des  Buchgewerbes  hatte  den  Verfasser  bei  der 
Drucklegung  eines  Werkes  immer  weiter  von  diesem  entfernt; 
fremde  Hände  und  Köpfe  nahmen  mit  wachsendem  Einfluß  an  der 
Buchverkörperung  seines  Werkes  teil,  traten  zwischen  ihn  und  den 
Leser.  Die  bibliographisch  aufzuklärenden  Verhältnisse  zwischen 
Buchform  und  Werkinhalt  wurden  verwickelter.  Wo  früher  ein 
Band  die  rechte  und  schlechte  Wiedergabe  der  Druckvorlage  eines 
Verfassers  gewesen  war,  war  er  nach  und  nach  zu  einem  auch  durch 
mancherlei  dem  Werke  fremde  Rücksichten  beeinflußt  und  bestimmt 
worden.  Das  alles  kam  zusammen,  um  die  Bibliographie  der  Ori- 
ginaleditionen des  achtzehnten  und  neunzehnten  Jahrhunderts  auch 
für  den  Bibliophilen  zu  einem  komplizierten  Studium  zu  machen, 
in  dem  mancher  Buchfreund  und  Büchersammler  gleich  Thomas 
B.  Wise*  vorbildliches  leistete.  Dabei  mochten  Kuriosität  und  Rari- 
tät wohl  den  Sammlerehrgeiz  locken.  Aber  die  eigentliche  Absicht 
blieb  es  doch,  durch  solche  angewandte  Bücherkunde  zu  dem  Ori- 
ginal eines  hervorragenden  Schriftwerkes,  das  in  einem  Auflagen- 
und  Ausgabengewirr  verschwand,  vorzudringen;  zu  der  echten  Form, 
zu  dem  reinsten  Text  einer  Schriftwerküberlieferung. 

Eine  Absicht,  die  sich  mit  derjenigen  begegnete,  die  William 
Morris  [1834—1896]*  als  die  Bewegung  eines  Revival  of  printing 
hervorrief  und  die  sich  keineswegs  auf  die  Buchkunst  einschränkte, 
mochte  sie  auch  in  der  Erscheinung  einer  Erweckung  der  Kunst  im 
Buchdruck  hervortreten.  Die  Betrachtung  des  Buches  als  Kunst- 
werk, auf  die  die  Buchverschlechterung  führte,  die  das  Maschinen- 
zeitalter des  neunzehnten  Jahrhunderts  herbeigeführt  hatte,  mußte 
notwendigerweise  die  Muster  einer  besten  Gebrauchsform  des  Buches, 
die  seine  vollendete  Zweckerfüllung  wünschte,  in  der  Vergangenheit 
wählen.  Wenn  William  Morris  bis  in  die  mittelalterlichen  Werk- 
stätten zurückging,  wenn  derart  der  gotischen  Mode  in  der  englischen 
Bibliophilie  um  1800  eine  freilich  andersartige  gotische  Mode  um 
1900  entsprach,  so  erklärte  sich  das  aus  dem  Verlangen  von  Morris, 
die  Buchherstellungsverfahren  zu  veredeln;  ästhetisch  und  tech- 
nisch zu  veredeln  und  auch  ethisch;  das  Maschinenprodukt,  das  das 
Buch  geworden  war,  aus  seiner  Mechanisierung  zu  erlösen;  es  zu  be- 

BOOENQ    80  Abb.  31S— 320.  322,  324  465 


AMERIKA  (U.  S.  A.) 

Seelen  mit  dem  Geist  einer  Werkstattgemeinschaft,  der  es  zum  Er- 
lebnis wurde.  Dadurch  sollte  die  äußere  Buchform  mit  der  inneren 
Werkform  von  neuem  organisch  verschmolzen;  die  Ausdrucksfähig-' 
keit  des  Druckwerkes  auf  das  höchste  gesteigert;  das  vollendete  Buch 
wieder  eins  mit  der  geistigen  und  künstlerischen  Schöpfung  werden, 
die  es  über  Raum  und  Zeit  zu  tragen  hatte.  Inwieweit  das  alles 
Morris  und  seinen  Nachfolgern,  die  er  im  zwanzigsten  Jahrhundert 
auch  in  den  anderen  Ländern  fand,  gelang,  mag  umstritten  werden. 
Dafi  die  Bibliophilie  als  die  Liebe  zum  guten  und  schönen  Buche 
durch  diese  Buchkunstgedanken  äußerlich  und  innerlich  gewonnen 
hat,  ist  unbestreitbar.  Denn  nun  galt  ihre  Buchpflege  nicht  lediglich 
dem  Aufbewahren  der  Überreste  der  Vergangenheit.  Nun  verwies 
sie  sie  wieder  auch  mit  dem  Buche  ihrer  Gegenwart  auf  die  Zukunft; 
nun  war  sie  wieder  ein  Bücherhort,  der  die  besten  und  schönsten 
Bücher,  den  Gedankenschatz  der  Menschheit,  gegen  die  Strömungen 
des  Tages  schützte  und  ihn  weiterbildend  in  den  großen  Strom  leitete, 
der  durch  die  Jahrtausende  flutend,  sie  mit  seinem  Segen  befruchtet.  — 
Daß  Amerika  es  besser  habe  als  der  alte  Kontinent,  ist  auch  für 
die  Bücherliebhaberei  und  die  Büchersammlungen  in  den  Ver- 
einigten Statten  insofern  ein  wahres  Wort  gewesen,  als  dort  die  kurze 
nationale  Tradition,  ungeachtet  ihrer  Verbindung  mit  der  englischen 
Zivilisation,  immerhin  den  Vorteil  hatte,  die  Auswahl  der  Bücher- 
massen früherer  Jahrhunderte  erheblich  zu  erleichtern.  Den , Ballast' 
beiseite  zu  lassen;  das  Beste  der  Sammelgebiete,  ihre  Spitzen,  für 
sich  zu  erwerben,  ist  für  den  amerikanischen  Bibliophilen  Samm- 
lungsverfahren und  Sammlungsziel  geworden.  Da  aber  die  begehrten 
Bücher  vorerst  allein  in  den  Bücherländern  Europas  zu  finden  waren, 
mußten  sie  in  diesen  erworben  werden.  Die  Sprachgemeinschaft  be- 
dingte es,  daß  der  englische  Klassiker  auch  zum  amerikanischen 
wurde,  für  das  ältere  Schrifttum  wenigstens,  und  daß  man  den  be- 
vorzugten englischen  Sammlungsbereichen  sich  ebenfalls  zuwendete; 
freilich  ohne  Berücksichtigung  der  älteren  europäischen  Biblio- 
thekentradition. Dazu  kamen,  erklärt  durch  die  bevorzugten  Europa- 
reisen, die  französischen  alten  und  neuen  Bibliophilenbücher  sowie, 
erklärt    durch    Sprachbeziehungen,    das    ältere    spanische    Schrift- 

466 


19.  JAHRHUNDERT 

tum.   Schließlich  gewann  man  eine  eigene  nationale  Richtung,  indem 
man  die  Americana  suchte,  die  frühen  Nachrichten  über  die  ameri- 
kanische Entdeckungs-  und  Kolonisationsgeschichte  sowie  die  Erst- 
ausgaben  der  amerikanischen   Autoren.     Und   schließlich  vernach- 
lässigte man  auch  nicht  die  literarischen  Antiquitäten,  die  Wiegen- 
drucke.   Die  Beziehungen  der  amerikanischen  Bibliophilie  mit  dem 
durch  seine  Technik  ausgezeichneten  öffentlichen  Bibliothekswesen, 
das  ebenfalls  eine  von  der  europäischen  sich  unterscheidende  Sonder- 
entwicklung nahm,  weil  es  erst  im  neunzehnten  Jahrhundert  neue 
Sammlungen  schuf,  sind  eng.   Den  Mangel  an  alten  Büchern  in  ihrem 
Lande  zu  heben,  ist  der  Ehrgeiz  vieler  amerikanischer  Buchfreunde, 
die  deshalb  mit  der  Absicht  ihren  Büchereien  schaffen,  sie  als  ihres 
Namens  Ruhmesträger  nach  ihrem  Tode  ein  Gemeingut  werden  zu 
lassen.    Die  Bibliothekenstiftung  und  das  Buchgeschenk  sind  in  den 
Vereinigten  Staaten  von  Amerika  im  zwanzigsten  Jahrhundert  fast 
ein  ebenso  starkes  Bibliophilieelement  wie  im  humanistischen  Italien 
des  fünfzehnten.    Amerikanische  Bibliophilie,  sich  zum  Mäzenaten- 
tum der  Bibliotheksstiftungen  ausbildend,  ist  durch  das  Verlangen^ 
öffentliche  Sammlungen  als  anfängliche  private  Unternehmungen  zu 
begründen  und  zu  bereichern,  häufig  unpersönlicher,  mehr  von  ,prak* 
tischen   Tendenzen'   weitergeleitet  als   europäische.     Denn   sie  ver- 
bindet  sich  solcherart  mit  dem  modernen  öffentlichen  Bibliotheks- 
wesen.    Ein  Andrew  Carnegie   gab  dem  Betriebe  seiner  Biblio- 
theksgründungen den  Rahmen,  den  auszufüllen  er  dem  Bibliothekar- 
stabe überließ.     Er  hatte  freilich  auch  mit  ganz  anderen  Bände- 
zahlen zu  rechnen    als  die  Bücherfürsten   Italiens  im  fünfzehnten 
Jahrhundert,  die  selbst  die  Bücher  wählen  wollten.    So  sehen  wir 
auch  hier,  gleichsam  die  entgangenen  Jahrhunderte  durch  einen  er- 
höhten Aufwand  der  Kräfte  und  Mittel  nachholend,  die  Bibliophilen 
im  Büchersammelwesen  die  Grundlagen  der  staatlichen  Anstalten 
schaffen,  die  die  Büchertempel  unserer  Gegenwart  sind  und  überall 
den  Auf-  und  Ausbau  der  öffentlichen  Bibliotheken  fördern.    Aller- 
dings auch  deren  Gedanke   brauchte  in  den  amerikanischen  Staaten 
Zeit,  um  zu  reifen.    Als  der  französische  Schauspieler  Alexandre 
Vattemare,  der  seine  Bühnenlaufbahn  aufgegeben  hatte,  um  einen 

~*  467 


AMERIK  A  (U.  S.  A.) 

internationalen  Büchertauschverkehr  einzurichten,  der  der  Errich- 
tung öffentlicher  Sammlungen  dienen  sollte,  1841  nach  Boston  kam, 
um  seine  Ideen  zu  propagieren,  fand  er  neben  den  Freunden  seiner 
Vorschläge,  die  die  Notwendigkeit  und  den  Nutzen  öffentlicher 
Bibliotheken  für  die  Volkserziehung  einsahen  und  sie  als  ein  demo- 
kratisches Ideal  vertraten,  eine  starke  Gegnerschaft.  Erst  1852 
konnte,  durch  ein  50000  Dollargeschenk  von  Joshua  Bates  die 
Public  Library  of  the  City  of  Boston  gesichert  werden,  die 
erste  große  nordamerikanische  städtische  Bibliothek  und  als  solche 
ein  Muster  der  glänzenden  Entwicklung  des  öffentlichen  Bibliotheks- 
wesens in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika. 

Außer  den  bedeutendsten  Büchersammlungen  der  Hauptstädte, 
die  sich  etwa  den  deutschen  Landesbibliotheken  als  lokale  Mittel- 
punkte des  Sammelwesens  vergleichen  lassen,  außer  der  großen  in 
der  Bundeshauptstadt  Washington  1830  entstandenen  nationalen 
und  wissenschaftlichen  Zentralbibliothek,  der  mit  dem  Copyright 
Office  und  dem  Smithonian  Institution  verbundenen  Library  of 
Congress,  sind  die  wissenschaftlichen  Anstalten,  insbesondere  auch 
die  Universitäten,  diejenigen  Stellen,  die  die  fördernde  Unterstützung 
der  Bibliophilen  in  den  Vereinigten  Staaten  finden.  Allerdings,  die 
älteste  Bibliothek  dieser  Art,  die  Harward  University  Library 
in  New  Cambridge,  Mass.,  die  der  Rev.  John  Harvard  1638  durch 
das  Vermächtnis  von  300  Büchern  und  der  Hälfte  seiner  Vermögens 
zu  ihrer  Ausgestaltung  und  Verwaltung  stiftete,  ist  mit  diesem  ihrem 
Grundstocke,  von  dem  sich  ein  einziges  Buch  erhalten  hat,  ver- 
schwunden. Dafür  wuchs  sie  sonst  empor.  1723  zählte  ihr  erster  ge- 
druckter Katalog,  der  älteste  Bibliotheks- Katalogdruck  in  den  Ver- 
einigten Staaten  von  Amerika,  schon  3000  Bände.  Und  im  neun- 
zehnten und  zwanzigsten  Jahrhundert  wuchsen  ihr  auch  aus  den 
Bibliophilenbibliotheken  Vermehrungen  zu.  1910  erhielt  sie  die 
vielleicht  reichaltigste  Sammlung  von  Früh-  und  Urausgaben  der 
Werke  Popes,  die  Mr.  Marshall  C.  Lefferts  zusammengebracht 
hatte.  Ähnlicher  Spenden  durften  sich  auch  die  jüngeren  Uni- 
versitäten erfreuen.  Der  Cornell  University  schenkte  und  vermachte 
Professor  Willard  Fiske,  der  über  zwanzig  Jahre  an  ihr  die  nord- 

468 


19.  JAHRHUNDERT 

europäischen  Sprachen  gelehrt  hatte,  seine  Dante-  und  Petrarca- 
reihen, dazu  seine  im  Fache  der  skandinavischen  Literaturen  be- 
sonders reiche  Bibliothek.  Und  die  Yale  University,  New  Haven, 
wurde  durch  die  Gabe  eines  Gönners  in  den  Stand  gesetzt,  über  eine 
Shakespearesammlung  sondergleichen  zu  verfügen.  Diese  berühmte, 
dem  an  ihr  bestehenden  Elizabethan  Club  gehörende,  Bücherei 
darf  eines  der  bezeichnendsten  Denkmale  amerikanischer  Bücher- 
liebhaberei, die  sich  in  Büchereistiftungen  äußert,  genannt  werden. 
Eingebettet  in  einem  Geldschrankbau  modernster  Präzisionstechnik 
liegt  das  kleine  im  Elizabethanischen  Stil  ausgestattete  Bücher- 
zimmer, das  die  kostbarsten  Reihen  der  Folios  und  Quartos  herbergt, 
die  man  hier  ohne  zu  feilschen  und  zu  sparen,  zusammentrug.  Eine 
begrenzte  Sammlung,  ein  Bibliophilenkabinett,  aber  in  seiner  Art 
großzügig  weit  angelegt  und  unterschieden  von  dem  Bric-ä-brac 
der  Kostbarkeiten  und  Seltenheiten  in  den  Vitrinen  französischer 
Amateure  des  neunzehnten  Jahrhunderts.  Denn  es  ist  eine  in  fest- 
gefügten Rahmen  ganz  geschlossene  Sammlung,  in  einer  Zeit  ziel- 
bewußt begründet  und  erweitert,  in  der  ihre  Sammlungsstücke  noch 
an  einer  Stelle  zu  vereinen  nahezu  aussichtslos  schien.  Und  doch  ist 
sie  in  verhältnismäßig  wenigen  Jahren  wenn  nicht  zum  Abschluß 
so  doch  nahezu  zur  Abrundung  gekommen;  ein  Beispiel  beherrschter 
und  von  großen  Mitteln  unterstützter  Buchpflege. 

Als  im  Jahre  1847  das  erste  nach  den  Vereinigten  Staaten  von 
Nordamerika  gelangte  Exemplar  der  zweiundvierzigzeiligen  Bibel  in 
England  für  £  500  gekauft  war,  gerieten  die  amerikanischen  und 
englischen  Zeitungen  über  den  unerhörten  Buchpreis  derart  in  Ver- 
wunderung, daß  der  Erwerber,  James  Lenox,  lange  Zeit  den  Band 
vom  New  Yorker  Zollamt  nicht  abzuholen  wagte.  Seitdem  hat  sich 
dieser  Buchpreis  verhundertfacht  und  die  amerikanischen  Bücher- 
sammler sind  es  gewöhnt  worden,  die  Antiquitäten  der  Typographie 
aus  ihren  Ursprungsländern  in  die  Vereinigten  Staaten  zu  bringen; 
einen  Inkunabelnsport  zu  üben,  der  die  Wiegendrucke  den  ameri- 
kanischen Büchersammlungen  zuführen  soll.  Doch  fehlen  neben  den 
Aufkäufern  auch  die  Ausleser  nicht,  die  Bibliophilen,  die  zu  Forschern 
aus  ihrer  Liebe  zum  alten  Buche  wurden.  Zu  ihnen  gehörte  J.  B.  Tha- 

469 


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eher  [1847—1909],  der  neben  seinen  geschäftlichen  Unternehmungen 
und  seiner  politischen  Tätigkeit  auch  als  wissenschaftlicher  Schrift- 
steller sich  auszeichnete.  Er  hatte  als  Bücher-  und  Handschriften- 
sammler die  amerikanische  Entdeckungsgeschichte  und  die  Co- 
lumbusliteratur,  die  französische  Revolution  sowie  die  Wiegendruck- 
zeit zu  seinen  Sondergebieten  erwählt.  Seine  Inkunabelnkollektion, 
in  der  ein  halbes  tausend  Druckorte  vertreten  waren,  überwies  seine 
Witwe  1910  der  Library  of  Congress  in  Washington.  Und  weiterhin 
der  General  Rush  C.  Hawkins,  in  Providence,  Rhode  Island, 
der  seit  1854  sammelnd  sich  in  die  Buchdruckgeschichte  vertiefte, 
der  nicht  ihre  glänzendsten  Schaustücke  suchte,  sondern  Stück  auf 
Stück  eine  dokumentierende  Privatbibliothek  der  Prototypo- 
graphie  zusammentrug.  Dazu  auch  mancher  andere  Bücherkenner, 
der,  wie  etwa  Theodor  de  Vinne,von  den  alten  Meistern  für  die 
Kunst  im  Buchdruck  der  Gegenwart  lernen  wollte. 

Die  amerikanische  Vorliebe  für  die  hohe  Zahl  hat  der  ,Extra- 
Illustration\  den  Buchriesen,  die  mit  tausenden  von  Bildern  aus- 
gestattet werden,  in  der  amerikanischen  Bücherliebhaberei  eine 
Sonderstellung  gegeben.  Hier  wirkten  ebenso  die  englischen  Gran- 
gerising-Methoden  ein  wie  die  Ausstattungsgewohnheiten  der  fran- 
zösischen Bibliophiliemoden  und  es  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß 
auch  die  ernsthaften  Sammler  ihr  allzustark  gehuldigt  haben  —  um 
die  übertreibenden  zu  verschweigen,  die,  Buchkostspieligkeiten  mit 
hohen  Liebhaberwerten  verwechselnd,  einzigartige  Prachtwerke  sich 
ausdachten.  Aber  ebensowenig,  wie  die  Rechnungen  über  die  Edel- 
steine der  jewelled  bindings  es  ausschließen,  daß  die  amerikanische 
Buchkunst  sich  eigenartig,  auch  sie  die  praktischen  Tendenzen  nicht 
verleugnend,  entwickelte,  daß  Buchpflege  und  Einbandliebhaberei 
einander  förderten;  ebensowenig  hat  der  Extra- Illustrationssport 
sich  lediglich  in  einem  Bücherprunk  ohne  rechten  Sinn  erschöpft. 
Er  fand,  nach  französischen  Mustern  Autograpophilie  und  Biblio- 
philie  vereinend,  eine  eigene  Richtung  in  der  Einschätzung  der  lite- 
rarischen Manuskripte;  in  dem  Zusammenfügen  von  Briefwechseln 
in  Buchform;  in  der  Zusammenstellung  sonstiger  Urkunden,  die  das 
Sammlungsgebiet  der  ,modernen*  Originaleditionen  erweiterte.    Auf 

470 


19.  JAHRHUNDERT 

diesem  sind,  weit  mehr  noch  als  in  ihrem  Mutterlande,  besonders  die 
englischen  Klassiker  des  neunzehnten  Jahrhunderts  geschätzt,  deren 
Urausgaben  in  aller  Frische  und  Vollständigkeit  der  ,  Zustände'  zu 
gewinnen  ebenso  den  amerikanischen  Büchersammler  lockt,  wie  er 
sich  müht,  diese  Reihen  durch  Autogramme  zu  vervollständigen. 
Wobei  dann  die  Spezialisten  keine  Kosten  und  Mühen  scheuen,  jedes 
Blatt  von  der  Hand  ihres  Autors,  jede  von  ihm  gebilligte  gedruckte 
Zeile  sich  anzueignen.  Daß  unter  solchen  Umständen  auch  diese 
Liebhaberwerte  ins  Ungemessene  sich  vervielfachen,  daß  selbst  John 
Pierpont  Morgan  vor  einem  begeisterten  Thackeraysammler,  Major 
W.  H.  Lambert,  in  den  amerikanischen  Bücherschlachten  der 
Jahre  1905  und  1906  die  Waffen  streckte,  ist  nicht  weiter  wunderbar. 
Und  wenn  auch  die  Preise,  die  1914  auf  der  Versteigerung  dieser 
Bücher-  und  Handschriftensammlung  gezahlt  wurden,  nicht  die 
Höhe  eines  Morganschen  Angebotes,  das  vergeblich  einige  Jahre 
vorher  für  die  ganze  Sammlung  gemacht  wurde,  erreichten,  so  waren 
sie  doch  immerhin  noch  von  solchen  amerikanischen  Dimensionen, 
daß  sie  einen  europäischen  Wettbewerb  auszuschließen  scheinen. 
Mit  einem  erheblichen  Aufwände,  doch  ohne  den  Ehrgeiz  des 
Dollarsportes,  hat  Mr.  James  Carleton  Young  in  Minneapolis 
[Minnesota]  Autograpophilie  und  Bibliophilie  in  nutzbringender 
Sammelarbeit  für  das  Buch  seiner  Zeit  vereinen  wollen.  Er  bemühte 
sich,  das  Beste  aller  Nationalliteraturen  unter  seinem  Dache  zu- 
sammenzubringen und  zwar  möglichst  in  den  Originalausgaben  sowie 
mit  Eintragungen  der  Verfasser  in  jedem  Bande  ihrer  Werke  ver- 
sehen, durch  die  sie  deren  Grundidee  oder  Zweck  erläuterten.  Um 
diese  Autogramm-Selbstanzeigen  zu  erlangen,  war  eine  ausgedehnte 
Organisation,  eine  praktische  Sammeltätigkeit  erforderlich,  deren 
Unkosten  den  gegenwärtigen  Liebhaberwert  der  meisten  von  Mr. 
Young  derart  erlangten  Bücher  weit  überstiegen  haben  werden. 
Aber  es  ist  dafür  eine  einzigartige  Sammlung  entstanden,  die  durch 
die  Jahrhunderte  fortgeführt  [sie  soll  als  Stadt-  oder  Staatsbibliothek 
erhalten  bleiben]  von  unvergleichlichem  Wert  sein  muß  und  die, 
schon  in  früheren  Jahrhunderten  begonnen  —  Mr.  Young  hat  auch 
versucht,    die    Erstausgaben    dichterischer    und    wissenschaftlicher 

471 


A  M  £  R  I  K  A   (U.  S.  A.) 

Meisterwerke  der  Vergangenheit,  soweit  sie  mit  handschriftlichen 
Eintragungen  und  Namensinschriften  ihrer  Verfasser  ihm  erreichbar 
wurden,  zu  erwerben  —  heute  schon  ein  Büchertempel  sondergleichen 
wäre.  Beides,  der  originale  Plan  und  seine  praktische  Verwirklichung, 
lassen  erkennen,  daß  die  amerikanische  Bibliophilie  keineswegs  sich 
mit  der  Wiederholung  europäischer  Sammlergewohnheiten  zufrieden 
gibt  und  daß  sie  durch  die  Ausbildung  der  Sammeltechnik  gerade  den 
Bibliophilenbibliotheken  im  Büchersammelwesen  eine  selbständige 
Stellung  schafft,  die  am  deutlichsten  in  den  größten  und  kostbarsten 
amerikanischen  Liebhaberbüchereien  erkennbar  wurde,  den  Hoe-, 
Morgan-,  Huntington-Privatbibliotheken. 

Der  Beruf  Robert  Hoes  [Juniors],*  des  Besitzers  einer  Druck- 
maschinenfabrik von  Weltrang,  brachte  ihn  in  nahe  Beziehungen 
zum  Buch  als  Druckwerk  und  ein  halbes  Jahrhundert  hindurch 
konnte  er  sich  mit  einem  großen  Aufwände  seiner  Büchersammlung 
widmen;  der  bis  dahin  hervorragendsten  amerikanischen  Privat- 
bibliothek. Aber  diese  äußeren  günstigen  Umstände  waren  es  doch 
nicht  allein,  denen  er  seinen  Bibliophilenruhm  verdankte.  Der  Be- 
gründer des  Grolier  Clubs  in  Neuyork,  der  Vorkämpfer  für  die 
amerikanische  Einbandkunst  und  Einbandliebhaerei,  ist  von  Jugend 
auf  ein  Buchfreund  gewesen  und  ist  es,  im  Verkehr  mit  seinen  Büchern 
wachsend  und  sich  weiterbildend,  bis  zu  seinem  Tode  geblieben.  Mit 
den  bibliographisch-literarhistorischen  und  den  buchgewerblichen 
Einzelheiten  der  Buchgeschichte  vertraut,  ein  fleißiger  Leser,  ein 
leidenschaftliches  Sammlertemperament,  hat  der  Schöpfer  der  Hoe 
Library  sich  mit  ihr  eine  zum  eigenen  Gebrauche  bestimmte  Lieb- 
haberbücherei errichten  wollen;  ebenso  entfernt  von  dem  patrioti- 
schen Ergeiz  einer  sozialen  Tat,  darauf  berechnet,  seinen  Namen  zu 
verewigen  wie  von  dem  leeren  Luxus  eines  Millionärsvergnügens.  Die 
Anfänge  der  Sammlung  begann  der  Jüngling  mit  seinen  Erspar- 
nissen, als  der  Greis  in  seinem  Testamente  ihre  Auflösung  bestimmte, 
durfte  er  sich  von  seinem  Katalogprachtwerk  sagen  lassen,  daß  ihm 
das  Sammlerglück  hold  gewesen  sei.  Nicht  allein  die  Kostbarkeiten 
und  Seltenheiten  des  Altbüchermarktes  zeichneten  die  Hoe  Library 
aus.    Die  Buchpflege,  die  in  ihr  geübt  wurde,  wendete  sich  gleicher- 

472  *Abb.325,  326 


19.  JAHRHUNDERT 

weise  den  Bänden  geringen  Handelswertes  zu.  Einbände  und  Er- 
haltung ihres  gesamten  Bestandes  werden  wohl  in  keiner  ähnlich 
umfangreichen  Privatbibliothek  auf  einer  derart  gleichmäßigen 
Durchschnittshöhe  gestanden  haben  wie  in  der  Hoeschen  Sammlung. 
Der  Bibliothekskomfort,  soweit  er  auf  der  Ausstattung  des  Buches 
ruht,  erreichte  in  ihr  eine  ungewöhnliche  Vollendung. 

Weshalb  Robert  Hoe  die  Sammlung,  die  ihm  in  einem  Halb- 
jahrhundert so  ans  Herz  gewachsen  war,  sich  auflösen  ließ,  hat  er 
selbst  einmal  Mr.  Beverly  Chew  erläutert,  der  dem  Versteigerungs- 
verzeichnisse diese  Erklärung  vorangestellt  hat.  Weil  Hoe  bei  seinen 
Bibliotheksstudien  erfahren  mußte,  daß  die  alten  Bücher  häufig  der 
liebevollen,  sie  erhaltenden  Pflege  in  den  großen  Sammlungen  ent- 
behrten, kam  er  zu  der  Überzeugung,  daß  sie  besser  als  ein  Erbgut 
von  Bibliophilengenerationen  aufgehoben  waren,  statt  Nummern  zu 
sein,  die  von  den  Benutzern  und  sogar  von  den  Bibliothekaren  einer 
öffentlichen  Bibliothek  vernachlässigt  würden.  Es  ist  Übertreibung 
und  ist  Wahrheit  in  diesen  Worten,  die  mehr  sagen  als  Edmond  de 
Goncourts  Wunsch,  seine  Bücher  möchten  den  Nachbesitzern  die 
gleichen  Freuden  gewähren,  die  sie  ihm  geschenkt  hätten.  Wahrheit, 
weil  die  Cimelien- Kollektionen  ohnehin  sich  dem  Allgemeingebrauche 
auch  in  den  öffentlichen  Sammlungen  verschließen  müssen,  wenn  sie 
nicht  der  Zerstörung  anheimfallen  sollen;  Wahrheit,  weil  die  Benutzer 
der  öffentlichen  Bibliotheken  das  ihnen  anvertraute  Büchergut  meist 
mißachten  und  fast  häufiger  es,  als  sie  es  gebrauchen,  verbrauchen. 
Und  deshalb  klingt  aus  dem  offenen  Bekenntnis  Hoes  auch  gegen 
die  amerikanische  Tendenz  der  Verstaatlichung  des  Bücherbesitzes 
eine  leise  Warnung  hervor:  diese,  ihr  eine  solche  Wendung  zu 
geben,  daß  der  Bibliophile  nicht  den  Aufwand  an  Mitteln,  Mühen 
und  Zeit  umsonst  vertan  sieht,  wenn  er  seinen  Büchernachlaß  als 
ein  Ganzes  erhalten,  aber  auch  gehütet  sehen  will. 

Als  John  Pierpont  Morgan  1913  starb,  hinterließ  er  die 
kostbarste  und  reichhaltigste  Privatsammlung  der  Welt.  Schon 
sein  Vater  hatte  gesammelt.  Doch  erst  ihm  blieb  es  vorbehalten, 
mit  seinen  Millionen  die  , amerikanische  Gefahr'  für  alles,  was  in 
Europa  gut  und  schön  war,  zum  geflügelten  Wort  zu  machen.    Es 

473 


A  M  £  R  I  K  A  (U.  S.  A.) 

waren  nicht  allein  die  riesigen  Summen,  die  er  in  dieses  , Geschäft* 
steckte  —  man  erzählte  sich,  daß  er  200  Millionen  für  Bibliothek  und 
Museum  ausgegeben  habe  —  die  ihn  zum  unbestrittenen  Herrscher 
des  Sammelmarktes  werden  ließen.  Es  war  das  für  das  Sammeln  von 
ihm  befolgte  System,  das  ihn  unüberwindlich  machte.    Mochte  er 
überall  auch  ein  Kenner  und  Liebhaber  der  Sammlungen  gewesen 
sein,  die  er  erstehen  ließ  oder  nicht.   Er  vertraute  nicht  auf  die  eigene 
Kennerschaft,  sondern  umgab  sich  mit  Sachverständigen,  die  für  ihn 
wählten,  die  ihm  von  überallher  das  erlesenste  Sammlergut  heran- 
schaffen mußten,  die  die  Pläne  für  den  Ausbau  dieser  gewaltigen 
Sammlung  zu  entwerfen  und  auszuführen  hatten.    Die  Geldmacht 
verband  sich  in  Morgan  mit  dem  wissenschaftlichen  Betriebe  einer 
einheitlichen  und  vielseitigen  Bibliotheks-  und  Museumsleitung  und 
mit  kaufmännischer  Klugheit  und  Zähigkeit.    Morgan  ist  vielleicht 
der  entschlußfreudigste  Käufer  gewesen,  den  es  je  gegeben  hat.    Er 
zahlte  auch  die  höchsten  Summen,  die  von  ihm  gefordert  wurden, 
ohne  sich  allzuviel  zu  bedenken,  Phantasiepreise.    Und  doch  hat  er 
sich  fast  niemals  verrechnet.    So  stark  ist  in  ihm  die  Fähigkeit  ge- 
wesen,  das  Geschäft  zu  beurteilen,   das  er  machen  wollte;  soweit 
reichte  der  Überblick  über  seine  Sammlungen,  um  jederzeit  zu  wissen, 
wo  er  ihnen  eine  wichtige  Vermehrung  zuwenden  könne.    Und  eben 
dadurch  konnte  er  mehr  als  ein  Aufkäufer,  konnte  er  gleichzeitig 
ein  Ausleser  werden.    Denn  die  Angebote,  die  man  einem  Morgan 
unterbreitete,  mußten  auch  für  ihn  lohnend  sein,  das  wußten  alle, 
die  sich  mit  solchen  an  ihn  wendeten.    Einen  kleinen  Marmorpalast 
hat  Morgan  seiner  Privatbibliothek  in  Neuyork  erbaut.    Hier  wurden 
die  Druckwerke  und  Handschriften  aufgestellt,  die  er  in  seinen  Besitz 
gebracht  hatte;  eine  Büchersammlung,  die  verhältnismäßig  sehr  viel 
wertvoller  als  zahlreich  war.    In  ihrem  Heiligtum,  dem  Stahlzimmer, 
reihten   sich   die   erlesensten   Stücke   aneinander;   Stücke,   die  man 
vielleicht    noch    in    europäischem    Familien-    oder    Sammlerbesitz 
wähnte,  während  sie  längst  in  Morgans  Privatbibliothek  standen. 
Allzuviel  hat  sich  Morgan  nicht  aus  dem  Sammlerruhm  gemacht, 
ihm  genügte  es,  selbst  zu  wissen,  daß  der  Spinne  in  ihrem  goldenen 
Netz  die  Beute  nicht  entgangen  sei.    Er  verhinderte  sogar  die  Be- 

474 


19.  JAHRHUNDERT 

Schreibungen  seiner  Bibliothek,  bis  er  in  der  Folge  seiner  Katalog- 
prachtwerke auch  deren  Verzeichnisse  veröffentlichen  ließ,  die  mit 
einem  Male  auch  den  Einblick  in  seine  Bücherschatzkammer  ver- 
gönnten. Unnütz  wäre  es,  Einzelheiten  nach  ihrem  Preis  und  Wert  zu 
schätzen.  Doch  auch  die  Büchersammlung  als  ein  Ganzes  läßt  sich 
nicht  kennzeichnen,  wenigstens  mit  kurzen  Schlagworten  nicht.  Denn 
das  Einzelstück  hat  in  ihr  eine  viel  weitere  Geltung,  als  es  bis  dahin 
in  den  meisten  Büchersammlungen  gewinnen  konnte.  Und  dennoch 
fügen  sich  diese  Einzelstücke  zu  vollständig  werdenden  Reihen  zu- 
sammen; entsteht  aus  ihnen  eine  fest  werdende  Sammlung,  von  deren 
Umgrenzung  es  sich  kaum  sagen  läßt,  ob  sie  da  oder  dort  zu  eng  oder 
zu  weit  wurde.  Eine  Auswahlsammlung  ist  Morgans  Privatbiblio- 
thek geblieben,  eine  Auswahlsammlung  höchster  Reichhaltigkeit  und 
höchsten  Reichtums.  Sie  ist  die  Essenz  der  Bibliophilenbibliotheken 
zweier  Jahrtausende,  auf  den  schönsten  Wohlgeschmack  amerika- 
nisch-englischer Bücherliebhaberei  gebracht.  Morgan  hat  manche 
Bibliophilenbibliothek  gekauft,  die  von  Bennet,  Geo.  B.  de  Forest, 
Toowey;  er  hat  indessen  auch  aus  ihnen  nur  eine  Auslese  getroffen, 
wie  er  vor  und  während  der  Auflösung  vieler  Liebhaberbüchereien 
deren  Schätze  sich  sicherte,  die  Amherst  Caxtons,  die  Foulcschen 
Ornamentwerke  usw.  Dieses  Sammlungsverfahren  war  weder  neu 
noch  amerikanisch.  Neu  war  nur  die  großzügige  Weise,  in  der  es 
gehandhabt  wurde;  die  Art,  in  der  es  sich  nicht  in  den  Dubletten- 
kalkulationen verlor,  sondern  kurzerhand  ideelle  Gewinnrechnungen 
mit  materiellen  Verlustrechnungen  ausglich,  wobei  dann  letzten 
Endes  doch  auch  der  Einkauf  lohnend  wurde.  Die  zehn  Millionen 
Dollars,  die  die  Morgan-Privatbibliothek  gekostet  haben  soll,  sind 
sicher  in  ihr  angelegt  worden:  die  Rechnung  stimmte. 

Der  Hauptkäufer  der  Hoe-Auktion  war  Henry  E.  Hunting- 
ton, der  das  amerikanische  Sammelverfahren  in  seiner  schärfsten 
Ausprägung  verkörpert.  Nachdem  er  in  reifen  Jahren  den  Ent- 
schluß gefaßt  hatte,  eine  Bücherei  zu  gründen,  in  der  die  Haupt- 
werke des  Weltschrifttums  in  ihren  besten  Ausgaben  und  in  deren 
besten  erreichbaren  Exemplaren  zusammenkommen  sollten,  gab  er 
ihr  die  Grundlage,  indem  er  sich  einen  Apparat  bibliographischer 

475 


AMERIK  A  (U.  S.  A.) 

und  bibliothekarischer  Technik  schuf  —  die  geschäftlichen  Er- 
fahrungen fehlten  dem  mächtigen  Kaufherren  ebensowenig  wie  die 
erforderlichen  Mittel  —  der  ihren  wissenschaftlichen  Ausbau  ge- 
währleistete und  ihr  gewissermaßen  die  Einrichtungen  eines  Buch- 
f orschungs  -  Instituts  gab,  das  gleicherweise  den  Ausgabenunter- 
suchungen wie  der  Beschaffung  der  Bücher  dienstbar  gemacht 
werden  konnte.  Welche  Bücher  zu  gewinnen  waren  und  wo  sie  zu 
gewinnen  waren  in  planmäßiger  Arbeit,  das  war  die  Frage,  deren 
Lösung  nun  versucht  wurde.  Anders  als  das  Sammeln  und  Sichten 
früherer  Tage  mit  ihrem  Vertrauen  auf  Glück  und  Zufall  erscheint 
diese  neue  Art,  in  die  Gelegenheiten  Ordnung  und  Regelmäßigkeit 
zu  bringen.  Das  war  freilich  nur  möglich  durch  ein  systematisches 
Aufkaufen  und  Auswählen.  Einzelstücke  und  ganze  Sammlungen 
wurden  dem  Bestände  der  Huntington  Library  zugeführt,  die  in 
ständiger  Erneuerung  sich  verbessernd  emporwuchs.  Schlechteres 
wurde  durch  Besseres  ersetzt;  die  Doppelstücke,  das  nicht  Geeignete, 
häufig  von  hohem  Wert,  nutzbringend  oder  doch  ohne  allzu  große 
Verluste  weitergeleitet.  Derart  verband  sich  auch  eine  nicht  geringe 
kaufmännische  mit  der  Sammeltätigkeit,  die  rückwirkend  sogar 
einen  Einfluß  auf  Altbüchermarkt  und  Preise  übte.  Denn  wenn  hier 
der  Sammler  die  größten  Kostbarkeiten  und  Seltenheiten  in  mehreren 
Exemplaren  in  seiner  Hand  vereinte,  mußte  er  es  ebenso  vermeiden, 
sie  auf  einmal  wieder  dem  Büchermarkt  zuzuführen,  wie  er  ihn  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  zu  monopolisieren  und  zu  regulieren,  etwa 
durch  Tauschgeschäfte,  in  der  Lage  war.  Mit  anderen  Worten:  der 
Büchersammler  mußte  auch  zum  Altbuchhändler  werden,  nicht  in 
der  Art  des  amateur-marchand,  der  mehr  oder  minder  durch  seine 
bibliographischen  Spekulationen  Geld  gewinnen  will;  sondern  in  der 
Art  eines  Sammlers,  der  nicht  verschwenderisch,  sondern  wirtschaft- 
lich sein  Büchergut  mehrt.  Altbuchhandel,  Bücherkunde  und 
Bücherliebhaberei  zu  einer  neuen  Form  des  Büchersammelwesens 
verbunden  ist  für  die  bedeutendste  amerikanische  Bibliophilen- 
bibliothek  des  zwanzigsten  Jahrhunderts  kennzeichnend.  Ob  damit 
den  Bibliophilenbibliotheken  überhaupt  neue  wirtschaftliche  und 
wissenschaftliche  Entwicklungsformen  vorgezeichnet  werden? 

476 


19.  JAHRHUNDERT 

Wie  in  den  Tagen,  da  die  Buchdruckerfindung  von  dem  Buche 
als  dem  Hüter  einer  Schrifttumsüberlieferung  die  Druckerzeugnisse 
der  Presse  trennte,  verweisen  mancherlei  Anzeichen  des  geistigen 
Gefüges  der  Kultur  unserer  Gegenwart,  mancherlei  Entdeckungen, 
die  die  Übermittlung  von  Bild  und  Wort  erweiterten  und  die  gleich- 
zeitig eine  Umgestaltung  der  Aufbewahrung  des  Gedankengutes 
der  Menschheit  zu  verkünden  schienen,  auf  mögliche  Veränderungen 
im  Buchwesen.  Die  Bibliotechnik  in  allen  ihren  Zweigen,  die  der  Buch- 
gestaltung und  der  Buchnutzung  dient,  ist,  von  der  Bücherherstellung 
und  dem  Büchervertriebe  bis  zur  Bücherverwertung  in  den  Büche- 
reien in  einem  Halbjahrtausend  auf  einen  Höhepunkt  gelangt.*  Ob 
er  den  Abschluß  einer  alten,  den  Anfang  einer  neuen  Entwicklung 
bezeichnet,  läßt  sich  noch  nicht  erkennen.  Wir  wissen  noch  nicht, 
wie  das  Buch  der  Zukunft  aussehen,  welche  Wege  es  die  Bücher- 
liebhaberei und  das  Büchersammelwesen  führen  wird.  Aber  wenn 
wir  uns  mit  den  modernen  Problemen  beschäftigen,  für  die  ein  Be- 
griff des  Buches  nicht  mehr  hinzureichen  scheint,  ahnen  wir  eine 
Bücherdämmerung. 


477 


VIII.  AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN 

Allmählich  hegannen,  seit  dem  sechzehnten  Jahrhundert,  in  den 
Büchersammlungen   sich   die  Druckschriften   von   den  Hand- 
schriften zu  trennen.    Diese  Unterscheidung  vollzog  sich  zunächst 
äußerlich,  bibliothekstechnisch,  da  die  Dokumente  und  Manuskripte 
ihrer  Art  und  Bestimmung  nach  bibliographisch  von  den  Druck- 
werken abzusondern  waren;  bis  sie  dann  überhaupt  ihrem  Wert  und 
ihrer  Zahl  nach  in  den  Beständen  der  Privatbibliotheken  zu  Aus- 
nahmen wurden.    Andererseits  bekamen  die  Archivalien,  mochten 
sie  nun  Familien-  oder  Gelehrtenpapiere  sein,  die  Bedeutung  eines 
sich  immer  mehr  der  Büchersammlung  entfremdenden   Zubehörs; 
bis  sie  dann  ganz  und  gar  als  besondere  Sammlungen  betrachtet 
wurden.    Derart  entwickelten  sich  die  Autogrammsammlungen  aus 
den    Briefsammlungen    [Briefwechsel    der    Gelehrten,    geschriebene 
Zeitungen]    und    den    Urkundensammlungen    [Familien-    und    Ge- 
schäftsschriften], indem  an  die  Stelle  der  bisher  vorwiegenden  Fa- 
milien- und  Personalinteressen  weiterreichende  vorwiegend  wissen- 
schaftliche Zwecke  auf  die  neuen  Formen  des  Handschriftensammelns 
führten.    Das  alles  läßt  sich  an  der  Entstehung  der  Handschriften- 
abteilungen  der  Bibliotheque   Nationale  und  der  British  Museum 
Library  genauer  verfolgen.   Während  jedoch  die  alten  und  die  älteren 
großen  öffentlichen  Bibliotheken  mehr  durch  eine  Neuordnung  und 
Neuwertung  ihrer  frühen   Bestände  auch  zu   Handschriftensamm- 
lungen größten  Umfanges  wurden  als  durch  spätere  Erwerbungen 
und  Fortführungen,  die  sich  gelegentlich  und  zufällig  gestalteten, 
konnte   die   Einschränkung   des   Marktes   eine   allgemein   angelegte 
Manuskriptbibliothek  für  den  Büchersammler  überhaupt  kaum  noch 
möglich  werden  lassen.    Denn  einerseits  verringerte  sich  das  Angebot 
der  guten  Stücke  immer  weiter,  andererseits  wurde  deren  Liebhaber- 
preis immer  höher;  so  daß   der  Aufbau  einer  Buchhandschriften- 
sammlung heute  lediglich  zu  einer  Auswahl  von  buchgeschichtlichen 
und    buchkunstgeschichtlichen    Probestücken    werden    kann.     Das 
bibliographisch-literarhistorische  Moment  tritt  dabei  für  die  früheren 
Jahrhunderte  weit  zurück  und   gewinnt   erst  für  die  literarischen 

478 


AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN 

Manuskripte  der  neueren  Zeit  [etwa  seit  dem  siebzehnten  Jahr- 
hundert] in  Verbindung  mit  den  Autogrammkollektionen  eine  er- 
heblichere Geltung.  Andrerseits  hat  die  Ausbreitung  der  Buchkunst 
die  kalligraphischen  Meisterleistungen  richtiger  schätzen  gelehrt, 
und  in  der  Form  des  Liebhaberstückes,  der  Buchhandschrift  neue 
Freunde  gewonnen,  die  die  nie  ganz  und  gar  vergessen  gewesene 
Tradition  des  Bibliophilen-Manuskriptes  weiterführen. 

Daß  am  Ende  der  Handschriftenzeit  für  den  Sammler  der 
Seltenheiten  der  Vergangenheit  noch  einmal  die  Erscheinung  einer 
Bücherei  möglich  war,  die  die  umfangreichste  Manuskriptprivat- 
bibliothek wurde,  die  es  seit  dem  Altertum  gegeben  hat,  erklärt  sich 
einmal  daraus,  daß  in  ihre  hunderttausend  Nummern  auch  die  Auto- 
gramme und  Dokumente  einbegriffen  waren,  daß  die  Manuskripte 
nicht  ausschließlich  mitzählten.  Sodann  daraus,  daß  die  Auflösung 
den  vielen  alten  Archive  und  Bibliotheken  um  1800  damals  den 
Markt  überreich  versorgt  hatte. 

Thomas  Carlyle  hat  den  deutschen  Professor  Diogenes  Teufel- 
schröckh  zum  Mittelpunkt  des  „Sartor  Resartus"  gemacht,  jenen 
seltsamen,  in  seiner  Bücherkammer  verkommenen,  weltentfremdeten 
Mann;  dieses  als  Gegenstück  zum  Begriff  des  englischen  gentleman 
um  1830  von  einer  geistreichen  Feder  aufgescheuchte  Gespenst.  Des 
Absonderlichen  Lebensart  und  Lebensgewohnheiten  hätte  Carlyle 
auch  in  England  finden  können.  Auch  hier  erlustigten  sich  mit  ihren 
Dingen  allerlei  Figuren,  die  zu  den  menschlichen  Merkwürdigkeiten 
gehörten.  Nur  daß  bei  ihnen  der  erstaunliche  Wesenszug  sich  viel 
weiter  ausdehnte;  ihre  bewußte  Einseitigkeit  und  unbewußte  Grillen- 
haftigkeit beinahe  zu  einer  gigantischen  Groteske  wurde. 

Damals,  als  Diogenes  Teufelschröckh  im  Buche  Carlyles  zu 
seinem  langen  Leben  erwachte,  lebte  in  England  der  Handschriften- 
sammler Sir  Thomas  Phillips,  Bart.  [1792—1872],  die,  ihn 
wenigstens,  vollkommen  beglückenden  ersten  Jahrzehnte  seines 
langen  Lebens,  das  er  ausschließlich  dazu  benutzt  hat,  alte  Hand- 
schriften aufzukaufen.  Unter  den  Büchersammlern  nicht  nur 
seines  Landes  hat  er  einen  hohen  Rang  gewonnen  und  an  Nach- 
richten über  seinen  Besitz  und  ihn  selbst  fehlt  es  nichts    Aber  ein 

479 


AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN 

Bild,  das  ein  unbefangener,  weil  von  keiner  Sammelleidenschaft  an- 
gekränkelter, Mann  von  ihm  in  seinem  Reisetagebuche  entwarf,  ist 
trotz  der  lebenswahren  Züge,  die  es  trug,  fast  unerkannt  vergessen 
worden,  obschon  es  in  der  Abschilderung  des  einzelnen  auch  die  Gat- 
tungsmerkmale geschickt  hervorzuheben  verstand. 

Auch  über  die  „Sammlungen  und  Sammler  in  England*'  hat  der 
deutsche  Reiseschriftsteller  Johann  Georg  Kohl  [1808—1878]  be- 
merkenswerte Beobachtungen  gemacht  und  veröffentlicht.  Der  viel- 
gewanderte Mann  bekannte  sich  nicht  nur  als  einen  Bewunderer  des 
Reichtums  von  literarischen,  Natur-  und  Kunstschätzen,  die  die  Eng- 
länder an  allen  Ecken  und  Winkeln  ihrer  schönen  Insel  aufgehäuft 
haben,  sondern  erklärte  auch  die  Ursache  dieser  Erscheinung  kurz 
und  richtig.  „Wer  von  irgendeiner  Gattung  oder  Klasse,  von  in 
irgendeiner  Beziehung  interessanten  Gegenständen  das  Vollkom- 
menste und  Vollständigste  sehen  will,  der  muß  nach  England  reisen. 
Denn  die  Engländer  sind  jetzt,  wie  es  einst  die  Römer  waren,  in  der 
vorteilhaftesten  Lage,  um  die  gesamte  Natur  und  Menschheit  auszu- 
beuten. Ihre  Konnexionen  gehen  über  den  ganzen  Globus  und  Geld 
haben  sie  in  Fülle.  Auch  besitzen  sie  sonst  alle  Sammlern  nötigen 
Eigenschaften  und  Anlagen.  Durch  Ausdauer  sind  sie  in  so  eminentem 
Grade  ausgezeichnet,  daß  meistens,  wenn  sie  einmal  ihren  Sinn  auf 
etwas  gesetzt  haben,  sich  ihrer  eine  ganz  fixe  Idee  dafür  zu  bemäch- 
tigen pflegt.  Dabei  üben  sie  auch  die  gehörige  Beschränkung,  um 
erfolgreich  zu  sein.  Häufiger  als  bei  irgendeinem  anderen  Volke  wer- 
fen sich  ihre  Liebhabereien  auf  etwas  ganz  Spezielles,  auf  diese  oder 
jene  kleine  Gattung  oder  Klasse  der  zahlreichen  sammelbaren  Dinge 
des  Globus. 

Ein  englischer  Büchersammler  widmet  sich  daher  selten  dem 
ganzen  weiten  Felde  der  Literatur,  vielmehr  hat  er  gewöhnlich  nur 
eine  gewisse  Sorte  von  Büchern  aufs  Korn  genommen,  zum  Beispiel 
die  Bibeln.  Für  alles,  was  Bibel  ist,  schwärmt  er,  für  jede  Bibel  in 
irgendeinem  Formate,  in  irgendeiner  Sprache,  von  irgendeinem 
Datum  zahlt  er  die  größten  Preise.  Für  alle  andern  Bücher,  die  nicht 
Bibel  sind,  ist  dann  ein  solcher  kalt  und  unempfindlich.  Und  der 
englische  Sammler  von  Naturprodukten  macht  nicht  den  Versuch, 

480 


AUTOGBAMMKOLLEKTIONEN 

das  ganze  weite  Naturreich  auf  einmal  zu  erstürmen,  er  faßt  die 
Schöpfung  vorerst  bei  einem  kleinen  Zipfel  an,  dessen  er  sich  be- 
mächtigt und  den  er  mit  alles  andere  [und  alle  anderen,  ist  hinzu- 
zufügen] ausschließender  Leidenschaft  für  den  Raum  des  Sports- 
manns ausbeutet.  So  kennt  man  in  England  den  Mann,  der  die  un- 
vergleichlichsten Kolibris  besitzt,  ebenso  wie  den  Eigentümer  des 
größten  Palmenhauses,  wie  den  in  römischen  oder  sächsischen  Mün- 
zen von  niemand  übertroffenen.  Ob  Lord  Elgin  die  Akropolis  von 
Athen  nach  Hause  mitnimmt  oder  Lord  Harrington  aus  der  Fa- 
milie der  Stanhope  sich  eine  ganz  unvergleichliche  Sammlung  von 
zweihundert  in  ebenso  viel  kostbaren  Porzellangefäßen  unter- 
gebrachten Schnupf tabaksorten  anlegt,  bleibt  im  Grunde  gleich; 
das  englische  Raritätenkabinett,  mag  es  nun  ein  Museum  sein  oder 
in  eine  kleine  Schublade  hineingehen,  ist  eine  allgemein  anerkannte 
Erscheinung  des  gesellschaftlichen  Lebens,  selbst  dann,  wenn  es 
seinen  Besitzer  den  anderen  Äußerungen  dieses  Lebens  entfremdet 
und  entzieht." 

So  hat  Kohl  eine  damals  in  England  berühmte  Manuskripten- 
sammlung mit  einem  gelehrten  Freunde  besichtigt,  um  an  dieser 
und  an  einer  anderen  Sammlung  noch  sich  das  Beispiel  englischen 
Sammelsports  zu  verdeutlichen.  Die  Schilderung  der  Expedition 
zum  Heiligtum  jenes  Herrn,  den  er  Sir  Charles  nannte  und  der  kein 
anderer  als  Sir  Thomas  Phillipps  gewesen  sein  kann,  übertreibt 
keineswegs  allzusehr  die  Gewohnheiten  dieses  Aufraffers  und  Auf- 
stöberers sondergleichen,  der  aber  auch  ein  Handschriftenretter 
sondergleichen  gewesen  ist. 

„Sir  Charles,  der  Manuskriptensammler,  lebte  in  einem  alten 
Landhause  in  einer  Grafschaft  der  westlichen  Gegenden  von  Eng- 
land [Thirlestaine  House,  Cheltenham]  ...  Zu  ihm  waren 
die  Zugänge  sehr  schwer,  wie  denn  in  England  alle  Wege  und  Stege, 
die  zu  interessanten  Dingen  fähren,  überall  mit  Schlagbäumen  be- 
setzt sind.  Wie  ihre  schönen  Parks  und  Schlösser  und  Gärten  mit 
allerlei  Hecken  und  eisernen  Gittern  und  Toren,  so  umgeben  die 
eifersüchtigen  Sammler  des  Landes  auch  ihre  Museen  mit  Hinder- 
nissen mancherlei  Art.    Wie  die  Engländer  überhaupt  recht  häufig, 

BOGENO   81  481 


AÜTOGRAMMKOLLEKTIONEN 

SO  sind  denn  auch  namentlich  die  englischen  Kuriositätensammler 
von  Haus  aus  in  gewissem  Grade  Sonderlinge  und  Originale,  und  ge- 
wöhnlich aus  irgendeinem  Grunde  mit  der  Welt  zerfallen  und  der 
Gesellschaft  und  den  zudringlichen  Besuchern  gram. 

Sir  Charles  hatte  sich,  so  sagt  man,  sogar  mit  seiner  Familie 
überworfen.  Eine  oder  ich  glaube  gar  zwei  seiner  Töchter  hatten  sich 
gegen  seinen  Willen  und  ohne  seine  Zustimmung  verheiratet.  Sie 
mußten  sein  Haus  deshalb  meiden,  und  da  er  keine  andern  Kinder 
mehr  besaß,  so  überließ  er  sich  daher  seiner  Leidenschaft  für  alte 
seltene  Bücher  in  ganz  unbegrenzter  Weise,  dachte  nicht  daran, 
was  er  seinen  Erben  hinterlassen  möchte,  und  steckte  sein  ganzes 
Vermögen,  man  sagte  über  150000  Pfund  Sterling,  in  alte,  seltene 
Papiere. 

Mit  diesem  seinem  papiernen  Schatze  lebte  er  einsam  und  zurück- 
gezogen wie  ein  Ritter  mit  seiner  entführten  Geliebten,  auf  einem  ent- 
legenen Schlosse,  eifersüchtig  auf  seinen  Besitz  und  ohne  den  Wunsch, 
seinen  Genuß  mit  anderen  zu  teilen.  Nur  Bücherhändler,  An- 
tiquare und  Raritätenkrämer,  mit  denen  er  handeln  und  tauschen 
konnte,  fanden  leichten  Zutritt  bei  ihm.  Müßigen  Beschauern  und 
bloß  wißbegierigen  und  neugierigen  Gelehrten  oder  Literaturfreunden 
öffnete  er  nicht  gern  sein  Haus. 

Ich  glaube,  er  hatte  dafür  noch  einen  andern  Grund.  Obwohl 
er  wirklich  viele  der  allerseltensten  Sachen  besaß,  rare  Drucke,  Unika, 
Inkunabeln,  Urhandschriften,  um  die  ihn  selbst  das  Britische  Mu- 
seum beneiden  konnte,  so  war  er  doch  im  Grunde  mehr  Laie  und 
Liebhaber  als  Kenner  und  Gelehrter.  Er  hatte  daher  eine  gewisse, 
allen  Autodidakten  eigene  Scheu  vor  Männern  vom  Fache  und  ließ 
sich  nicht  gern  in  die  Karten  gucken.  Man  mußte  auf  allerlei  Quer- 
und  Kreuzwegen  zu  ihm  gelangen.  Mein  besagter  Freund,  der  die 
Sammlung  zu  benutzen  wünschte,  mußte  sich  erst  bei  dem  Lord  H. 
vorstellen  lassen.  Dieser  Lord  H.,  ein  lintimus  von  Sir  Charles, 
mußte  ihn  und  meinen  Freund  und  auch  mich  erst  zu  einer  Soiree 
einladen.  Da  mußten  wir  uns  alle  treffen  und  da  mußte  unter  der 
Ägide  hoher  Protektion  der  Pakt  geschlossen  werden,  der  uns  die 
Erlaubnis  zur  Besichtigung  der  Sammlungen  gab.  - 

482 


AUTOGRAMM KOLLEKTIONEN 

Wir  durchflogen  halb  England  per  Eisenbahn,  bis  in  die  Graf- 
schaft, in  der  unser  einsiedlerischer  Manuskriptenmann  hauste.  Dann 
gab  es  eine  leidliche  Chaussee  bis  zu  einem  gewissen  Städtchen  dieser 
Grafschaft.  Von  da  an  wurden  die  Wege  immer  schlechter  und  zuletzt 
konnten  wir  nur  noch  mit  einem  einspännigen  sogenannten  ,Dog-Car' 
[Jagdwagen]  aus  der  Stelle  kommen  und  zum  Ziele  gelangen. 

Es  war  offenbar,  daß  Sir  Charles  den  Zugang  zu  seinem  Wohn- 
sitze und  zu  seiner  Sammlung  nicht  erleichtern  wollte.  Es  gehörte 
Beharrlichkeit  dazu,  zu  ihm  durchzudringen.  Endlich  verlor  sich 
der  Weg  ohne  besonders  markierten  Übergang  aus  dem  Felde  und 
aus  der  Wildnis  in  ein  bißchen  gartenhaftes  Gebücsh,  und  da  prä- 
sentierte sich  ohne  alle  weitere  Vorrede  —  für  die  Ordnung  und  Aus- 
schmückung seines  Parks  und  Blumengartens  hatte  Sir  Charles  nie 
einige  Zeit  und  Neigung  gefunden  —  das  Haus,  von  oben  bis  unten 
vollgepfropft  mit  Manuskripten  und  Büchern.  Rouleaux  und  Gar- 
dinen gab  es  nicht.  Dagegen  glotzten  uns  die  im  Innern  auf- 
getempelten  Bücherkasten  schon  von  weitem  mit  ihren  Enden  aus 
jedem  Fenster  entgegen.  Und  diese  sonderbare  Erscheinung  war 
gleich  eines  der  ersten  Dinge,  welche  Sir  Charles,  nachdem  wir  ein- 
getreten waren  und  er  uns  bewillkommnet  hatte,  erklärte.  Er  sagte 
uns,  er  lebe  in  beständiger  Furcht  vor  einer  Feuersbrunst  und  er 
habe  daher  diejenige  Erfindung  gemacht  und  die  Vorrichtung  ge- 
troffen, die  wir  da  vor  den  Fenstern  sähen.  Es  waren  lauter  kleine 
längliche  Kasten,  etwa  so  groß,  als  sie  ein  Mann  leicht  handhaben 
und  bewegen  konnte.  In  jedem  derselben  waren  einige  derjenigen 
Werke  enthalten,  welche  Sir  Charles  für  Hauptpretiosen  hielt.  Sie 
waren  alle  verschlossen  und  zu  jedem  hatte  der  Besitzer  einen 
Schlüssel.  Viele  solcher  Kasten  standen  in  anderen  Räumen  des 
Hauses  herum,  so  daß  sie  im  Falle  eines  ausbrechenden  Feuers  von 
Sir  Charles  selbst  oder  von  einem  seiner  Leute  schnell  aufgenommen 
und  zum  Hause  hinausgeschleppt  werden  konnten.  Denjenigen, 
welche  vor  den  Fenstern  selbst  standen,  brauchte  man  nur  von  hinten 
einen  Stoß  zu  geben,  um  sie  sogleich  aus  dem  brennenden  Hause  ins 
Freie  zu  stürzen.  Man  kann  sich  denken,  daß  bei  einem  solchen, 
bloß  auf  die  Möglichkeit  einer  Feuersbrunst  berechneten  Aufstellungs- 

»i*  483 


AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN 

Systeme  die  organische  und  rationelle  Ordnung  in  der  Sammlung 
nicht  groß  sein  konnte.  Nur  Sir  Charles  selbst,  der  ein  ausgezeich- 
netes Gedächtnis  für  seine  Schätze  und  einen  großen  Lokalsinn  für 
sein  Haus  besaß,  konnte  sich  darin  zurechtfinden. 

Übrigens  war  seine  Furcht  vor  Feuer  allerdings  nur  zu  sehr  be- 
gründet; denn  die  ganze  Wohnung,  nicht  nur  alle  Zimmer,  sondern 
auch  der  Hausraum,  bis  zur  Küche  hin,  die  Treppen,  auch  alle  Schlaf- 
stuben waren  mit  Büchern  und  Dokumenten  und  Papieren  bepackt, 
besteckt  und  vollgepfropft,  so  daß  man  in  keinen  Winkel  mit  einem 
Licht  hineinleuchten  konnte,  ohne  auf  solche  leicht  entzündliche  und 
dabei  kostbare  Stoffe  zu  stoßen. 

Sir  Charles  hatte  anfänglich,  wie  man  es  bei  andern  gewöhn- 
lichen Literaturfreunden  in  England  immer  findet,  bloß  ein  einziges 
Bibliothekzimmer  zur  Aufbewahrung  seiner  Schätze  benutzt.  Als 
seine  Sammlung  größer  wurde  und  das  Bibliothekzimmer  endlich 
ganz  angefüllt  war,  mußte  sich  auch  der  Speisesaal  für  die  Bücher 
eröffnen. 

Und  da  Sir  Charles  nicht  nachließ,  Manuskripte  und  Bücher 
aufzutreiben  und  zusammenzukaufen,  da  seine  Leidenschaft  dafür 
wie  eine  Krankheit  wuchs,  so  griff  auch  in  seinem  Haushalte  die 
wuchernde  Sammlung  wie  ein  Krebsschaden  mehr  und  mehr  um 
sich.  Sie  drang  in  alle  Räume  der  Wohnung,  in  alle  Gaststuben, 
Vorratskammern  und  Schlaf  gemacher  ein;  sie  quartierte  sich  heben 
dem  Bettzeuge  in  den  Leinenschränken,  neben  den  Bechern  und 
Flaschen  in  den  Glasschränken  ein. 

Auch  in  den  Kellerräumen,  in  denen  Sir  Charles  einmal  [1822] 
eine  Druckerpresse  [die  Middle  Hill  Press]  errichtete,  weil  er  den 
Gedanken  gefaßt  hatte,  mit  Hilfe  seiner  Leute  einen  Katalog  seiner 
Sammlung  zu  entwerfen  und  drucken  zu  lassen,  lagen  Berge  von 
Literatur  aufgehäuft.  Ein  paar  Bogen  jenes  Kataloges  wurden 
allerdings  auch  im  Laufe  eines  Jahres  fertig  gebracht.  Aber  dies 
Unternehmen  war  zu  herkulisch.  Sir  Charles  und  seine  Leute  konnten 
nicht  damit  durchkommen  und  die  Druckerpresse  stand  nun  ruhig, 
arbeitslos,  verstäubt  im  Keller  neben  den  Kartoffeln  und  dem 
Waschtroge. 

484 


AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN 

Zur  Zeit  unseres  Besuches  bei  Sir  Charles  hatte  dieser  wie 
Goethes  Zauberlehrling  von  einer  durch  ihn  selbst  herauf- 
beschworenen Flut  bedrängte  Mann  —  nur  noch  in  einer  einzigen 
Stube  einen  Winkel  ganz  frei  von  Büchern  und  Papieren.  Es  war 
in  einem  der  vorderen  Gemächer,  das  nun  sowohl  als  Empfangs-  und 
Gesellschaftssalon,  wie  auch  als  Speise-  und  Teezimmer  für  die 
Hausgenossenschaft  dienen  mußte. 

In  diesem  Zimmer,  dessen  Wände  übrigens  ebenfalls  noch  etwas 
mit  Büchern  austapeziert  waren,  standen  noch  ein  paar  freie  Stühle, 
ein  leeres  Sofa  und  ein  bücherloser  Tisch,  und  an  diesem  Tische  — 
einer  sehr  kleinen  bücherlosen  Oase,  einer  bescheidenen  trockenen 
Stelle  in  der  allgemeinen  Papierüberschwemmung  —  saßen  und  ver- 
kehrten wir  den  ganzen  Tag.  Es  war  unsere  Frühstücks-,  Tee-  und 
Mittagstafel,  zugleich  auch  unser  Schreib-  und  Arbeitstisch,  und  in 
den  Zwischenzeiten  breitete  Sir  Charles  auf  ihm  auch  die  Raritäten 
aus,  die  er  uns  zeigen  wollte  und  die  er  aus  seinen  Kisten  und  Kasten 
und  aus  verschiedenen  uns  ganz  unzugänglich,  geheimnisvoll  und 
verborgen  gebliebenen  Winkeln  seines  Hauses  zusammenholte. 

Auch  die  Schlafstuben  der  Gäste,  sagte  ich,  waren  mit  raren 
Büchern  angefüllt.  Auf  den  Stufen  der  Treppen,  die  in  die  oberen 
Räume  des  Hauses  führten,  lagen  sie  überall  an  den  Seiten  hoch 
aufgetempelt  und  man  hatte  kaum  soviel  Spatium,  um  auf  den  Fuß- 
spitzen und  mit  aufgehobenen  Rockstößen  hindurch  zu  stelzen  und 
zu  klettern. 

Bis  weit  über  Mitternacht  hinaus  hatte  ich  dabei  die  schönste 
Beschäftigung  und  interessanteste  Unterhaltung.  Als  ich  mich  end- 
lich ins  Bett  gelegt  hatte  und  zufällig  unter  dasselbe  hinuntergriff, 
traf  meine  Hand  auch  hier  auf  ganze  Haufen  großer  Kupferwerke 
und  Atlanten,  die  daselbst,  weil  sie  Sir  Charles  nirgendwo  anders 
mehr  hatte  unterbringen  können,  deponiert  waren. 

Mit  einem  Worte  also,  das  ganze  Haus  war  für  solche  Literaten, 
wie  wir  beiden,  mein  Freund  und  ich,  es  waren,  ein  Paradies,  ein 
wahrer  Pfannkuchenberg.  Auf  Schritt  und  Tritt  mußten  wir  uns 
durch  Bücher  und  Büchertitel  durchfressen.  Ich  brauchte  eine  Stunde 
zum  Ankleiden;  denn  jeder  Gang  zum  Spiegel  oder  zu  einem  Strumpfe 

485 


AUTOGEAMMKOLLEKTIONEN 

oder  einem  Stiefel  lenkte  meine  hungrigen  Blicke  auf  ein  seltenes, 
zuvor  nie  gesehenes,  vor  200  oder  300  Jahren  in  ,Firenza*  oder  in 
,Roma'  oder  in  ,Argentoratum*  gedrucktes  Werk.  Fast  ebenso  lange 
hatte  ich  nötig,  um  aus  meinem  hochgelegenen  Dachstübchen  zu 
jenem  oben  beschriebenen  Tische  und  Sofa,  dem  allgemeinen  Stell- 
dichein der  Hausgesellschaft,  herabzukommen.  Denn  auf  jeder 
Treppenstufe  fesselte  irgendein  altes  verblichenes  und  ehrwürdiges 
Papier  oder  Pergament  für  einige  Augenblicke  meine  Aufmerksamkeit. 

Gelangte  ich  endlich  ganz  gedanken-  oder  doch  büchertitelvoU 
hinab  —  und  hatte  ich  mich  schmal  genug  gemacht,  um  meine  Per- 
son zwischen  den  interessanten  Werken,  mit  denen  Sir  Charles  und 
seine  übrigen  Gäste  den  Frühstückstisch  und  das  Sofa  bereits  belegt 
hatten,  hindurchzwängen  zu  können,  so  war  dann  für  den  Rest  des 
Tages  kein  Loskommen  und  kein  Aufstehen  mehr. 

Unter  den  übrigen  Gästen  —  es  waren  ihrer  zwei  —  befand 
sich  auch  ein  Grieche,  dessen  Name  mir  damals  zwar  noch  nicht 
vorgekommen  war,  der  sich  aber  in  der  literarischen  Welt  schon  be- 
kannt genug  gemacht  hatte.  Es  war  ein  großer  Manuskripten-  und 
Raritätenhändler  aus  dem  Oriente,  der  unterschiedliche  Pergament- 
rollen und  schweinslederne  Bände  mitgebracht  und  dieselben  wie  ein 
Tabulettkrämer  seine  Waren  auf  Teppich,  Tisch  und  Stühlen  ausge- 
kramt hatte,  um  sie  unserem  Sir  Charles  zum  Verkaufe  anzutragen. 

Darunter  befand  sich  namentlich  eine  schmale,  dünne,  eng  be- 
schriebene, dicht  aufgewickelte,  lange  Pergamentrolle,  von  welcher 
der  Grieche  erklärte,  daß  sie  das  Kostbarste  sei,  was  er  jetzt  eben  zu 
bieten  habe.  Es  sei  nämlich,  sagte  er,  eine  homerische  Rhapsodie, 
ein  Gesang  aus  der  Odyssee  in  einer  Urschrift,  welche  der  Zeit  nach 
über  alle  bisher  bekannten  Aufzeichnungen  homerischer  Gesänge 
hinausginge.  Er  wollte  uns  beweisen,  daß  seine  Piece  noch  aus  der 
Zeit  der  alten  heidnischen  Hellenen  selber,  vielleicht  aus  Pisistratus* 
Zeiten  stamme,  obwohl,  wie  die  Gelehrten  glauben,  bisher  gar  keine 
griechischen  Handschriften  an  den  Tag  gekommen  sind,  die  über  das 
sechste   Jahrhundert    der    christlichen    Zeitrechnung    hinausgehen. 

Kurz,  er  war  überzeugt,  daß  er  die  allerälteste  Handschrift 
eines  Stückes  von  Homer  besäße,  die  es  überhaupt  in  der  Welt  gäbe. 

486 


AUTOGBAMMKOLLEKTIONEN 

Ich  glaube,  er  hatte  es  auf  dem  Berge  Athos  entdeckt,  und  er  ver- 
langte einen  großen  Preis,  wenn  ich  mich  recht  erinnere,  50  Pfund 
Sterling  für  die  kleine  Rolle,  die  nicht  mehr  als  allenfalls  eine  Westen- 
taschenecke füllte. 

Unsere  Unterhaltung  drehte  sich  fast  den  ganzen  Tag  um  diesen 
merkwürdigen  Gegenstand,  und  auch  am  Abend,  als  der  Grieche^ 
der  sich  ganz  heiser  gesprochen  hatte,  endlich  zu  Bette  gegangen 
war  und  ich  mit  Sir  Charles  noch  etwas  länger  an  dem  bewußten 
Tische  sitzen  blieb,  griff  dieser  wieder  zu  der  homerischen  Perga- 
mentrarität, entrollte  sie,  betrachtete  sich  die  schadhaften  Stellen 
und  die  gebräunten  Flecken,  die  darauf  waren,  und  untersuchte  die 
Schriftzüge,  die  er  selber  besaß,  und  hielt  sie  sowohl  vor  als  hinter 
das  Licht,  nahm  auch  Brille  und  Lupe  zu  Hilfe,  um  sie  aufs  genaueste 
zu  inspizieren. 

Die  Sache  regte  ihn  offenbar  auf  das  äußerste  auf,  das  Pergament 
reizte  und  bezauberte  ihn,  wie  ein  Juwel  eine  Dame,  und  er  fragte 
dabei  auch  mich  um  meinen  Rat  und  meine  Meinung.  Diese  konnte 
ich  ihm  anfänglich  nicht  geben,  weil  ich  wenig  oder  nichts  von  solchen 
alten  griechischen  Manuskripten  verstand.  Endlich  fragte  mich  Sir 
Charles,  ob  ich  denn  seinen  griechischen  Gastfreund  gar  nicht  kenne, 
und  da  ich  gestehen  mußte,  daß  ich  nichts  von  ihm  wisse,  als  was 
ich  heute  gesehen,  so  erzählte  mir  Sir  Charles  nun  manches  von  ihm. 
Derselbe,  sagte  er,  sei  ein  berühmter  Mann,  namens  [Simonides],*  nicht 
bloß  ein  großer  Kenner  griechischer  Manuskripte,  sondern  auch  der 
geschickteste  Verfertiger  von  solchen,  den  es  auf  der  Welt  gäbe.  Er 
verstehe  das  Pergament,  das  Seiden-,  das  Baumwoll-  und  das  Leinen- 
papier, wie  es  jedem  Zeitalter  angehöre,  unvergleichlich  treu  darzu- 
stellen und  auch  mit  solchen  naturgetreuen  Flecken  und  Beschädi- 
gungen zu  versehen,  wie  der  Lauf  der  Zeiten  sie  hervorzubringen 
pflegte;  dabei  kenne  er  den  Stil  der  Schriftzüge  jedes  Jahrhunderts, 
den  anmutigen,  gefälligen,  gewandten  der  frühesten  Zeiten  und  den 
steiferen  und  unschöneren  der  späteren  so  gut  und  wisse  ihn  so  tref- 
fend nachzuahmen,  daß  kein  Montfaucon  imstande  wäre,  seine  un- 
echte Ware  von  echter  zu  unterscheiden.  Es  sei  daher  sehr  riskant, 
sich  mit  diesem  Menschen  auf  einen  Handel  einzulassen.    Er  habe  in 

*  Abb.  327  487 


AUTOGRAMMKOLLEKTIOKEK 

der  Tat  oft  sehr  viel  Wertvolles  zu  bieten,  aber  mitunter  komme  ein 
Manuskript  vor,  bei  dem  er  nachgeholfen  oder  das  er  vielleicht  gar 
von  Anfang    bis  zu  Ende  selbst  fabriziert  habe. 

Um  dies  alles,  was  er  mir  von  seinem  Gaste  sagte,  noch  näher 
zu  dokumentieren,  ging  Sir  Charles  zu  einem  Bureau,  welches  er 
aufschloß  und  aus  dem  er  die  Nummer  einer  deutschen  Zeitung  her- 
ausholte. In  derselben,  sagte  er,  sei  von  einer  zuverlässigen  Autorität 
die  ganze  Lebensgeschichte  und  Yerfahrungsweise  dieses  talent- 
vollen Griechen  offen  dargelegt.  Er  selbst,  Sir  Charles,  verstehe  kein 
Deutsch.  Aber  ich  möchte  es  lesen  und  könnte  mich  dann  selbst 
davon  überzeugen,  mit  welchem  gefährlichen  Individuum  wir  zu 
tun  hätten. 

Nachdem  ich  den  betreffenden  Artikel  gelesen  hatte,  konnte  ich 
nun  allerdings  meinem  Wirte  den  von  ihm  gewünschten  Rat  und 
meine  bestimmte  Meinung  abgeben.  Sie  gingen  natürlich  dahin, 
,daß  er  lieber  das  homerische  Manuskript  durchaus  ungekauft 
lassen  sollte'.  Und  hiermit  zog  ich  mich  in  meine  Manuskripten- 
Schlafkammer  zurück,  während  mein  leidenschaftlicher  Bücherfreund 
und  Wirt  noch  lange  gedankenvoll  das  ominöse  Pergament  betrach- 
tend und  dasselbe  auf-  und  zurollend  auf  seinem  Platze,  bei  seiner 
Studierlampe  und  mit  seinen  Brillen  und  Lupen  sitzen  blieb. 

Weil  wir  damit  weit  über  Mitternacht  hinausgetrieben  waren, 
so  kam  ich  am  andern  Morgen  eine  Stunde  später  als  gewöhnlich 
zum  Frühstückstische  herunter.  Ich  vermißte  den  Griechen  und  da 
er  nicht  erschien,  so  sagte  mir  Sir  Charles  endlich,  derselbe  sei  schon 
seit  einer  Stunde  wieder  abgereist.  —  ,Gut!  Sir  Charles*,  sagte  ich, 
,daß  Sie  ihn  gehen  ließen  und  daß  Sie  meinen  Rat,  sich  auf  keinen 
Handel  mit  ihm  einzulassen,  befolgt  haben.' 

Wie  groß  war  meine  Verwunderung,  als  Sir  Charles  diese  meine 
Gratulation  mit  etwas  spöttischem  Lächeln  aufnahm,  stillschweigend 
an  ein  verschlossenes  Kästchen  ging,  es  öffnete,  daraus  die  besagte 
homerische  Rhapsodie  hervorholte,  indem  er  dann  mit  fester  Stimme 
und  fast  triumphierend  ausrief:  ,Ich  habe  sie.  Ich  habe  dem  Griechen 
die  50  Pfund  bezahlt  und  habe  ihm  auch  noch  dazu  seine  übrigen 
Seltenheiten  abgekauft.'    —     Ich  konnte  nicht  umhin,  Sir  Charles 

488 


AUTOGKAMM KOLLEKTIONEN 

bei  dieser  Gelegenheit  meinen  Beifall  vorzuenthalten.  Ich  fragte  ihn^ 
wie  es  möglich  sei,  daß  er  nach  dem,  was  er  mir  selbst  über  den 
Griechen  mitgeteilt  und  schwarz  auf  weiß  gedruckt  gezeigt  habe, 
sein  schönes  Geld  auf  eine  ^o  unsichere  Nummer  habe  setzen  können. 
,Mir  ging  die  Sache  gestern  noch  die  ganze  Nacht  durch  den 
Kopf,*  erwiderte  Sir  Charles,  ,das  älteste  Manuskript  von  einer 
homerischen  Rhapsodie  —  sollte  ich  mir  das  entschlüpfen  lassen? 
Vielleicht  zwar  ist  der  Grieche  auch  diesmal  ein  Schelm  und  hat  mir 
bloß  ein  bewundernswürdiges  Fabrikat  gebracht.  Aber  es  ist  doch 
auch  möglich,  daß  das  Dokument  echt  ist.  Er  drohte  mir  heute 
morgen,  wenn  ich  nicht  zuschlüge,  damit  wegzugehen  und  es  beim 
Britischen  Museum  abzusetzen.  Sollte  ich  das  riskieren?  Lieber 
riskierte  ich  meine  50  Pfund.  Denn,  wie  gesagt,  ich  habe  mitunter 
schon  sehr  gute  und  sehr  echte  Sachen  von  diesem  Menschen  ge- 
kauft und  —  ich  wiederhole  es  —  möglich  ist  es  doch  immer  noch, 
daß  die  Schrift  echt  ist.  Während  der  nächsten  Monate  werde  ich 
mich  damit  beschäftigen,  die  Sache  zu  untersuchen  und  mir  Licht 
darüber  zu  verschaffen  trachten,  ob  ich  in  der  Tat  der  Besitzer  der 
ältesten  homerischen  Handschrift  bin.' 

Ob  Sir  Charles  diesen  Punkt  ausgemacht  hat  oder  nicht,  das 
habe  ich  nie  erfahren.  Die  Scheidestunde  hatte  endlich  auch  für  mich 
und  meinen  Freund  geschlagen  und  wir  entfernten  uns  aus  unserem 
Manuskripten-Pfannkuchenberge  ebenso,  wie  wir  gekommen  waren, 
erst  auf  unergründlichen  Schmutzwegen  mit  einem  einspännigen 
Dog-Car,  dann  auf  etwas  besseren  mit  einer  vierspännigen  Diligence, 
mit   der  wir  endlich   das   Tageslicht   einer   Eisenbahn   erreichten.** 

über  die  Kauflust  des  Sir  Thomas  Phillipps  gab  es  allerlei  Ge- 
schichten, die  Kohl,  hätte  er  sie  gekannt,  das  Geschäft  mit  dem 
Griechen  nicht  ungewöhnlich  hätten  erscheinen  lassen.  Der  „Vellum- 
süchtige**,  der  in  den  Pergament  verarbeitenden  Werkstätten  regel- 
mäßige Rundgänge  machte  und  dabei  mancherlei  rettete,  liebte  es 
nicht  nur,  ganze  Sammlungen  zu  erwerben,  wie  den  berühmten 
griechischen  Handschriftenschatz  Meermanns,  er  gab  auch  als  Ant- 
wort auf  ein  ihm  von  Händlern  übersandtes  Handschriftenverzeich- 
nis hin  und  wieder  eine  Bestellung  auf  alles,  wa^  im  Katalog  stände 

489 


AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN 

und  erwarb  dieserart  von  dem  Antiquar  Thorpe  einmal  über  1400 
Handschriften.  Aber  der  absonderliche  Herr,  der  ärger  noch  als 
Katholiken  und  Tabak  den  Mann  seiner  ältesten  Tochter  J.  Orchard 
Halliwell-Phillipps,  den  Shakespeareforscher,  gehaßt  hat,  blieb 
in  seiner  Leidenschaft  für  beschriebene  Papiere  und  Pergamente 
Liebhaber.  Zu  einem  gelehrten  Kenner  konnte  er  sich  nicht  aus- 
bilden, obschon  er  keineswegs,  wie  Kohl  meinte,  ein  gelehrter 
Autodidakt  war,  sondern  Rugby  und  Oxford  seine  Gelehrtenbildung 
verdankte.  Als  Handschriftenkundiger,  dem  kein  Blatt,  gleichviel 
welchem  Volke  und  welcher  Zeit  die  Schriftzüge,  die  es  trug,  an- 
gehörten, unleserlich  geblieben  wäre,  hätte  er  eine  Akademie  in 
seiner  Person  vereinigen  müssen.  Das  Erbe,  das  er  hinterließ,  mußte 
vor  dem  Verkauf  der  Bändestapel  erst  entwirrt,  bestimmt  und  ge- 
ordnet werden.  Die  Auflösung  der  Bibliotheca  Phillippica  durch 
freihändigen  Verkauf  und  seit  1886  auch  durch  Versteigerungen 
beanspruchte  nahezu  ein  Halb  Jahrhundert.  An  60000  Handschriften 
hat  sie  dem  Altbüchermarkt  zugeführt  [wahrscheinlich  bleibt  diese 
Schätzung  hinter  einer  höheren  Zahl  weit  zurück]  und  damit  erst 
das  nutzbar  werden  lassen,  was  Sir  Thomas  Phillipps,  dessen  ganzes 
Leben  Sammeln  gewesen  war,  dieses  Leben  hindurch  vor  den  anderen 
versteckt  hatte.  Seines  Bienenfleißes  im  Zusammentragen  wegen 
hätte  er  wohl  die  Biene  in  seinem  Bücherwappen  führen  dürfen, 
von  deren  Kunstfertigkeit  im  Auslesen  und  Verarbeiten  er  nichts 
verstanden  hat. 

Buchhandschriftenreihen  höchsten  Wertes  sind  in  fast  allen 
großen  englischen  Liebhaberbüchereien  vorhanden  gewesen  und 
auch  andere  umfangreiche,  umfassende  englische  Manuskriptbiblio- 
theken sind,  wie  die  Asburnham-Collection,  außer  der  Phillippsschen 
im  neunzehnten  Jahrhundert  in  England  berühmt  gewesen.  Aber 
die  Ausbreitung  und  die  Eigenart  dieses  Sammelgebietes,  die  Er- 
schöpfung der  noch  im  freien  Handel  befindlichen  Bestände, 
führt  doch  mehr  und  mehr  dazu,  daß  das  Einzelstück  erlesener  Art 
hier  höchsten  Rang  gewinnt;  daß  deshalb  die  alten  Handschriften 
ihrer  Buchmalereien,  ihres  Kunstwertes  wegen,  gesammelt  werden, 
soweit  sie  noch  erreichbar  sind.    Die  alte  archivalische,  die  histo- 

490 


AüTOGRAMMKOLLEKTIONEN 

rische,  die  literarische  Buchhandschrift  ist  ein  Zufallsfund  geworden 
und  die  Bemühungen  um  die  neueren  und  neuesten  Handschriften 
solcher  Art  erstrecken  sich  mehr  oder  minder  auf  das  Autogramm. 
Dem  Bewunderer  des  alten  beschriebenen  Papiers,  als  welcher  Sir 
Thomas  Phillipps  um  die  Mitte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  noch 
einmal  den  englischen  Buchhandschriftenfreund  einer  vergangenen 
Zeit  karikierend  repräsentierte,  tritt  am  Ausgange  dieses  Jahr- 
hunderts, an  dem  William  Morris  die  Bild-  und  Schriftschönheit  der 
alten  Buchhandschriften  neu  sehen  lehrte,  der  Buchkunstfreund 
entgegen,  der,  ohne  deshalb  auf  den  historischen,  auf  den  textlichen 
Wert  verzichten  zu  wollen,  über  die  Auslese  des  Besten,  die  er  treffen 
kann,  vor  allen  den  Geschmack  entscheiden  lassen  möchte.  In 
diesem  Sinne  ist  der  nach  Sir  Thomas  erfolgreichste  Handschriften- 
sammler, der  Eigentümer  und  Herausgeber  der  Fall  Mall-Gazette, 
Henry  Yates  Thompson  gewesen,  der  sich  endgültig  von  seinem 
erlesenen  Handschriftenschatze  1914  trennte.  Als  gelegentlicher 
Sammlungsgegenstand  erscheinen  Autogramm  und  Dokument  neben 
den  Griffelkunstblättern,  die  als  Kunstdruckproben  geschichtlicher 
Bedeutung  ebenfalls  Aufnahme  fanden,  häufig  in  den  Sonderabteilun- 
gen weitangelegter  moderner  Privatbibliotheken,  doch  bleiben  sie 
hier  in  der  Regel  eher  eine  Folge  von  Kostbarkeiten  ohne  eigent- 
lichen Zusammenhang,  als  daß  sie  eine  Sammlung  in  selbständigem 
systematischen  Aufbau  bildeten.  Andererseits  sind  bei  der  Ver- 
schiedenartigkeit der  Autogrammwertung  die  kleineren  und  mittle- 
ren Sammlungen  so  vielgestaltig;  dazu  durch  ihre  ständige  Auf- 
lösung und  Erneuerung  in  ihrem  Bestände  so  rasch  wechselnd,  daß 
ihre  Geschichte  sich  in  den  Handschriftennachweisungen,  in  dem 
Katalogrepertorium  kondensiert.  Denn  weil  das  Autogramm  ein 
Unikum  bleibt,  bleibt  auch  die  Erinnerung  an  seinen  zeitweiligen 
Aufenthalt  in  einer  berühmten  Sammlung  eine  andere  als  die  an  das 
Provenienzexemplar.  Der  Druckwerksammler  kann  hoffen,  ein 
ähnliches,  anderes  Stück  wiederzufinden;  der  Autogrammsammler 
muß  sich  bescheiden,  wenn  er  die  ersehnte  Schrift  nicht  erreichen 
konnte. 

Neben  der  Bibliotheca  Phillippica,  der  umfangreichsten  und  um- 

491 


AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN 

fassendsten  Handschriftensammlung  und  der  ausgewähltesten  Buch- 
malerei-ManuskriptkoUektion^  derjenigen  von  Henry  Yates  Thomp- 
son,   die   im   neunzehnten   Jahrhundert   von   Privaten   zusammen- 
getragen wurden,  entstand  in  England  auch  der  bis  dahin  größte 
und  kostbarste  Autogrammschatz,  den  ein  einzelner  erworben  hat. 
Indessen  ist  deren  1897  gestorbener  Besitzer  Alfred  Morrisson 
kaum  noch  Sammler  in  jenem  höheren  Sinne  gewesen,  den  die  eigene 
Sammeltätigkeit  voraussetzt.  Er  beschränkte  sich  darauf,  die  Rech- 
nungen zu  bezahlen,   die  ihm  sein  Vertrauensmann,  der   Händler 
Thibaudeau,  vorlegte.    Ein  in  200  Abzügen  hergestelltes,  in  sechs 
Foliobänden  und  sieben  Quartbänden  ausgegebenes  Verzeichnis  be- 
schrieb die  um  1910  wieder  aufgelöste  Autogrammserie,  die  für  einige 
Jahre  die  kostspielige  Laune  eines  Mannes  war,  dessen  eigentliches 
Verhältnis   zu   dem   Gegenstande   seiner  ihn   berühmt   machenden 
Neigung  ein  Geschichtchen  enthüllt,  das  ein  Handschriftenhändler 
erzählte.    Als  dieser  noch  einmal  in  das  Arbeitszimmer  Morrissons 
zurückkehrte,  dem   er  eben  ein  Blatt  höchsten  Wertes  übergeben 
hatte,  sah  er  zu  seinem  Schrecken  es  mit  anderen  erledigten  Papieren 
vor  dem  Kamine  liegen.    Der  ganz  und   gar  durch  ihn  mehr  inter- 
essierende Dinge  in  Anspruch  genommene  Autogrammfreund  hatte 
es  bereits  vergessen  gehabt  und  es  in  der  Zerstreuung  fortgeworfen. 
Auch  im  Frankreich  des  neunzehnten  Jahrhunderts,  wo  zuerst  vom 
Altbuchhandel   der   Autogrammhandel    als    ein   eigener   Geschäfts- 
zweig sich   löste,  ist   die   Handschriftenliebhaberei  zur  Mode  und 
zur  ernsthafteren  Sammeltätigkeit  geworden.    Große  Autogramm- 
kollektionen,   so  früher  die  von  Benjamin  Fillon  und  jetzt  die 
des  Marquis  de  l'Aigle  entstanden;  der  Westschweizer  Alfred 
Bovet   begründete  1868  in  Valentigney  seine  1883  verkaufte  be- 
kannte Sammlung,  in  dem  gleichen  Jahre,  in  dem  der  ,Fall  Chas- 
les'  mit  seinen  Autogrammfalsifikationen  an  einem  grotesken  Bei- 
spiel die  Gefahren  einer  Liebhaberei  zeigte,  die  in  ihren  Sammlungs- 
verfahren nicht  die  notwendige  wissenschaftliche  Strenge  übte.  Von 
ihm  ging  zweifelsohne  eine  Stärkung  der  wissenschaftlichen  Rich- 
tung in  der  Autograpophilie  aus,  die  auch  in  den  anderen  Ländern 
bemerkbar  wurde.  — 

492 


AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN 

Die  deutschen  Autogrammsammler  des  sechzehnten  Jahr- 
hunderts waren  mit  ihren  Stammbüchern  die  Studenten  und  wan^* 
dernden  Gelehrten  gewesen.  Dann  brachte  man  den  Reformatoren- 
Selbstschriften  eine  ebenso  aus  den  Rücksichten  der  Forschung  wie 
aus  denen  der  Verehrung  gewonnene  Teilnahme  entgegen.  In  der 
Preußischen  Staatsbibliothek  in  Berlin  wird  ein  Lutherbrief  auf- 
bewahrt, in  dem  der  Reformator  an  einen  Hirsfelder  schrieb:  ,,Manum 
meam  petiisti,  ecce  manum  habes^';  in  der  Dresdener  befindet  sich 
die  Lutherbibel  von  1545  mit  den  eigenhändigen,  ihren  Bildnissen 
angefügten,  Inschriften  der  Reformatoren.  Das  alles  stand  noch  in 
Verbindung  mit  dem  Buche  und  die  Autogrammkollektionen  be- 
wahrten selbst  noch  die  Buchform,  wie  das  Lucas  Cranach-Stamm- 
buch  der  Berliner  Staatsbibliothek.  Aber  in  den  Reformationslite- 
raturbibliotheken wuchsen  doch  auch  aus  den  Brief-  und  Ur- 
kundenreihen schon  die  einen  Autogrammwert  betonenden  hervor. 
[Sammlungen  des  Flaccius  Illyricus  in  der  alten  Bibliothek  zu 
Helmstedt;  des  brandenburgischen  Kammer-  und  Konsistorialrats 
Seidel  in  Nürnberg;  des  Generalsuperintendenten  Polycarp  Leyser 
in  Zelle.]  Und  die  antiquarisch  orientierten  Literatoren,  die  Schel- 
horn  in  Memmingen  und  v.  Murr  in  Nürnberg,  waren  um  die  Mitte 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  bereits  zu  einer  wissenschaftlichen 
Betrachtungsweise  des  Autogramms  gekommen,  als  sich,  ungefähr 
gleichzeitig,  dessen  gefühlsmäßige  Schätzung  gewandelt  hatte. 

Damals  hatten  in  Deutschland  Aufklärung  und  Schwärmerei 
auch  zu  einer  Erfahrungsseelenkunde  geführt,  dazu,  die  Lebens- 
urkunden in  der  verschiedenartigsten  Weise  zu  verwerten.  Man  be- 
mühte sich  nicht  allein,  die  historischen  Betrachtungsweisen  der 
Memoirenliteratur  durch  psychologische  zu  ergänzen  oder  gar  zu  er- 
setzen. Man  verfolgte  die  Persönlichkeitsspuren  noch  weiter,  bis 
dahin,  wo  sie  zu  anschaulichen,  greifbaren  Überresten  der  Ver- 
gangenheit wurden.  Vor  allem  war  es  die  Handschrift  der  ent- 
schwundenen Schatten,  die  ihr  Leben  wachzurufen  schien,  und  ihrer 
Betrachtung  wendete  man  sich  nun  in  der  Ausübung  einer  Hand- 
schriftendeutungskunde zu,  deren  Unterbau  von  überallher  sich 
befestigte.  Die  Bedeutung  des  gelehrten  Briefwechsels  als  einer  Nach- 

493 


AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN 

richtenvermittelung  hatte  langsam  aufgehört  und  auch  diese  Reste 
der  geschriebenen  Zeitungen  verschwanden  allmählich  mit  der  Neu- 
ordnung des  Zeitungswesens.  Dafür  war  zwischen  Befreundeten  der 
Briefverkehr  zu  einem  Dialog  geworden^  den  die  auf  die  Mitteilung 
berechneten  Monologe  der  Tagebuchaufzeichnungen  ergänzten,  die 
alltäglichsten  Ereignisse  in  die  Gefühls-,  in  die  Gemütssphäre  er- 
hebend. Eine  Stimmung,  der,  sich  selbst  von  ihr  befreiend,  Goethe 
in  seinem  ,Werther*  einen  europäischen  Ausdruck  verlieh  und  die  in 
ihren  Verkümmerungen  noch  in  den  biedermeierischen  Stammbuch- 
sentimentalitäten weiterlebte.  Aber  nicht  allein  die  Handschrift  als 
ein  seelisches  Unterpfand,  wie  es  etwa  Cramers  Klopstockenthusias- 
mus  liebte,  oder  wie  es  freundschaftlich  geschäftsmäßig  die  Gleim 
und  Lavater  spendeten,  verehrte  man.  Man  begann  auch  die  Schrift- 
züge auf  ihren  Wesensinhalt  hin  zu  betrachten,  sie  als  Charakter- 
dokumente zu  erforschen.  Goethe,  der  einstige  Mitarbeiter  einer 
in  ihrer  Art  epochemachenden  Physiognomie,  wendete  als  Sammler 
sich  späterhin  auch  dem  Autogramm  und  mit  ihm  der  Graphologie 
zu.  Darin  beispielgebend,  daß  er  Plan  und  Ordnung  für  seinen  Hand- 
schriftenbesitz wünschte;  die  Persönlichkeits  werte,  die  in  diesem 
Besitz  aufgespeichert  waren,  wissenschaftlich  sich  zu  begründen 
mühte.  Benützte  er  doch  nicht  allein  seinen  Briefaustausch  zur 
methodischen  und  systematischen  Ergänzung  seiner  Bestände,  son- 
dern ließ  auch  die  erste  gedruckte  Autogrammdesiderataliste  aus- 
gehen. So  war  allmählich  zu  dem  alten  archivalischen  Interesse  an 
der  Handschrift,  das  zwischen  Apograph  und  Autogramm  erhebliche 
Unterschiede  nicht  zu  machen  verstand,  weil  es  ihm  hauptsächlich 
auf  den  Inhalt,  den  Stoffgehalt  eines  Schriftstückes  ankam,  und  zu 
dem  sich  eben  entwickelnden  Interesse  der  auf  das  neuere  Schrift- 
tum sich  ausdehnendend  kritischen  Philologie,  die  im  Autogramm 
das  literarhistorische  Dokument  sah,  das  psychologische  Interesse 
wachgerufen  worden,  aus  dem  sich  die  Handschriftendeutungs- 
kunde zu  einer  Wissenschaft  zuerst  in  Deutschland  herausbilden 
sollte;  zu  einer  Wissenschaft,  die  sich  von  der  Diplomatik  und  Paläo- 
graphie  trennte,  zugleich  dem  Autogrammsammeln  eine  Erweiterung 
und  Vertiefung  seiner  Zwecke  gebend. 

494 


AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN 

Einstweilen  freilich  trat  das  anekdotische,  das  Kuriositätsele- 
ment stärker  hervor.  Der  ängstlich  gehütete  Schatz,  der  die  Inedita 
und  die  —  Indiskretionen  harg,  wurde  den  Autograpophilen  zur  mehr 
oder  minder  stillvergnügten  Handschriftenlust.  Allerdings,  die 
Empfindsamkeit  der  Liebhaber  des  achtzehnten  Jahrhunderts  hatten 
die  des  neunzehnten  Jahrhunderts  kaum  noch;  sie  lernten  mit  Lieb- 
haberwerten rechnen  und  sie  registrieren.  Der  Abschluß  der  klassi- 
schen deutschen  Literaturepoche  ließ  mit  dem  Beispiel  der  großen 
Briefsammlungen  —  das  Goethe  mit  seinem  Schillerwerk  auf  die  lite- 
raturpsychologische Ausbeutung  von  in  einem  inneren  Zusammen- 
hang stehenden  Autogrammreihen  gelenkt  hatte  —  ein  Arbeitsgebiet 
der  Forschung  erschließen,  das  bisher  in  diesem  neuen  Sinne  kaum 
beachtet  gewesen  war.  Denn  die  antiken  Briefsammlungen  und  nach 
ihrem  Muster  die  der  Renaissance  waren  als  Literaturwerke  angelegt 
und  ausgeführt  gewesen;  die  Gelehrtenbriefwechsel  des  sechzehnten 
und  siebzehnten  Jahrhunderts  waren  Materialsammlungen;  die  schön- 
geistigen, die  im  achtzehnten  Jahrhundert  im  Druck  Verbreitung 
suchten,  vorwiegend  Memoiren  gewesen.  Nun  kam  zu  alledem  das 
Autogramm  als  document  humain  hinzu,  dessen  sich  die  Sammler, 
je  nachdem  sie  es  auffaßten,  zu  bemächtigen  suchten.  Die  Samm- 
lungsverfahren verfeinerten  sich,  der  Überblick  über  die  Hand- 
schriftenmasse und  ihren  Wert  für  den  jeweiligen  Sammlungszweck 
wurde  deutlicher.  Aber  keineswegs  beschränkte  man  sich  auf  das 
literarhistorische;  auf  den  Reliquienkult,  den  man  den  Schrift- 
urkunden der  Vergangenheit  zuwendete.  Die  Autogrammsammler 
verachteten  auch  die  Gegenwart,  die  berühmten  Zeitgenossen,  nicht; 
und  dabei  entstanden  dann  neben  den  literarhistorischen  politische 
Privatarchive,  die,  ähnlich  wie  schon  einige  Sammlungen  des  sieb- 
zehnten Jahrhunderts,  Akten  aus  Sammelmappen  bildeten,  und  die 
bisweilen  den  Geheimfächern  alter  Diplomatenschreibtische  ver- 
gleichbar wurden. 

Der  geschäftige  K.  A.  Varnhagen  von  Ense  [1785—1858] 
darf  gerade  deshalb  unter  den  älteren  deutschen  Autogramsammmlern 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  nicht  vergessen  werden,  weil  er  klug 
derartig  verschiedene   Sammelrichtungen  vielseitig  auf  die   eigene 

495 


AUTOGBAMMKOLLEKTIONEN 

Persönlichkeit  zu  beziehen  wußte;  hierbei  ebenso  darauf  bedacht,  den 
Ausbau  der  Sammlung  durch  eine  geschickte  Sammeltechnik  zu 
fördern  wie  seine  Sammlung  für  die  mannigfachsten  Zwecke  aus- 
zubeuten. 

Julius  Rodenbergy  der  Herausgeber  der ,, Deutschen  Rundschau^*, 
hat  als  junger  Student  bei  Varnhagen  verkehrt.  Den  berühmten 
Bewohner  jenes  Hauses  in  der  Mauerstraße  35  —  es  wurde  1913 
niedergerissen,  um  einem  Neubau  der  , Deutschen  Bank^  Platz  zu 
machen  —  das  die  französische  Straße  hinuntersah,  zeichnete  er 
später  in  seinen  y^Bildern  aus  dem  Berliner  Leben'^  die  auch  die 
nächste  Umwelt  eines  von  der  Vergangenheit  zehrenden,  fast  schon 
Verstorbenen,  schilderten:  9,Wie  gut  kenne  ich  noch  das  Eckfenster 
im  ersten  Stock  und  welch  eine  glänzende  Reihe  von  Berühmt- 
heiten ging  dort  an  den  Blicken  des  jungen  Studenten  vorüber.  Be- 
rühmtheiten der  Literatur,  Berühmtheiten  der  Gesellschaft;  denn 
alle,  von  den  Tagen  der  Romantik  bis  zu  denen  des  „Atta  Troir\ 
waren  einmal  durch  diesen  Salon  gewandelt  und  hatten  ihm  einen 
Parfüm  der  Vergangenheit  zurückgelassen.  Etwas,  das  nach  Staub 
und  welken  Blumen  roch,  wie  ein  altes  Buch,  das  man  aufschlägt. 
Aber  wie  berauschend  war  dieser  Duft  für  uns,  die  heraufkommende 
Generation,  und  wie  schwer  wird  es  uns  jetzt  noch,  in  einer  unterdeß 
so  realistisch  gewordenen  Welt,  anders  als  mit  Pietät  an  diese  Letzten 
einer  Periode  zu  denken,  in  welcher  die  Romantik  noch  nicht  tot  war, 
was  man  auch  sagen  mochte,  sondern  dem  Throne  selber,  der  Politik, 
den  Angreifern  wie  den  Angegriffenen,  der  liberalen  Opposition 
und  sogar  den  radikalen  Freiheitsbestrebungen  ihren  schillernden 
Mantel  umwarf.  Klug  und  praktisch  sind  wir  erst  viel  später  ge- 
worden, unser  äußeres  Leben  reicher,  unser  inneres  ärmer;  jene  Zeit 
aber  war  durchaus  künstlerisch,  durchaus  literarisch  oder  belle- 
tristisch gestimmt;  und  ein  Abschiedsglanz  derselben  fiel  auf  diesen 
altmodischen,  an  den  Anfang  des  Jahrhunderts  erinnernden  Salon, 
in  welchem  ich  noch  einige  von  den  Alten  sah  —  ihn  vor  allen 
anderen,  den  schönen  Greis  mit  dem  Silberhaar,  dem  eisernen  Kreuz 
auf  der  Brust  und  „demselben  feinen  Lächeln'^  welches  Heine  schon 
bezaubert  hatte,  hinter  welchem  sich  aber  etwas  Scharfes  und  Ironi- 

496 


AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN 

sches  verbarg.  Tages  über  hielt  er  sich  in  seinem,  an  den  Salon 
stoßenden,  hohen  und  geräumigen  Kabinett,  zu  welchem  nur  Wenige 
Zutritt  hatten.  Hier,  an  seinem  Arbeitstisch,  in  der  Mitte  des  Zim- 
mers, saß  er,  jahrelang,  horchend  auf  das  Geräusch  der  Welt,  die 
vertraulichen  Worte  seiner  Freunde  aufzeichnend,  ihre  kleinsten 
Billetts  registrierend  und  über  Personen  und  Zustände  harte  Dinge 
niederschreibend  in  einer  zierlichen  Handschrift  und  dem  Geheim- 
ratsstil Goethes.  Die  Wände  waren  ganz  mit  Büchern  bedeckt,  dar- 
unter zahlreiche  Schachteln  und  Schächtelchen,  sorgfältig  etikettiert 
und  nach  dem  Alphabet  geordnet.  Aus  ihnen  sind,  nach  seinem 
Tode,  jene  „Impietäten^*  ans  Licht  gekommen,  welche  vorüber- 
gehend einen  Schatten  auf  die  große  Gestalt  Alexanders  von  Hum- 
boldt warfen  und  den  Ruhm  Yarnhagens  so  sehr  getrübt  haben,  daß 
man  immer  noch  seinen  Namen  nur  mit  einer  gewissen  Reserve 
nennt.  Aber  wenn  wir  gerecht  sein  wollen  und  die  damaligen  Ver- 
hältnisse bedenken,  die  politischen  allgemeinen  und  seine  besonderen, 
persönlichen,  so  werden  wir  sagen:  dieser  Mann  hat,  zur  Zeit  von 
Preußens  tiefster  Erniedrigung,  zu  der  Zahl  derer  gehört,  welche  den 
Umschwung  und  Aufschwung  vorbereiten  halfen;  er  hat  als  Soldat 
in  den  Befreiungskriegen  und  als  Diplomat  in  den  Staatsgeschäften 
seine  Dienste  geleistet  —  und  wie  hat  man  ihm  gedankt?  Mag  Gereizt- 
heit ihm  die  Feder  geführt  und  Bitterkeit  sie  getränkt  haben  — 
er  hat  niemals  ein  Wort  geschrieben,  in  welchem  seine  Liebe  zu 
Vaterland  und  Freiheit,  oder  seine  Hoffnung  auf  die  Zukunft  sich 
verleugnet;  und  in  meinem  Herzen  wird  die  Erinnerung  daran  leben, 
wie  freundlich,  teilnahmsvoll  und  hilfreich  er  gegen  die  Jugend  war. 
—  In  den  Salon  kam  er  nur  zu  den  berühmten  Cafes  seiner  Nichte, 
Ludmilla  Assing,  welche  dem  Onkel  das  Haus  führte,  und  bei  großen 
Empfängen." 

Goethe  und  Yarnhagen,  die  deutsche  Handschriftenliebhaberei 
der  Klassik  und  Romantik  vertretend,  waren  auf  diesem  ihrem 
Sammelgebiete  noch  im  Bereiche  der  persönlichen  Beziehungen  ge- 
blieben oder  doch  von  ihnen  ausgegangen.  Diese  mußten  zurück- 
treten, je  weiter  über  Raum  und  Zeit  sich  die  Autogrammkollektionen 
erstreckten,   deren  Einrichtung  nach  biographisch-chronologischen 

BOOEKO   82  497 


AUTOGRAMM  KOLLEKTIONEN 

Prinzipien  zu  einer  Einfügung  des  lebensgeschichtlichen  in  das  weit* 
politische  wurde;  zu  einer  historischen  Systematik.  Und  damit 
wiederum,  obschon  jetzt  die  kultur-  und  literarhistorischen  und  nicht 
die  politischen  Gesichtspunkte  vorwiegend  wurden,  die  die  archivali- 
schen  Formen  des  Sammeins  zurückbrachten;  die  es  äußerlich  von 
den  bibliothekarischen  trennten.  Was  trotzdem  Autograpophilie  und 
Bibliophilie  einte,  war  die  Gemeinsamkeit  ihres  Strebens,  erhaltens- 
wertes  zu  erhalten;  ihr  Empfinden  für  die  Werte  der  Pietät  und  Tra- 
dition. Das  Goethe  in  einem  Verschen  verteidigte,  mit  dem  er  die 
Rückgabe  eines  von  ihm  ausgebesserten  Handschreibens  Friedrichs 
des  Großen  begleitete: 

Das  Blatt,  wo  seine  Hand  geruht, 
Die  einst  der  Welt  geboten, 
Ist  herzustellen  fromm  und  gut. 
Preis  ihm,  dem  großen  Toten! 


498 


\ 


IX.  BIBLIOMANEN 

Bibliomanie  ist  die  Kehrseite  der  Bibliophilie.  In  den  allmäh- 
lichen Abstufungen  einer  Bibliofolie  wird  der  Bibliomane  aus 
dem  Bibliophilen.  Wer  will  entscheiden,  wo  der  gute  Buchfreund  auf- 
hört, sich  in  den  schlechten  verwandelnd.  Das  ist  eine  Frage  der 
Moral.  Und  wer  will  die  genauen  Grenzlinien  ziehen  zwischen  dem 
dummen  und  dem  klugen  Sammler;  zwischen  Wahnwitz  und  Weis- 
heit; zwischen  der  Büchertollheit  ungestümer  Sammler  und  der 
Bücherwut  krankhafter  Veranlagung;  zwischen  Leidenschaft  und 
Liebe.  Mit  einiger  Bestimmtheit  läßt  sich  nicht  einmal  das  Bücher- 
raubkapitel  umgrenzen,  wenn  die  Kriegsbeutezüge  und  Wiedergut- 
machungen ebenfalls  in  ihm  erörtert  werden  sollen. 

Die  „Büchlinge''  hat  man  sich  gewöhnt  als  Bibliophilen,  die  ihre 
Bücher  nur  nach  deren  inneren  Wert  schätzen,  und  als  Bibliomanen, 
die  mehr  die  glänzende  äußere  Hülle  wie  den  inneren  Gehalt  der 
Bücher  lieben,  zu  unterscheiden.  Das  mag,  vielleicht,  ein  Werturteil 
sein;  die  Grenzlinie  zwischen  Manie  und  Passion  läßt  es  nicht  auf- 
finden. Man  muß  schon  der  heiteren  Selbstironie  Charles  Nodiers 
zustimmen:  Der  Bibliophile  wählt  seine  Bycher  aus,  der  Biblio- 
mane häuft  sie  an.*  Der  Bibliophile  fügt  sorgsam  bedächtig  einen 
Band  zu  dem  anderen,  nachdem  er  ihn  mit  allen  Sinnen  und  ganzem 
Verstände  durchforscht  hat ;  der  Bibliomane  packt  Bände  auf  Bände, 
ohne  ihnen  auch  nur  einen  Blick  zu  gönnen.  Der  Bibliophile  wertet 
das  Buch,  der  Bibliomane  wägt  und  mißt  es.  —  Der  Bibliophile 
rechnet  nach  Millimetern  und  der  Bibliomane  nach  Metern  .  .  .  vom 
Erhabenen  zum  Lächerlichen  ist  nur  ein  Schritt.  —  Mancher  nach 
der  Art  seiner  Bücherliebhabereien  und  Sammlerseltsamkeiten  als 
Büchernarr  auszudeutender  Mann  ist  ein  erfolgreicher  Forscher  und 
geistreicher  Gelehrter  gewesen;  mancher  anscheinend  bedachte 
Buchfreund  ein  Büchernarr,  der  sich  spielerisch  vergnügte.  Da  wird 
es  schwer,  den  Bibliomanen-  und  den  Bibliophilencharakter  auszu- 
deuten; den  Buchgenießer  vom  Buchnutzer  zu  trennen;  den  Biblio- 
philen, als  den  Leser  von  dem  Biblioskopen,  der  seine  Bücher  nur 
durchsieht;  den  Bibliothekar  und  seine  Buchpflege  von  dem  bock- 
st* ^  Abb.  328  499 


BIBLIOMANEN 

hunter,  der  Sammelsport  treibt.  Das  alles  sind  fein  auf  den  Gegen- 
satz hin  ausgedachte  Unterscheidungen.  Mehr  nicht.  Denn  Biblio- 
manen  und  Bibliophilen  mußten  sehr  naive  Wesen  sein,  um  sich 
auf  so  einfache  Formeln  bringen  zu  lassen  und  sie  sind  das  in  Wirk- 
lichkeit ganz  und  gar  nicht. 

Das  Begehren  des  Besitzes  eines  bestimmten  Buches  kann  Bucher- 
liebe sein,  Begehren  eines  geschätzten  Stückes.  Aber  es  kann  auch 
der  ruhigsten  Überlegung  entspringen,  ganz  unpersönlich  wissen- 
schaftlich bleiben,  wofern  es  lediglich  zur  Lösung  eines  Sammlungs- 
zweckes wird.  Es  läßt  sich  nicht  einmal  sagen,  daß  da,  wo  das 
Bflchersammeln  ein  Selbstzweck  wurde,  die  Büchernarrheit  augen- 
scheinlich wird.  Es  sei  denn,  daß  man  überall,  wo  die  Sammlung 
nur  als  Vorstufe,  Ziel  einer  anderen,  höheren  Aufgabe  dient,  diese 
ihre  Selbstverständlichkeit  verkennen  will.  Das  Bücherverlangen 
ist  aber  gewiß  dann  eine  Ausartung  in  die  Bücherwut,  wenn  es  zu 
einem  Aufhäufen  ohne  Ordnung  und  Plan,  zu  einem  Aufraffen  ohne 
Sinn  und  Ziel  wird.  Aus  einer  derartigen  Sammelsucht,  aus  einer 
solchen  Entartung  des  Sammeltriebes  können  Bibliomanen  aus 
Bibliophilen  werden,  wofern  diese  Bibliomanen  überhaupt  jemals 
Bibliophilen  waren.  Für  sie  ist  das  meistgenannte  Beispiel  jener 
Antoine  Marie  Henri  Boulard  [1754—1825],  ein  Pariser,  der 
1782  seinem  Vater  im  Notariatsamte  gefolgt  war,  der  später  Maire 
und  1803  in  den  Corps  ligislatif  berufen  wurde,  ein  auch  sonst  durch 
Ehrenämter  ausgezeichneter  und  seines  Gemeinsinnes  wegen  ge- 
schätzter Mann,  dazu  ein  ausgezeichneter  Gelehrter,  ein  hervor- 
ragender Sprachkenner.  Aber  als  er  1808  sein  Amt  seinem  Sohn  über- 
ließ, verwandelte  er  sich  in  einen  Bibliomanen,  dessen  ausschließ- 
Uche  Beschäftigung  das  Bücherkaufen  wurde.  Der  Einfachheit  wegen 
kaufte  der  P6re  Boulard,  wie  ihn  die  dankbaren  Büchertrödler  nann- 
ten, die  Bändereihen  nach  dem  Maßstabe;  überall,  wohin  er  kam,  er- 
warb er  Bücher,  deren  unausgepackte  Ballen  schließlich  fünf  Häuser 
in  Paris  füllten.  Die  600000  bis  800000  Bände,  die  er  hinterließ, 
sind  teilweise  als  altes  Papier,  teilweise  durch  die  Boulardauktionen 
der  Jahre  1828  bis  1833  wieder  zerstreut  worden,  die  eine  empfind- 
liche Störung  des  Pariser  Altbüchermarktes  hervorriefen  und  deshalb 

500 


^ 


BIBLIOMANEN 

in  der  Geschichte  der  Bücherliebhaberei  unvergessen  blieben.  Aber 
Boulard  war  harmlos,  ehrlich  erwarb  er  seine  Bücher.  Wenn  wir 
von  der  Bibliomanie  reden,  verstehen  wir  lieber  darunter  jene  miß- 
geleiteten Äufierungen  aus  dem  Bereiche  der  Bibliophilie,  die  ihren 
ethischen  Vorzug,  die  der  Allgemeinheit  nützende  Buchpflege,  in 
sein  Gegenteil  kehrt.  Der  Biblioklast,  der  Bücher,  um  irgendeinem 
Sammlervergüngen  zu  fröhnen,  zerstört;  der  Bibliotaph,  der  seinen 
Bücherschatz,  der  ihm  selbst  nichts  nützt,  verheiinlicht,  sind  Buch- 
feinde aus  der  Gesinnung  des  Buchfreundes.  Fast  immer  jedoch 
fehlt  diese  Gesinnung  den  zumeist  angeführten  Bibliomanen,  den 
Bücherdieben. 

Angefangen  mit  den  Buchentleihern,  die  die  Bücher  unter- 
schlagen, weil  sie  das  Zurückgeben  vergessen  [„Es  ist  eigentümlich, 
dafi  die  Menschen  lieber  die  geliehenen  Bücher  behalten  als  ihren 
Inhalt,'^  vermerkte  K.  J.  Weber]  und  den  Buchentleihern,  die  ihre 
Sammlung  solcherart  systematisch  bereichern  [„Bücherstehlen  ist 
kein  Diebstahl,  sofern  man  sie  nur  nachher  nicht  weiter  verkauft,^ ^ 
verkündete  Tallemant  des  Reaux],  bis  zu  den  Bücherdieben  aus 
Bücherleidenschaft  und  den  Bücherdieben  aus  Gewinnsucht,  die 
das  erbeutete  so  rasch  und  gut  als  möglich  verkaufen,  ließen  sich 
lange  Unehrenlisten  aufstellen,  die  weit  in  das  Altertum  und  die 
Buchhandschriftenzeit  zurückreichen.  Früher  war  es  die  mangel- 
hafte Aufsicht  und  schlechte  Verwaltung  der  allgemeinerem  Ge- 
brauche geöffneten  Sammlungen,  die  das  Stehlen  erleichterten;  aber 
auch  heute  noch  sind  die  Gelegenheiten  mitunter  günstig  und  die 
hohen  Liebhaberwerte  reizen,  sie  auszunutzen.  Indessen  mit  der  Bi- 
bliomanie haben  heute  und  hatten  in  vergangenen  Zeiten  alle  diese 
mehr  oder  minder  bekannt  gewordenen  Raubzüge  nichts  zu  tun.  Sie 
unterscheiden  sich  nicht  wesentlich  von  ähnlichen  Delikten,  nur  daß 
Bücher  ihre  Gegenstände  sind.  Wie  ja  auch  die  Betrüger  und  Fäl- 
scher, die  ihre  Buchware  an  den  Dummen  zu  bringen  wissen,  nicht 
als  Bibliomanen  angesehen  zu  werden  pflegen.  In  der  Art  der 
Bücherdiebstähle  hat  sich  manches  in  den  Jahrhunderten  geändert. 
Die  flacianischen  Messer,  so  genannt  nach  dem  1575  in  Frankfurt  a.  M. 
gestorbenen   lutherischen    Polemiker   Matthias    Flacius,    versuchen 

501 


BIBLIOMANEN 

nicht  mehr,  aus  den  Initialen  kostbarer  Kodizes  den  Gewinn  des 
Goldes  zu  ziehen.  Immerhin  auch  früher  ist  oft  die  Ehr-  und  nicht 
die  Habsucht  die  Veranlassung  der  Übeltaten  gewesen,  die  in  den 
gelehrten  Streitschriften  mit  Recht  oder  Unrecht  zu  einem  Vorwurf 
erhoben  wurden.  Der  eine  fälschte  oder  unterschlug  oder  verschaffte 
sich  sonst  auf  unredliche  Weise  Urkunden,  um  damit  geldwerte  Vor- 
teile zu  gewinnen;  der  andere,  um  literarischen  Ehrgeiz  sich  zu  er- 
füllen; der  dritte,  selbstlos  für  sich,  um  einem  politischen  oder  sonsti- 
gen Ideal  Anerkennung  zu  verschaffen,  Bild  und  Schrift  als  Dienerin 
des  Vertrauens  und  der  Wahrheit  mißbrauchend. 

Etwas  anderes  ist  es  schon,  wenn  die  Bibliophilenmaske  der- 
gleichen Untaten  verhüllt,  wenn  Buchgelehrsamkeit  und  Bücher- 
liebhaberei dem  Pseudobibliophilen  zum  Schutz  und  Vorwand  dienen 
sollen,  wenn  die  Büchersammlung  ihm  zur  Raubritterburg  wird. 
Da  tauchen  dann  in  der  Geschichte  des  Büchersammelwesens  die 
abenteuernden  Buchfreunde  auf;  die  seltsamen  Bibliophiliespeku- 
lanten  in  ihren  sonderbarsten  Verkleidungen. 

Für  die  Unternehmungen  des  Gaunertums  in  der  Gelehrsamkeit 
gaben  von  jeher  Büchereien  den  selbstverständlichen  Rahmen.  Sei 
es,  daß  man  bei  der  Ergänzung  seines  literarischen  Apparates  mit 
Hilfe  eines  ausgedehnten  Briefwechsels  sich  wertvolles  Material 
zu  verschaffen  wußte,  um  dann  den  Empfang  abzuleugnen  und  es 
unter  seinem  Namen  zu  veröffentlichen,  sei  es,  daß  man  in  den  zum 
Verkauf  gestellten  Büchereien  sorgfältig  den  literarischen  Nachlaß 
des  Vorbesitzers  zu  gleichem  Zwecke  durchsah  und  an  sich  brachte. 
Das  alles  fällt  mit  den  in  früheren  Jahrhunderten  unsicheren  ur- 
heberrechtlichen Verhältnissen  zusammen.  Daneben  gab  es  dann 
die  Gruppe  der  literarischen  Fälscher,  die  bald  eigene  Werke  unter 
fremden  Namen  herausgaben,  bald  sich  damit  begnügten,  Bücher- 
zitate anzubringen,  die  sich  auf  nicht  vorhandene  Werke  bezogen. 
In  allen  solchen  Schlichen  wohlbewandert  waren  die  reisenden 
gelehrten  Gauner,  die  bisweilen  weltberüchtigt  wurden.  Sie  be- 
trieben als  Nebengewerbe  den  Diebstahl  wertvoller  Bücher,  mit  denen 
sie  einen  weitreichenden  Handel  hatten,  den  mancher  Bücher- 
sammler gern  duldete,  und  die  sogar,  von  ihrer  Gelehrsamkeit  unter- 

502 


BIBIi  10  MANEN 

stützt,  ausgedehnte  planvolle  Raubzüge  in  den  ihnen  geöffneten 
Büchereien  unternahmen,  um  ihnen  zuteil  gewordene  literarische 
Kommissionen  zu  erledigen.  Gegen  diese  Art  von  Bibliophilie  war 
die  Bibliotaphie  das  wirksamste  Schutzmittel,  das  sich  entschuldigen 
ließ  als  die  einzige  Waffe,  die  gegen  die  Buchfeinde  wirkte. 

Daß  in  der  großen  Zeit  des  Abenteurertums,  das  mit  der  Gesell- 
schaft des  achtzehnten  Jahrhunderts  unterging,  um  im  modernen 
Glücksritter-  und  Hochstaplertum  eine  weniger  glanzvolle  Fort- 
setzung zu  finden,  gelegentlich  auch  bibliophile  Requisiten  in  den 
kraft  genialischen  Tragikomödien  Verwendung  fanden,  dafür  gibt  es 
mannigfache  Beispiele,  z.  B.  in  Casanovas  Lebenserinnerungen,  von 
denen  eins  hier  seinen  Platz  finden  mag.  Der  1810  gestorbene  Che- 
valier d'Eon  —  durch  den  Willen  des  Königs  chevalifere  —  war 
1791  in  London,  ohne  Amt  und  Mittel,  zu  dem  heroischen  Entschluß 
gelangt,  seiner  Bücherei,  die  er  sich  zur  Erholung  von  den  viel- 
fachen Aufregungen,  die  ihm  seine  Wechselrolle  als  Mann  und  Weib 
verursachte,  gesammelt  hatte,  zu  entsagen.  Er  beauftragte  deshalb 
seinen  Freund  Christie  mit  ihrem  Verkauf,  der  mit  ihm  dies  Ver- 
zeichnis der  zur  Versteigerung  kommenden  Schätze  herausgab: 
Katalog  der  seltenen  Bücher  und  kostbaren  Handschriften  der 
Chevalifere  d'Eon,  ehemals  bevollmächtigter  französischer  Gesandter 
in  England  .  .  .,  der  England  verläßt,  um  nach  Frankreich  zurück- 
zukehren, enthaltend  eine  große  Anzahl  alter  sowie  neuer  Hand- 
schriften, eine  wertvolle  Sammlung  von  Wörterbüchern  und  von 
französischen,  griechischen,  lateinischen,  englischen  Druckwerken, 
auch  von  orientalischen  Schriften,  die  sie  selbst  auf  ihren  Reisen  ge- 
sammelt hat.  öffentlicher  Verkauf  ...  zu  gleicher  Zeit  ihrer  Bücherei- 
möbel in  Acajouholz,  ihrer  Griffelkunstblätter,  ihrer  Degen,  ihres 
Mobiliars,  ihrer  Kunstobjekte,  Edelsteine,  wie  überhaupt  ihrer 
ganzen  Garderobe  als  Dragonerkapitän  und  französische  Modedame. 
NB.  Herr  Christie  macht  bekannt,  daß  der  Name  der  Chevaliere 
d'Eon  mit  eigener  Hand  auf  der  ersten  Seite  eines  jeden  ihrer  Bücher 
eingetragen  ist,  und  daß  die  Vorrede  des  Kataloges  eine  interessante 
Schilderung  der  sehr  eigenartigen  Position  der  MUe.  d'Eon  enthält... 
Dieses  verlockende,  für  einen  Schilling  verkaufte  Verzeichnis  hatte 

503 


BIBLIOMANEN 

den  gewünschten  Erfolg:  die  Bücherei  wurde  nicht  verkauft,  aber 
eine  bei  dem  Bankier  Hammersley  eingeleitete  öffentliche  Samm^ 
lung  brachte  dem  Chevalier  465  Pfund  Sterling  ein,  der  sich  beeilte, 
den  größten  Teil  der  Summe  der  Bibliophilie  dankend  zu  opfern: 
1792  kaufte  er  die  von  Mead  und  Douglas  zusammengebrachte 
Kollektion  von  500  Ausgaben  des  Horaz,  deren  Verzeichnis  er  redi- 
giert hatte,  bei  Christie  für  100  Pfund.  Indessen  zwang  den  Chevalier 
seine  mißliche  Lage,  einen  Teil  seiner  Bücherei  am  24.  Mai  1793 
wirklich  durch  Christie  versteigern  zu  lassen,  während  der  Rest  mit 
den  500  Ausgaben  des  Horaz  erst  am  19.  Februar  1813  unter  den 
Hammer  kam  und  313  Pfund  löste.  Die  Bücherliebhaberei  des 
Chevalier  war  echt;  er  gehörte  mehr  zu  jenen  Buchfreunden,  deren 
Büchersammlungen  in  ihren  merkwürdigen  Lebensschicksalen  derent- 
wegen auch  merkwürdig  wurden,  als  daß  sie  schon  an  und  für  sich 
dazu  angelegt  gewesen  sind,  als  Hebel  einer  abenteuerlichen  Lebens- 
gestaltung zu  wirken. 

Der  abenteuernde  Büchersammler  hat  ein  Mittel  für  seine 
Zwecke  in  der  Büchersammlung  selbst  gefunden,  die  er  für  die  Aus- 
führung seiner  Plane  sich  einrichtete.  Achtung,  Angst,  Bewunderung 
nötigte  schon  vordem  die  große  Büchersammlung  Ungebildeten  und 
Ungelehrten  ab.  Im  achtzehnten  Jahrhundert  hatte  sie  ihren  Platz 
in  dem  Zauberapparat,  den  die  Cagliostro  und  Saint-Germain  und 
alle  die  andern  brauchten,  um  als  Geheimordenmeister  und  Magier 
sich  zu  zeigen.  Da  wurde  der  Eintritt  in  den  geheiligten  Raum  für 
den  Eingeweihten  eine  Gunst.  Immerhin,  diese  Bibliothekdekoration 
blieb  auch  weiterhin  ein  Mitel  zum  Zweck,  sie  konnte  im  Zimmer 
eines  Arztes  oder  eines  Notars  stehen,  um  einen  Beweis  der  Gelehr- 
samkeit ihres  Besitzers  zu  geben.  Deshalb  war  denn  doch  ein  griechi- 
scher Schwindler,  Herr  DemeterRhodocanakis  [1840— 1902]  in  der 
Benutzung  der  Bibliophilen-Maske  sehr  viel  geschickter.  Sie  deckte 
seinen  Fürstentitel.  In  dem  Viertelhunder  seiner  Pracht-  und  Privat- 
drucke, die  er  zur  Grundlegung  seiner  FamiUengeschichte  heraus- 
gab und  in  denen  er  nirgends  vorhandene  Werke  zitierte,  gab  er 
sich  das  Ansehen  eines  emsigen  Bücherforschers,  der  in  alten  Drucken 
und  Handschriften  seiner  historischen  Studien  wegen  herumstöberte. 

504 


BIBLIOMANEN 

Auf  den  Prachtbänden  seiner  Bibliothek,  über  die  er  zu  verbreiten 
verstand,  daß  sie  Zehntausende  Bände  berge,  obschon  ihre  Londoner 
Versteigerung  nur  1877  Lose  aufzählte,  erglänzte  das  kaiserliche 
Wappen.  Und  er  wußte  die  Bücher,  die  er  sich  zusammenholte,  klug 
auszuwählen;  nach  dem  geschichtlichen  Wert,  den  sie  für  ihn  hatten, 
alte  echte  Provenienzexemplare  an  eine  solche  Stelle  zu  rücken,  an 
der  sie  seines  Namens  Ruhm  zu  preisen  schienen.  Ein  Bibliophilen- 
zug  ist  in  dem  Bildnisse  des  nicht  gerade  verehrungswürdigen  Mannes 
trotzdem  unverkennbar  und  einen  Bibliophilenzug  weist  auch  das 
Porträt  des  berühmtesten  aller  Bücherdiebe  auf,  von  dem  man  nicht 
sagen  kann,  ob  ihn  die  Bücherliebhaberei  zu  seinen  Untaten  ver- 
führte oder  ob  er  ihren  Deckmantel  lediglich  umlegte,  um  unter 
ihm  seine  ,Geschäfte'  zu  verhüllen;  ob  er  die  Gelegenheit  gesucht 
hat,  in  einer  ersten  Bibliothekarstelle  Bücher  zu  stehlen  oder  ob 
ihn  diese  Gelegenheit  erst  verführte.  Jedenfalls,  er  war,  soweit 
die  Begeisterung  für  das  Buch,  die  Geschicklichkeiten  und  Kennt- 
nisse des  Sammlers  etwas  gelten,  ein  Büchersammler  hohen  Ranges 
und  wenn  er  die  Büchersammlung,  die  er  sich  schuf,  nicht  zu  Geld 
gemacht  hätte,  müßte  er  als  Bücherdieb  aus  Bücherleidenschaft 
gelten.  Guglielmo  Bruto  Icilio  Timoleone,  conte  Libri 
Carrucci  della  Sommaia,  der,  einem  alten  Adelsgeschlechte  ent- 
stammend, 1803  zu  Florenz  geboren  war,  wurde  schon  mit  siebzehn 
Jahren  Lizentiat  der  Rechte  und  Doktor  der  Naturwissenschaften, 
mit  zwanzig  Jahren  Professor  der  Mathematik  in  Pisa,  nachdem  eine 
Anzahl  frühreifer  wissenschatflicher  Abhandlungen  ihm  rasch  einen 
angesehenen  Namen  unter  den  Gelehrten  seiner  Heimat  gesichert 
hatten.  Aus  politischen  Gründen  diese  verlassend  und  nach  Paris 
übersiedelnd,  war  er  hier  seit  1832  Professor  der  Mathematik  am 
College  de  France,  wurde  Mitglied  des  Instituts,  Ritter  der  Ehren- 
legion, Herausgeber  des  Journal  des  Savants,  Inspektor  des  öffent- 
lichen Unterrichtswesens.  Bei  den  Altbuch-  und  Handschriften- 
händlern, auf  den  Versteigerungen  war  er  einer  der  angesehensten, 
bestzahlendsten  Käufer.  Gelegentlich  der  Studien  zu  seinem  wissen- 
schaftlichen Hauptwerke,  der  Geschichte  der  mathematischen  Wissen- 
schaften in  Italien,  ein  ausgezeichneter  Bibliotheken-,  Bücher-  und 

505 


BIBLIOMANEN 

Handschriftenkenner  geworden,  verdankte  er  seine  1841  erfolgte 
Berufung  zum  Schriftführer  der  amtlichen  Kommission  für  die  In- 
ventarisierung der  in  den  öffentlichen  Bibliotheken  Frankreichs  vor- 
handenen Handschriften  seinen  unverkennbaren  bibliographischen 
Verdiensten.  Diese  amtliche  Stellung  machte  es  nun  Libri  möglich^ 
alle  von  ihm  gewünschten  Handschriften  und  Druckwerke  in  seinen 
Besitz  zu  bringen,  ohne  daß  hinsichtlich  der  Rückgabe  eine  be- 
sondere Kontrolle  ausgeübt  werden  konnte.  Dazu  kamen  die  da- 
maligen verwirrten  politischen  Verhältnisse,  denen  es  Libri  ver- 
dankte, daß  die  sich  mehr  und  mehr  gegen  ihn  anhäufenden  An- 
schuldigungen der  Bibliotheksbeamten  und  anderer  keinen  Erfolg 
hatten.  So  läßt  sich  heute  schwer  feststellen,  wann  Libri  seine 
systematischen  Bücherdiebstähle  in  den  Pariser  und  vor  allem  in  den 
französischen  Provinzbibliotheken  anfing  und  wieviel  kostbare 
Handschriften  und  Druckwerke  er  einzeln  oder  in  kleinen  Sammlun- 
gen unter  der  Hand  verkauft  hat.  Die  Sicherheit,  mit  der  Libri  bis 
dahin  die  Rolle  eines  besonders  erfolgreichen  Sammlers  gespielt 
hatte,  verführte  ihn  dazu,  ein  größeres  Geschäft  zu  wagen;  der  an- 
geblich Sammelmüde  verhandelte  1847  über  den  Verkauf  seiner 
großen  Handschriftensammlung  mit  dem  British  Museum  in  London 
und  der  Bibliothek  in  Turin,  bis  sie  schließlich  Lord  Asburnham  er- 
warb. Im  gleichen  Jahre  ließ  Libri  auch  in  Paris  Teile  seiner  Bücher- 
sammlung versteigern.  Da  in  vielen  der  verkauften  Bände  aber  die 
Stempel  der  französischen  öffentlichen  Bibliotheken  nur  nachlässig 
entfernt  waren,  konnten  auch  die  französischen  Behörden  nicht  mehr 
an  den  Ergebnissen  der  amtlichen  Tätigkeit  Libris  zweifeln.  Am 
4.  Februar  1848  wurde  gegen  den  nach  England  Geflüchteten  die 
Anklage  erhoben.  Von  London  aus,  wohin  Libri  einen  großen  Teil 
seines  Bücherschatzes  mitgenommen  hatte,  begann  er  nun  jene 
Polemik,  die  die  Affäre  Libri  verwirrte  und  viele  seiner  alten  Freunde 
weiter  an  ihn  glauben  ließ.  Er  konnte  ja  beweisen,  daß  er  viele 
Bücher  gekauft  habe  und  unter  diesen  auch  solche,  die  aus  öffent- 
lichen Bibliotheken  während  der  Revolutions jähre  in  den  Handel 
gekommen  waren.  Aber  er  hatte  bei  seiner  eiligen  Flucht  große  Teile 
der  ihm  zur  Prüfung  abgeforderten  Bestände  in  Paris  zurücklassen 

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BIBLIOMANEN 

müssen  und  einen  Teil  dieser  Handschriften  und  Drucke  bereits  in 
seiner  Werkstatt,  in  der  ein  italienischer  Buchbinder  die  alten  fran- 
zösischen Bände  zu  alten  italienischen  umarbeiten  und  ein  Hand- 
schriftenfälscher, Folk,  mißleitende  Ursprungsvermerke  anbringen 
mußte,  verarbeitet  und  für  den  Verkauf  fertig  gemacht.  Freilich 
ließ  sich,  da  ein  Teil  der  Bibliotheken  des  Katalogsmangels  wegen 
gar  nicht  nachweisen  konnte,  was  zu  ihrem  Besitze  gehörte,  schwer 
feststellen,  wie  umfangreich  Libris  Diebstähle  gewesen  waren.  Das 
Seinegericht  verurteilte  ihn  1850  in  contumaciam  zu  zehn  Jahren 
Zwangsarbeit.  Selbstverständlich  verlor  Libri  mit  diesem  Urteile 
auch  alle  seine  amtlichen  Stellungen  und  Würden.  Indessen  nahm 
der  inzwischen  in  England  naturalisierte  Libri  das  Urteil  nicht  ruhig 
hin;  erst  1861  lehnte  das  Gericht  das  von  Libri  beantragte  Wieder- 
aufnahmeverfahren endgültig  ab  und  erledigte  damit  einen  Fall, 
der  über  ein  Jahrzehnt  heiß  umstritten  gewesen  war.  Libri  ging  in 
seine  Heimat  zurück,  er  starb  1869  in  Fiesole.  Während  seines 
Aufenthaltes  in  London  [1850—68]  ließ  er  noch  16  oder  17  anonyme 
Auktionen  [durch  Puttick  &  Simpson]  und  einige  größere  be- 
nannte [duroh  Sotheby]  veranstalten;  Wagenladungen  von  Büchern, 
,, Libri  Carrucci",  auf  den  Markt  bringend,  deren  Provenienz  ein  ge- 
heimnisvolles Dunkel  umgab.  Viele  Werke  aus  diesen  berühmten 
Libriauktionen  haben  später  ihre  Besitzer  zu  hohen  Preisen  ge- 
wechselt, obwohl  Libri  im  Interesse  des  Geschäftes  vielfach  die  Ver- 
fälschung von  Büchern  zu  einer  Spezialität  ausgebildet,  zahlreiche 
^,unbekannte  Ausgaben"  aus  mehreren  Ausgaben  eines  Werkes  zu- 
sammengestellt und  sogar  manche  neue  Provenienz  geschaffen  hatte. 
Neben  der  Gestalt  Libris,  die  zur  Inkarnation  des  Diebes  und  Fäl- 
schers wurde,  den  die  Bücherliebhaberei  führte  oder  verführte,  er- 
scheinen die  beiden  Mörder  und  Räuber  aus  Bücherwut,  die  seine 
Zeitgenossen  waren,  armselig;  obschon  man  den  deutschen  Pfarrer 
Tinius  und  den  spanischen  Mönch  Don  Vincente  als  die  Biblio- 
manenungeheuer  anzusehen  sich  gewöhnt  hat. 

Johann  Georg  Tinius,  1764  im  Flecken  Stanko  in  der  Nieder- 
lausitz auf  einer  preußischen  Domäne  als  der  Sohn  eines  armen 
Schäfers  geboren,  aber  dank  seiner  ungewöhnlichen  Begabung  von 

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BIBLIOMANEN 

vielen  gefördert,  besuchte  wie  es  seine  Autobiographie  schildert,  die  Uni- 
versität Wittenberg  und  wurde  1798  Pfarrer  zu  Heinrichs  in  Thüringen, 
1809  in  Poserna  bei  Weißenfels.  Über  den  menschenscheuen  Mann,  der 
zweimal  verheiratet  war,  vier  Kinder  hatte  und  ein  musterhaftes 
Familienleben  führte,  waren  bis  zum  4.  März  1813  nur  günstige  Ur- 
teile zu  hören  gewesen:  als  er  an  diesem  Tage  mit  Genehmigung  des 
Konsistoriums  verhaftet  wurde,  war  er  durch  einen  Magister  St. 
in  B.  schon  am  17.  Februar  1813  von  den  gegen  ihn  erhobenen  An- 
schuldigungen und  den  Maßnahmen  der  Gerichtsbehörden  in  Kennt- 
nis gesetzt  worden,  ohne  daß  er  die  Beweisstücke,  die  ihn  später 
eines  Raubmordes  und  Raubmordversuches  überführten,  beseitigt 
hätte.  Am  28.  Januar  1812  um  10  Uhr  vormittags  war  ein  wohl- 
habender Leipziger  Kaufmann  Schmidt,  der  in  der  Grimmaischen 
Gasse  wohnte,  von  einem  Fremden,  der  den  alten  Herrn  zu  einer  ge- 
schätflichen  Unterredung  aufgesucht  hatte,  durch  eine  ihm  an- 
gebotene Prise  betäubt  und  dann  so  schwer  am  Kopfe  verletzt 
worden,  daß  er  am  6.  April  starb.  Der  Mörder  hatte  3000  Taler  in 
Obligationen  erbeutet,  die  er  noch  am  selben  Vormittage  in  einem 
Bankgeschäfte  umwechselte,  wobei  er  ruhig  über  eine  halbe  Stunde 
im  Kontor  blieb;  ja  sogar  noch  einmal  zurückkehrte,  um  sich  über 
den  Verkauf  eine  Quittung  ausstellen  zu  lassen.  Die  Nachforschungen 
nach  dem  Verbrecher  blieben  damals  vergeblich.  Am  8.  Februar 
1813  wurde  Leipzig  wieder  durch  die  Kunde  eines  gleichen  Ver- 
brechens erschreckt:  die  Witwe  Kunhardt  war  bei  Überreichung 
eines  Bittbriefes  überfallen  worden,  sie  erlag  schon  am  10.  Februar 
ihren  schweren  Verletzungen,  die  denen  Schmidts  glichen.  Die  Ab- 
sicht der  Raubes  hatte  diesmal  Tinius  nicht  verwirklichen  können: 
er  war  während  der  Tat  gestört  worden  und  hatte  flüchtend  auf  der 
Treppe  die  Magd  seines  Opfers,  die  er  von  früher  kannte,  ange- 
sprochen. Die  Untersuchung  führte  im  März  1814  zur  Eröffnung  des 
Kriminalprozesses,  aber  erst  1823  kam  es  zur  entscheidenden  Verur- 
teilung, da  viele  formale  Schwierigkeiten  —  Poserna  war  damals 
gerade  preußisch  geworden,  und  Verdunkelungs versuche  durch 
Tinius,  der  Zeugen  brieflich  zum  Meineide  verleiten  wollte,  und 
immer  neue  gegen  ihn  erhobene  Beschuldigungen  —  wie  diese,  daß 

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I 


BIBLIOMANEN 

er   verschiedene    Male    in    Postkutschen  ähnliche  Überfälle    durch 
Anbieten   seines   betäubenden    Schnupftabaks   eingeleitet    habe    — 
die    Untersuchung   erschwerten.    Auf   die  Beziehung  des   Pfarrers 
von  Poserna  zum  Morde  des  Kaufmanns  Schmidt  war  das  Gericht 
erst  durch  Briefe  des  Mörders  aufmerksam  geworden;  daneben  hatte 
sich  ergeben,  daß  er  auch  Kirchengelder  unterschlagen  hatte.    Das 
endgültige  Urteil   lautete   auf  zwölf  Jahre  Zuchthaus,   eine  milde 
Erkenntnis,  die  wohl  lediglich  durch  das  stete  Leugnen  des  Tinius 
und  manche  Lucken  im  Indizienbeweis  veranlaßt  war«   Schon  am 
31.  März  1814  war  Tinius  öffentlich  in  der  Nikolaikirche  zu  Leipzig 
durch   den    Superintendenten    Rosenmüller   feierlich    seines   Amtes 
entkleidet   worden.     Die   Rede  bei   der  Amtsentsetzung  erwähnte 
ausdrücklich,    daß   Tinius    durch  seine  Büchersucht  zu   Ausgaben 
veranlaßt    worden  wäre,    die   seine  Einnahmen   bei   weitem  über- 
stiegen hätten.   [Die  Bücherei  des  Verbrechers,  rund  17000  Bände, 
kam  am    5.  November  1821  in   Leipzig  zur  gerichtlichen  Verstei- 
gerung.]   Tinius  selbst  hat  seine  Verbrechen  niemals  eingestanden, 
ruhig  und  ohne  Reue  hat  er  seine  Strafe  verbüßt,  in  seinen  Muße- 
stunden eine  Untersuchung  über  die  Offenbarung  Johannis  schrei- 
bend.   [Seine  stupende  Gelehrsamkeit,  die  vielfach  bezeugt   wird, 
gab  Anlaß   zu   der  Legende,   daß   er  im   Gefängnis   aus   dem   Ge- 
dächtnis   ein    hebräisches    Lexikon  verfaßt    hätte.]     Als    er    1835, 
als  angehender  Siebziger,  die  Freiheit  wieder  erlangte,  sah  er  sich 
von  allen   gemieden.    Seine  Familie  hatte  sich  von  ihm  losgesagt, 
seine  frühere  Gemeinde  setzte  zu  seinem  Lebensunterhalt  nur  25 
Taler  jährlich  aus.    So  fristete  er   bis  zu  seinem  Tode  ein  ruhe- 
loses Wanderleben,  1846  starb  er  in  dem  Kirchdorfe  Graebensdorf 
bei  Königswusterhausen,    wo  er  seit  1840  lebte.    Oft  und  viel  be- 
dauerte er  den  Verlust  seiner  Bücherei,  wie  er  auch  unbefangen  von 
seinem  Prozesse  redete.   Jedenfalls  sind  manche  Widersprüche  dieses 
Prozesses  noch  nicht  gelöst,  die  vielleicht  mehr  Klarheit  über  den 
Charakter  des  Mannes  geben  könnten,  der  nicht  als  BibUophile  son- 
dern als  Märtyrer  sich  verteidigte;  wie  er  denn  in  einem  Briefe  aus 
Zeitz   vom   2.  Januar  1841    schrieb:    „Welche  Wege    der  Prüfung 
ich  gemacht  habe,  wird  die  in  diesem  Jahre  noch  erscheinende  Ge- 

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BIBLIOMANEN 

schichte  meines  Krimialprozesses  offenbaren.  Seit  sechs  Jahren  lebe 
ich  hier  in  Zeitz  kümmerlich  von  der  Schriftstellerei,  wobei  die 
Buchhändler  die  Körner  und  ich  die  Spreu  bekomme;  denn  die  mir 
im  hiesigen  Landarmenhause  angewiesene  Versorgung  kann  ich, 
ohne  bald  jenseits  versorgt  zu  werden,  nicht  annehmen/'  Eine  Brief- 
stelle, die  insofern  interessiert,  als  sie  auch  auf  die  noch  nicht  hin- 
reichend bekannte  spätere  schriftstellerische  Tätigkeit  des  Tinius 
verweist,  den  einen  Bibliomanen  zu  nennen  in  jedem  Falle  seiner 
Schuld  oder  Unschuld  kein  Anlaß  vorliegt.  Denn  er  beging  seine 
Verbrechen  nicht  der  Bücher,  sondern  des  Geldes  wegen,  um  sich 
aus  seinen  Zahlungsschwierigkeiten  zu  befreien. 

Der  Bibliomane,  der  der  Bücher  wegen  mordete,  war  ein  Wahn- 
sinniger, ihn  mag  man  als  das  Schreckbild  der  Bücherwut  zeichnen: 
Don  Vincente,  Padre  im  Kloster  Pöblet  bei  Tarragona.  Als  die 
reiche  Klosterbücherei,  das  Geschenk  eines  der  letzten  Könige  von 
Aragonien,  während  der  Regentschaft  der  Königin  Christine  von 
Bourbon  geplündert  wurde,  hatte  Don  Vincente  die  Gelegenheit  be- 
nutzt, für  sich  zahlreiche  Bücher  zu  gewinnen,  indem  er  den  Plün- 
dernden andere  Schätze  verriet,  die  mehr  nach  ihrem  Sinne  waren. 
Mit  seinem  Raube  wurde  er  Buchhändler  in  Barcelona,  freilich  ein 
Antiquar  eigener  Art.  Niemals  Bücher  lesend,  fand  sein  bibUo- 
manischer  Geist  den  Inhalt  seines  Lebens  darin,  auf  der  Außen- 
seite der  Bände  umherzuirren.  Während  er  geringe  Ausgaben  ver- 
kaufte, um  kümmerlich  sein  Leben  zu  fristen,  trennte  er  sich  niemals 
von  seinen  Bücherkostbarkeiten.  Ein  paarmal  zwang  ihn  die  Not 
dazu.  Um  wieder  in  den  Besitz  des  notgedrungen  verkauften  Exem- 
plars zu  gelangen,  schreckte  er  vor  keinem  Gewaltmittel  zurück; 
auch  einige  Morde  aus  diesem  Motive  gestand  er  in  der  Gerichts- 
verhandlung ein,  die  ihn  wegen  seiner  letzten  Schreckenstat  unschäd- 
lich machte.  Man  hatte  um  die  Mitte  des  Jahres  1836  die  hinter- 
lassene  Büchersammlung  eines  Advokaten  versteigert,  die  auch  den 
als  Unikum  angesehenen  Druck  des  Lamberto  Palmart :  Fürs  e  ordina- 
cions  fetes  par  los  glorioses  reys  de  Aragon  als  regnicols  del  regne  de 
Valencia.  Valencia :  1482,  enthielt.  Und  dieses  Buch  hatte,  Don  Vin- 
cente, dessen  Mittel  nicht  ausreichten,  überbietend,  ein  alter  Buch- 

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BIBLIOM ANEN 

händler  und  Straßengenosse  des   Bibliomanen,   Augustino  Patxot, 
ersteigert.    Nach  dem  für  ihn  katastrophalen  Ereignisse  zeigte  Don 
Vincente  bereits  im  Auktionslokale  Symptome  des  Wahnsinns,  die 
aber  damals  wohl  kaum  beachtet  wurden.    Erst  nach  einer  Woche, 
in    der    neun    angesehene    Männer    ermordet,    aber    nicht    beraubt 
worden  waren,  die,  wie  man  später  feststellte,  in  dieser  Woche  den 
Laden  Patxots  aufgesucht  hatten,  und  nachdem  Patxot  selbst  schon 
vorher  bei  einem  nächtlichen  Brande  seines  Hauses  umgekommen 
war,  erinnerte  man  sich  wieder  an  Don  Vincente.  Eine  Haussuchung 
bei  ihm,  in  der  er  mit  großem  Stolz  dem  Corregidor  die  Ordnung 
seiner  Bibliothek  erläuterte,  ließ  den  Untersuchungsrichter  durch 
einen  Zufall  das  listig  versteckte,  unglückselige  Buch  entdecken,  das 
die  Ursache  des  Todes  von*  zehn  Menschen  geworden  war.     Don 
Vincente  wurde  verhaftet  und  gestand,  nachdem  eine  genauere  Unter- 
suchung seiner  Bibliothek   Beweise  für  seine  früheren   Mordtaten 
'geliefert   hatte;   aber   erst,   nachdem   er  die   formelle   Versicherung 
erhalten  hatte,  daß  seine  Bibliothek  nicht  zerstreut  werden  würde. 
Er  erklärte,  daß  er  in  der  guten  Absicht  gehandelt  habe,  unersetz- 
liche Schätze  der  Wissenschaft  zu  erhalten  und  wiederholte  mehr- 
mals, daß  man  mit  ihm  machen  möge,  was  man  wolle;  nur  dürfe 
man   nicht   die   Wut   über   seine   Missetaten   an   den  unschuldigen 
Büchern  auslassen.  Auch  hob  er  hervor,  daß  er  seinen  Opfern,  soweit 
es  noch  möglich  war,  die  Absolution  erteilt  hätte,  bevor  er  ihnen  die 
Beute,  das  von  ihm  verkaufte  wertvolle  Buch,  entriß.   Die  Menschen 
müssen  alle  früher  oder  später  sterben,  meinte  er,  das  sei  gleich,  aber 
die  guten  Bücher  müsse  man  erhalten,  denn  sie  seien  der  Ruhm 
Gottes.     Der  Verteidiger  Don  Vincentes  suchte  ihn  mit  dem  Ein- 
wände  zu   retten,    daß   man   einen   augenscheinlich   Wahnsinnigen 
nicht  zum  Tode  verurteilen  dürfe,  da  die  Indizien  nicht  ausreichend 
seien;  es  gäbe  von  allen  vorgefundenen  Büchern  mehrere  Exemplare, 
auch  von  dem  angeblichen  Unicum  befände  sich  ein  zweites  Exem- 
plar in  einer  großen  Pariser  Bibliothek,  wie  einer  der  Zeugen  nach- 
weisen könnte.    Als  diese  bibliographische   Feststellung  unzweifel- 
haft geworden  war,  packte  Don  Vincente  die  Verzweiflung,  der  bis 
dahin  Ruhige  beklagte  bis  zu  seiner   Hinrichtung,   er  wurde  noch 

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BIBLIOMANEN 

1836  garottiert,  laut  sein  Unglück,  indem  er  wieder  und  wieder  die 
Worte  wiederholte:  Mein  Exemplar  ist  kein  Unicum,  mein  Exem- 
plar ist  kein  Unicum. 

Mit  dem  Bekenntnis  der  Bibliophilie,  die  guten  Bficher  müßten 
erhalten  werden,  hat  sich  der  unglückselige  Bibliomane  loben,  nicht 
verteidigen  wollen.  Da  tritt  dann  die  Grenzlinie  zwischen  der  Biblio- 
philie  und  der  Bibliomanie  am  deutlichsten  hervor,  die  sich  auf  das 
einfachste  erkennen  läfit,  wenn  die  Meinung  recht  hat,  der  Biblio- 
phile sei  der  Herr,  der  Bibliomane  der  Knecht  seiner  Bücher.  Sie 
läßt  die  Buchfreunde  und  Büchersammler  nach  Verdienst  und 
Würden  messen. 


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INHALT 

I.  Abendländische  Buchhandschriftenzeit       1 
II.  Italien    39 

III.  Frankreich     87 

IV.  Spanien,  Belgien,  Holland    199 

V.  Deutschland 221 

VI.  Slavien  und  Skandinavien     364 

VII.  England     379 

VIII.  Autogrammkollektionen     478 

IX.  Bibliomanen 499 


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MAY    1  -   1941